
Unnötig im Knie operiert?
Bericht:
Dr. med. Felicitas Witte
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Erneut zeigt eine grosse Studie, dass degenerative Meniskusrisse besser konservativ behandelt werden sollten.1 Kollegen warnen aber davor, pauschal alle Eingriffe abzulehnen.
Muss jeder Riss in einem Meniskus operiert werden? Diese Frage beschäftigt Forscher seit Jahren, und wegen der Fidelity-Studie aus Finnland nun auch erneut Schweizer Gesundheitspolitiker.1 Konkret geht es darum, ob bestimmte Meniskusoperationen von der Grundversicherung ausgeschlossen werden sollen, und zwar im Falle von degenerativen Rissen.
Meniskusrisse gehören zu den häufigsten Knieverletzungen. Sie passieren oft Fussballern, Skifahrern, Tennis- oder Handballspielern, die ihr Knie schnell stoppen und verdrehen. Diese traumatischen Risse betreffen meist Menschen unter 40 Jahren. Schon ab diesem Alter weist das Meniskusgewebe Verschleisserscheinungen auf, die mit dem Alter fortschreiten. So kann ein Meniskus dann auch bei sehr geringer oder gar ganz ohne äussere Krafteinwirkung reissen. Bei mehr als jedem dritten Menschen über 60 sind die Menisken geschädigt.
Meniskusrisse äussern sich typischerweise durch Schmerzen im Knie, wenn der Patient es belastet und kraftvoll beugt, manchmal schwillt es immer wieder an. Selbst im Falle von traumatischen Rissen ist nicht ganz klar, ob jeder Patient von einer Operation profitiert. Gemäss der Europäischen Gesellschaft für Sporttraumatologie, Kniechirurgie und Arthroskopie könnten kleine traumatische Risse des äusseren Meniskus konservativ behandelt werden, also mit entzündungshemmenden Schmerzmitteln und Bewegungstherapie, die übrigen sollten operiert werden.2
Manche Kollegen argumentieren, dass auch degenerativ bedingte Meniskusrisse operiert werden sollten, weil dem Patienten sonst eine Arthrose drohe. Doch wie die aktuelle Fidelity-Studie von der Universität Helsinki erneut bestätigt, ist diese Theorie offenbar haltlos.1
Es sind die 5-Jahres-Ergebnisse einer Untersuchung, die 2013 veröffentlicht wurde.3 Damals wurde die Hälfte von 146 Patienten zwischen 35 und 65 Jahren mit degenerativem Riss mit einer «echten» Operation behandelt: Die Chirurgen entfernten lose und beschädigte Anteile des Meniskus. Die übrigen bekamen nur eine Placebooperation. Der Chirurg bewegte ihr Knie genauso wie in der echten Operation, verlangte nach Instrumenten, drückte sie von aussen an die Kniescheibe und verwendete einen Sauger. Nach einem Jahr hatten sich in beiden Gruppen Schmerzen, Bewegungsumfang und Lebensqualität gemäss standardisierter Fragebögen gebessert – egal ob die Patienten wirklich operiert wurden oder nur scheinbar. Jetzt veröffentlichten die Autoren die 5-Jahres-Ergebnisse: Auch auf lange Sicht lieferte die Operation keine besseren Ergebnisse als der Scheineingriff. Dafür gab es in Röntgenbildern Hinweise, dass die operierten Patienten öfter eine Arthrose bekommen – das sollte die Operation ja eigentlich verhindern.1
Die Studie von 2013 war indes nicht die Erste, die den Nutzen des Eingriffs infrage stellte. Von 8 Studien aus den Jahren 2002 bis 2016, die nach dem Zufallsprinzip echte Operationen mit Scheinoperationen verglichen hatten, fand nur eine einen minimalen und dann noch nicht einmal anhaltenden Vorteil der Operation. Auch als ein internationales Forscherteam unter Beteiligung des Universitätsspitals Basel im Jahr 2017 25 Studien unter die Lupe nahm, ergab sich ein ähnliches Bild: Zwar hat die Operation kurzfristig möglicherweise einen kleinen Vorteil gegenüber der Scheinoperation hinsichtlich Schmerzreduktion und Bewegungsverbesserung, aber langfristig hat der Eingriff keinen Vorteil und birgt ein Risiko für ernste Komplikationen, etwa Infektionen oder Lungenembolien. Viele Fachleute raten Patienten mit degenerativen Meniskusschäden inzwischen von einer Operation ab – vor allem wenn der Patient gleichzeitig eine Arthrose im Knie hat.
