
Wenn der Ehrgeiz zu gross ist
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Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
18.05.2017
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<p class="article-intro">Es gibt inzwischen einige Evidenz, dass Yoga positive präventive und therapeutische Wirkungen hat. Doch immer mehr Yogabegeisterte ziehen sich bei den Übungen Zerrungen oder Frakturen zu. Vor allem ältere Menschen sind betroffen, wenn sie ihre körperlichen Fähigkeiten überschätzen. Sportmediziner raten zu individuellem Unterricht und Aufwärmen vor dem Training.</p>
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<p class="article-content"><p>Gemäss einer Umfrage der Zeitschrift «20 Minuten» unter 2890 Teilnehmern praktizieren 36 % der Schweizer regelmässig Yoga und 20 % hin und wieder. 27 % betreiben zwar kein Yoga, haben es aber vor.<sup>1</sup> Inzwischen gibt es einige Studien über die positiven Wirkungen von Yoga: Es bessert Depressionen, Angst- und Schlafstörungen bei Schwangeren sowie Müdigkeit und Depressionen bei Frauen mit Brustkrebs. Yoga kann chronische Nacken- und Rückenschmerzen lindern und wirkt positiv auf Herz-Kreislauf-Parameter bei Patienten mit Vorhofflimmern und bei Menschen, die einen Schlaganfall erlitten haben. Yoga verbessert zudem die Balance und das Körpergefühl – das kann insbesondere ältere Menschen vor Stürzen schützen.<sup>2</sup></p> <h2>Trendsport mit Nebenwirkungen</h2> <p>Doch der Trendsport kann auch Nebenwirkungen hervorbringen. Immer mehr Leute verletzen sich in den USA beim Yoga.<sup>2</sup> Das fanden Thomas Swain und Gerald McGwin von der Universität in Alabama durch Auswertungen von Daten des nationalen Überwachungssystems für Verletzungen heraus. Vor allem Senioren scheint Yoga zu schaffen zu machen: Mehr als achtmal so viele über 65-Jährige verletzten sich 2014 im Vergleich zu 2001.<br />«Für die Schweiz haben wir hierzu keine objektiven, wissenschaftlich erfassten Zahlen», sagt Dr. med. Daniel Wüst, Orthopäde und Sportmediziner in einer Praxis in Zürich. «Aber auch ich sehe regelmässig Patienten, die sich beim Yoga verletzt haben.» Am häufigsten würden Frauen über Schmerzen im Knie klagen, die nach längerem Sitzen auf den Fersen mit maximaler Beugung der Kniegelenke aufgetreten sind. Bei diesen stellt Wüst dann oft einen Schaden am Meniskus fest. <br />Dr. med. Alexander Barié, Leiter des Bereichs Sportorthopädie und Sporttraumatologie am Universitätsklinikum Heidelberg, ist ebenfalls des Öfteren mit Knieschmerzen bei Yogasportlern konfrontiert, und zwar nach Einnahme des Lotussitzes. Die Schmerzen wurden durch Überlastung bereits degenerativ vorgeschädigter Menisken verursacht. «Auch Sehnenirritationen im Bereich der Sitzbeine kommen vor, vor allem wenn die fehlenden körperlichen Voraussetzungen durch den Übenden missachtet und übergangen werden.» <br />Wüst sieht immer wieder auch Schäden an Bändern oder Kapseln am Schultergelenk, wenn die Yogabegeisterten zu heftig gedehnt haben. Einmal habe er sogar bei einer Dame eine Fraktur am Mittelfussknochen diagnostiziert. Der Knochen war wegen ständiger Überlastung gebrochen.</p> <h2>Verletzungen vermeiden durch individuellen Unterricht</h2> <p>Frakturen durch Yoga kommen zum Glück selten vor. In der oben erwähnten US-amerikanischen Studie machten sie nur 4,76 % der Verletzungen aus. Am häufigsten (45,03 % ) zerrten sich die Leute Bänder, Kapseln und Muskeln, vor allem an Hals, Rücken oder Beinen.