
Schmerzhafte und invalidisierende Wirbelsäulendeformitäten beim alten Patienten: wie weiter?
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Autor:
Prof. Dr. med. Ulrich Berlemann
Praxis für Wirbelsäulenmedizin<br> Salem-Spital Bern <br> E-Mail: wirbelsäulenmedizinbern@hin.ch
30
Min. Lesezeit
28.11.2019
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<p class="article-intro">Progrediente Deformitäten, die sich aus degenerativen Prozessen der älter werdenden Wirbelsäule ergeben, stellen für die Patienten eine häufig einschränkende und teilweise auch invalidisierende Problematik dar, die therapeutisch grosse Herausforderungen beinhaltet. Aufgrund der altersdemografischen Entwicklung ist mit einer steigenden Inzidenz dieser Problematik zu rechnen. </p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Adulte Deformitäten der Wirbelsäule stellen aufgrund der demografischen Entwicklung ein zunehmendes Problem dar.</li> <li>Die Wahl der Therapie richtet sich primär nach den klinischen Symptomen, weniger nach dem Grad der Deformität.</li> <li>Im Falle einer Operation ist ein möglichst gezieltes und lokalisiertes Vorgehen anzustreben («less is more»).</li> <li>Bei ausgeprägten Deformitäten mit Störungen v. a. des sagittalen Alignements und auch bei voroperierten Patienten sind teilweise langstreckige korrigierende Verfahren erforderlich, die hohe Ansprüche an die Kompetenz des behandelnden Teams stellen.</li> </ul> </div> <h2>Biomechanische Grundproblematik</h2> <p>Relevante Deformitäten der Wirbelsäule können alle Projektionsebenen betreffen. In den letzten Jahren wurden viele Arbeiten zur Analyse der sagittalen Balance der Wirbelsäule veröffentlicht und u.a. die Bedeutung des Verhältnisses der lumbalen Lordose zur Stellung und Kippung des Beckens herausgearbeitet. Die Alterung der Wirbelsäule führt durch einen Lordoseverlust und eine Kyphosezunahme zu einer Ventralisierung des Schwerpunktes. Zu einem gewissen Grade sind Kompensationsmechanismen auf Ebene der Wirbelsäule, des Beckens und der unteren Extremitäten möglich. Sind diese aber ausgeschöpft, leiden die Patienten in aller Regel unter belastungsabhängigen Rückenbeschwerden in dem Sinne, dass in aufrechter Stellung die muskulären Kräfte der Rückenstrecker nicht ausreichen, die Wirbelsäule in ihrer Dysbalance zu stabilisieren. Somit handelt es sich um ein eher mehrsegmentales und langstreckiges Problem, welches therapeutisch häufig auch ein entsprechendes Vorgehen benötigt. Allerdings sollten die Parameter der Wirbelsäulenbalance auch bereits für Planungen sogar monosegmentaler Stabilisierungen berücksichtigt werden, um das Risiko von Nachbarsegmentspathologien durch biomechanische Überlastungen zu minimieren. <br /> Neben diesen Störungen des sagittalen Alignements spielen skoliotische Deformitäten v.a. im Lumbalbereich eine grosse Rolle. Als Hauptvertreter dieser koronaren Deformitäten sind zum einen die degenerative Lumbalskoliosen (DLS) oder auch «De-novo-Skoliosen» zu nennen, die typischerweise in der zweiten Lebenshälfte auftreten, sowie zum anderen die sekundären Degenerationen der idiopathischen Skoliosen.</p> <h2>Klinische Symptome, Abklärungen und Entscheidungsfindung</h2> <p>Im klinischen Bild spielen initial die durch die degenerativen Veränderungen der Bandscheiben und Wirbelgelenke verursachten lokal lumbalen Beschwerden die führende Rolle. Bei Progressionen der Degeneration und auch Deformität kann es dann zusätzlich zu Symptomen der foraminalen oder spinalen Kompressionen neuraler Strukturen mit entsprechenden Ischialgien oder Claudicatio-Symptomen kommen. Häufig entsteht erst in dieser Phase aus Patientensicht die subjektive Notwendigkeit eines operativen Eingriffes, da diese Symptome sehr belastend und mobilitätseinschränkend sein können, ohne dass konservative Massnahmen genügend Möglichkeit einer dauerhaften Besserung böten.<br /> Grundsätzlich sind zwar die klinischen Symptome der primäre und der Grad der Deformation der sekundäre Indikator in der Wahl des therapeutischen und evtl. auch operativen Vorgehens. Andererseits aber sollten die Behandlungsstrategien durchaus altersangepasst festgelegt werden, wobei das biologische Alter, die Lebenserwartung, Nebenerkrankungen und ebenso das Aktivitätsprofil eine Rolle spielen. Auch im natürlichen Verlauf der Deformitäten spielen diese Faktoren eine Rolle. <br /> Es sollte zunächst eine relativ «jüngere» Patientengruppe von einer «älteren» unterschieden werden. Im Allgemeinen werden Patienten mit einer verbleibenden Lebenserwartung von mehreren Jahrzehnten, Berufstätigkeit und sportlichen Aktivitäten der «jüngeren» Patientengruppe zugeordnet. Typischerweise fallen Patienten in der 5. und 6. Lebensdekade in diese Kategorie. Da initial meist die lokale Rückenschmerzkomponente die klinisch führende Rolle spielt, werden diese Patienten häufig über einige Jahre konservativ behandelt und begleitet. Wichtig ist aber auch in dieser Phase bereits eine umfassende Analyse der Problematik, auch mit einer vollständigen bildgebenden Diagnostik, zu der immer auch Röntgenbilder im Stehen gehören, besser noch Gesamtaufnahmen der Wirbelsäule, z.B. im EOS-System. Vielfach hat die MRI-Diagnostik vonseiten der Zuweiser und Hausärzte mittlerweile eine Präferenz gegenüber konventionellen Röntgenbildern. Eine reine Schichtbilddiagnostik, die ja üblicherweise in einer liegenden Position des Patienten durchgeführt wird, kann aber das wahre Ausmass der Wirbelsäulendeformität verschleiern. Zudem sind mit modernen Röntgentechniken die Strahlenbelastungen der Patienten massiv gesunken.