In Deutschland zahlen die gesetzlichen Krankenkassen wegen des fehlenden Nutzens arthrosebedingte Meniskusschäden seit 2015 nicht mehr. Ausnahme sind Schäden, bei denen ein Teil des Meniskus abgerissen ist und das Knie blockiert, sodass es sich nicht mehr vollständig strecken lässt. «Die Daten waren schon vor der neuen Fidelity-Studie hinreichend gut, um Patienten ohne relevante Verletzung von dieser Operation abzuraten», sagt Dr. med. Leander Muheim, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Hausarztmedizin in Zürich. Vor 3 Jahren hatte der Arzt das Vorgehen von Schweizer Operateuren vor und nach Veröffentlichung dieser kritischen Studien anhand von mehr als 1,2 Millionen Patientendaten der Krankenversicherung Helsana verglichen.4 Trotz der eigentlich überzeugenden Daten wurden 2015 fast genauso viele Menschen mit degenerativem Riss am Knie operiert wie 2012.
Ob hierzulande zu viele Menschen an einem degenerativen Meniskusriss operiert werden, lässt sich nicht sicher sagen. Das Problem ist: Die Operationen werden nicht zentral erfasst und nur im Falle von stationären Operationen wird dokumentiert, was für eine Art von Riss der Patient hatte.
Gemäss Bundesamt für Statistik (BfS)führten Ärzte im Jahr 2019 14057 Meniskusoperationen durch. 6961 davon erfolgten wegen eines traumatischen Risses und hierbei steht ausser Diskussion, dass die Patienten davon profitierten. In 3473 Fällen wurden Knie jedoch wegen eines degenerativen Risses operiert und es stellt sich die Frage, ob alle diese Operationen notwendig waren. Dass Ärzte die Risse gerne aus finanziellen Gründen operieren, scheint fraglich: Für eine Kniespiegelung mit Meniskusbehandlung bekommt der Operateur 276,38 Franken, davon zahlt er noch 98,15 Franken an den Assistenten. Womöglich ist es die Überzeugung mancher Chirurgen, dass nur eine Operation die Beschwerden ihres Patienten lindern kann.
In den vergangenen Jahren wurden zwar weniger Patienten wegen eines degenerativen Risses stationär operiert – 2011 waren es noch 6009 – aber es ist nicht klar, ob gleichzeitig mehr Patienten ambulant operiert wurden. Hier sind dem BfS nur die Gesamtzahlen bekannt, und die haben seit 2015 stetig zugenommen: 2015 waren es 7313, 2019 bereits 11926. Es ist zu bezweifeln, dass dieser Anstieg dadurch bedingt ist, dass sich viel mehr Menschen ihre Menisken bei einem Unfall verletzten.
«Damit die Entscheidungsträger adäquate Massnahmen empfehlen können, bräuchte es Daten zu ambulanten Leistungen, die auch die Diagnose beinhalten», sagt Patrick Schwab, Leiter der Medizinischen Statistik im BfS. «Aber die derzeitige Dokumentationspflicht gibt das nicht her.»
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist seit mehr als einem Jahr dabei, im Auftrag des Bundes den Nutzen einer solchen Operation mit wissenschaftlichen Fakten zusammenzufassen. Damit wird letztendlich das Eidgenössische Departement des Inneren entscheiden, ob der Eingriff weiterhin bezahlt wird. Doch das zieht sich hin: Erst reichten den Politikern die Daten nicht, dann kam Corona dazwischen, jetzt die neue Fidelity-Studie. So analysieren die BAG-Experten noch einmal alle Daten. Im BAG heisst es, es würde womöglich eine Leitlinie geben, welcher Patient individuell von einer Operation profitiert, und dies würde dann von der Kasse bezahlt werden. Man könne noch keinen Termin nennen, wann darüber weiter publiziert würde, aber sicher nicht vor Ende 2021.