<br /> «Prinzipiell kann jedes unserer Bänder, jeder Muskel und jede Gelenkkapsel gezerrt werden», erklärt Wüst. Das passiert, wenn man das Gewebe über seine eigentliche maximale Dehnungsfähigkeit hinaus dehnt. «Es kommt dann zu kleinsten Rissen im Gewebe, was eine Blutung und Entzündung auslösen kann, die Schmerzen verursacht.» Die Zerrungen entstehen, weil die Yogasportler ihre Übungen zu ehrgeizig machen, ihre körperlichen Fähigkeiten überschätzen oder nicht richtig angeleitet werden, so Barié. Das sind auch die Gründe, warum sich ältere Yogasportler häufiger verletzten. «Im Alter ist das Gewebe nicht mehr so dehnbar und wird anfälliger für Verletzungen.» Macht man dann die Übungen so intensiv wie ein junger Mensch, reizt man das vorgeschädigte Gewebe, und es wird gezerrt. Im Alter lässt zudem die Knochendichte nach und Knochen brechen leichter, was auch die erhöhte Frakturrate bei den Senioren erklärt. «Ältere Sportler sind ausserdem oft ziemlich ehrgeizig», erzählt Barié. «Die Yogagruppen sind häufig gemischt, und die Senioren möchten unbedingt mit den Jüngeren mithalten.» <br />Verletzungen liessen sich vermeiden, wenn die Yogalehrer ihre Schüler individueller anleiten würden, so Barié: «Ältere Yogainteressierte und solche mit Vorschäden sollten zunächst individuell durch einen medizinisch geschulten Trainer angeleitet werden und nicht direkt in einer Gruppe beginnen.» Ausserdem solle man seine Patienten immer wieder darauf hinweisen, das Aufwärmen nicht zu vergessen, rät Wüst: «Das Gewebe wird mehr durchblutet und die Koordination zwischen Muskeln und Gehirn verbessert – das kann vor Verletzungen schützen.» Die Übungen sollten über einen längeren Zeitraum gelernt und gesteigert werden. «Und niemals sollte der Yogalehrer eine durchgeführte Dehnung mit den Händen verstärken. Dann ist eine Zerrung fast schon vorprogrammiert», so Wüst.<br />Kaum ein Yogabegeisterter lässt sich von seinem Lieblingssport abhalten. Umso wichtiger ist es, ihm verständlich zu erklären, was er im Notfall machen kann: Kommt es zu einer Zerrung an Bein oder Arm, soll die sogenannte PECH-Regel angewendet werden: Pausieren, Eis, Compression und Hochlagern. Bei Zerrungen an Schulter, Rücken oder Nacken kann der Betroffene erst einmal abwarten. Lassen es die Schmerzen zu, soll er in Bewegung bleiben, also seinem normalen Tagesablauf nachgehen, sagt Barié. Wärme mittels Wärmekissen entkrampft die Muskulatur. Bei stärkeren und länger anhaltenden Schmerzen sollte sich der Patient beim Hausarzt vorstellen. Wenn aber «red flags» dazukommen, dann ist ein umgehender Besuch beim Facharzt anzuraten. Solche Warnzeichen sind Fieber, Lähmungserscheinungen an Blase, Mastdarm oder Beinen, sich stark verschlimmernde Rückenschmerzen oder vorbekannte Erkrankungen wie Osteoporose, Krebs oder entzündlich-rheumatische Erkrankungen.</p> <h2>Nicht die Freude am Yoga verderben</h2> <p>Man dürfe seinen Patienten aber nicht die Freude am Yoga nehmen, findet Barié. «Im Vergleich zu anderen Sportarten kommt es beim Yoga selten zu Verletzungen, und die Vorteile überwiegen bei Weitem das Risiko.» Yoga werde zunehmend auch in medizinischen Bereichen aufgrund seiner präventiven und therapeutischen Wirkung eingesetzt, z.B. zur Stressreduktion bei neurologischen und psychischen Erkrankungen und bei der Volkskrankheit Rückenschmerz. «Im Leistungssport wird es zur Verbesserung der körperlichen Voraussetzungen und aufgrund seiner positiven psychischen Effekte immer häufiger in den Trainingsplan der Athleten aufgenommen», berichtet Barié. «Man muss nur den richtigen Yogalehrer suchen. Dann ist Yoga eine gute und ungefährliche Möglichkeit, um die Gesundheit zu verbessern.»</p></p>
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<p><strong>1</strong> <a href="http://www.20min.ch">www.20min.ch</a> <strong>2</strong> Swain TA, McGwin G: Orthop J Sports Med 2016; 4(11): 2325967116671703</p>
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