Er sei schon seit Jahren sehr zurückhaltend damit, degenerative Risse zu operieren, sagt PD Dr. med. Peter Koch, Chefarzt Orthopädie und Traumatologie im Kantonsspital Winterthur und Vorsitzender der Expertengruppe Knie der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie (Swiss Orthopaedics). «Man darf aber nicht alle Patienten über einen Kamm scheren. Manche profitieren sehr wohl von der Operation.» Die Studie hat nämlich einen Nachteil: Sie schloss bestimmte Patienten aus, zum Beispiel die, die ihr Knie nicht mehr richtig bewegen konnten oder bei denen es gar so blockiert war, dass weder Beugung noch Streckung möglich waren. Koch rät Patienten mit degenerativem Riss in erster Linie zu einer konservativen Behandlung. Wie man in der Praxis vorgehen kann, erläutert anschaulich ein Algorithmus in einer Stellungnahme der Expertengruppe Knie der Swiss Orthopaedics (Abb. 1).5 Eine Operation käme zum Beispiel dann infrage, so Koch, wenn er in der Kernspintomografie einen lappenförmigen Riss sehe, der eingeschlagen ist, und der Patient dauerhaft Schmerzen hat. «Es sind die Beschwerden des Patienten, die entscheiden, nicht ich!», sagt der Orthopäde. Habe der Patient mehrere Monate eine konservative Therapie probiert, fühle er sich stark eingeschränkt im Alltag, korreliere die Kernspintomografie – also ein grosser Lappenriss – mit seinen Beschwerden, halte er den Eingriff für gerechtfertigt. «Leider werden diese individuellen Situationen in Studien kaum abgebildet.»
Abb. 1: Therapiealgorithmus zur Behandlung degenerativer Meniskusschäden (nach Kaelin R et al. 2018)5
«Keine apodiktische Neuheit»
Die meisten degenerativen Meniskusrisse bräuchten primär nicht operiert zu werden, stimmt PD Dr. med. Florian Imhoff, Oberarzt Kniechirurgie an der Orthopädie der Universitätsklinik Balgrist, Zürich, der Fidelity-Studie zu: Es gebe aber Raum für individuelle Entscheidungen. «Die erste Studie der Fidelity-Autoren unter Federführung von Riane Sihvonen et al. im Jahr 2013 hat sehr breite Beachtung gefunden und sicherlich zu einem Umdenken in der Behandlung von degenerativen Meniskusrissen geführt. Die nun publizierten 5-Jahres-Ergebnisse überraschen mich nicht, schliesslich hatten auch schon die 2-Jahres-Ergebnisse, die 2018 veröffentlicht wurden, in die gleiche Richtung gezeigt», kommentiert Imhoff. «In unseren Alltag fliesst das Wissen aus diesen Studien schon länger in die Behandlung ein. Bei einem Patienten mit klar degenerativem Meniskusriss streben wir nach Ausschluss einer Gelenkblockade primär eine konservative Therapie an und begleiten den Patienten im weiteren Verlauf. Zudem evaluieren wir mögliche Ursachen, zum Beispiel eine starkes O- oder X-Bein oder eine chronische Bandinstabilität, die zu einer Meniskusdegeneration geführt haben. Dann können wir dem Patienten weitere Behandlungsansätze bieten.» Die gemessenen radiologischen Parameter in der Fidelity-Studie zeigten sogar, dass in der Gruppe mit durchgeführter Teilentfernung des Meniskus der Arthrosegrad über die Zeit eher zugenommen hat, so Imhoff. Zu kritisieren sei jedoch, dass die Patientenzahl mit 146 relativ klein war. «Abgesehen davon erhielt die Kontrollgruppe ebenfalls eine Arthroskopie mit Gelenkspülung – allein der operative Eingriff kann einen gewissen Placeboeffekt bewirkt haben», meint Imhoff. «Allerdings sind heute gerade bei jüngeren Patienten auch Meniskusnähte von horizontalen, degenerativ anmutenden Meniskusrissen sinnvoll und mit guten Ergebnissen verbunden, wie ein Review von 2020 der Gruppe um Flanigan und Keading zeigt.»6 Daher sei die Fidelity-Studie «keine apodiktische Neuheit», sie lässt Raum für Interpretation. «Trotzdem ist aber klar: Die meisten degenerativen Meniskusrisse brauchen primär nicht operiert zu werden.»
Literatur:
1 Sihvonen R et al.: Br J Sports Med 2020; 54: 1332-9 2 Kopf S et al.: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc 2020; 28: 1177-94 3 Sihvonen R et al.: N Engl J Med 2013; 369: 2515-24 4 Muheim LLS et al.: Acta Orthop 2017; 88(5): 550-5 5 Kaelin R et al.: Swiss Med Forum 2018; 18: 147-53 6 Morris JH et al.: Arthroscopy 2020; 36(8): 2316-31
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