</p> <h2>Nicht-operative Therapie</h2> <p>Die konservativen Therapieansätze umfassen neben der analgetischen Therapie passive krankengymnastische Massnahmen ebenso wie aktive Programme zur Verbesserung der allgemeinen und der Kraft-Ausdauer-Leistungsfähigkeit. Häufig sind diese Möglichkeiten aber insbesondere beim älteren Patienten limitiert. Der Platz und Stellenwert weiterer «Alternativtherapien» kann sicherlich kontrovers diskutiert werden, gesicherte Daten zur Wirkung gibt es allerdings nicht. Auch «konservativ-interventionelle» Massnahmen, wie z.B. bildwandlergestützte Infiltrationen, haben wohl im Rahmen der Symp tombekämpfung während einer gewissen Phase der Erkrankung ihren Platz, sind aber nicht in der Lage, eine allfällige Progredienz der Problematik zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. <br /> Somit ist auch im Rahmen der teilweise jahrelangen konservativen Behandlung ein regelmässiges Monitoring der Patienten zu empfehlen, da der optimale Zeitpunkt einer operativen Korrektur auch verpasst werden kann.</p> <h2>Operative Therapie</h2> <p>Eine operative Behandlung kommt dann in Betracht, wenn die Symptome mit konservativen Verfahren nicht mehr beherrschbar sind, eine klare Progredienz der Skoliose zu sehen ist oder zusätzliche neurogene Symptome auftreten. In derartigen Fällen ist nach Studienlage die operative Versorgung dem weiter konservativen Vorgehen im Langzeitverlauf überlegen, auch wenn relevante intra- und auch postoperative Risiken bestehen, wobei v.a. eine Verschlechterung der neurologischen Funktion, Infektrisiken, implantatassoziierte Komplikationen und Nachbarsegmentsproblematiken zu nennen sind. <br /> In der Planung eines operativen Vorgehens stellt sich auch aufgrund dieser Risiken grundsätzlich die Frage, ob eine begrenzte Lösung mit Versorgung nur einer oder einiger weniger Etagen sinnvoll und möglich ist oder ob eine längerstreckige Korrektur und Stabilisation erforderlich scheinen. Eine grosse Rolle spielt in diesem Entscheidungsprozess wiederum das sagittale Alignement, das nach Berjano und Lamartina (2014) zumindest kompensiert sein sollte, um eine selektive Vorgehensweise möglich zu machen. Weiterhin spielen auch die Rigidität bzw. das Korrekturpotenzial der Skoliose eine Rolle. Dabei hat sich die zusätzliche Analyse der Wirbelsäulenaufnahmen unter Zug bewährt. Zudem sollte es möglich sein, die symptomgebende Pathologie bestimmten Segmenten zuordnen zu können. Hier können in der präoperativen Planung selektive bildgestützte Infiltrationen hilfreich sein. <br /> Die Möglichkeiten der operativen Versorgung umfassen ein relativ breites Spektrum, welches von der reinen, mikroskopisch assistierten Dekompression ohne zusätzliche Stabilisation über mono- oder bisegmentale Stabilisationen bis hin zu langstreckigen, korrigierenden Fixationen reicht.<br /> Für kurzstreckige Stabilisationen stehen wiederum verschiedene Zugangswege und Stabilisationstechniken zur Verfügung. Sehr häufig finden zur besseren Korrektur intervertebrale Cages Anwendung, die «klassisch» über dorsale Zugänge (PLIF- und TLIF-Technik) oder auch zunehmend durch laterale Zugänge (XLIF-Technik, Abb. 1) eingebracht werden. Letztere werden mit einem minimal invasiven Zugang in Wechselschnitttechnik über eine Lumbotomie oder Thorakotomie durchgeführt, was Vorteile im Hinblick auf die Muskel- und Weichteiltraumatisierung im Vergleich zu rein dorsalen Techniken mit sich bringt. Zudem können über diese Zugänge grössere und besser abstützende Cages eingebracht werden. Andererseits ist der lumbosakrale Übergang mit dieser Technik nicht zugängig, hier bieten sich häufig ventrale Zugangsverfahren (ALIF) an. <br /> Längerstreckige Stabilisationen sind eher zur globalen Korrektur des Wirbelsäulenalignements erforderlich und sind dementsprechend auch häufig mit Techniken der Osteotomie zu kombinieren. Auch hier stehen verschiedenen Verfahren zur Verfügung, wobei die Smith-Petersen-Osteotomie (SPO) und die Pedikelsubstraktionsosteotomie (PSO) wohl am häufigsten zur Anwendung kommen. Die Darstellung von Details zu diesen Techniken würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, es ist aber darauf hinzuweisen, dass derartige Eingriffe eine gut strukturierte peri-, intra- und postoperative Infrastruktur benötigen. Diese umfasst die stationäre Betreuung der Patienten durch geschultes Pflegepersonal und Physiotherapeuten ebenso wie das Operationsteam mit Lagerungs- und Instumentierpersonal sowie eine adäquate anästhesiologische Führung und neurologische Überwachung (Neuromonitoring). Daraus lässt sich schliessen, dass diese Eingriffe in spezialisierten Zentren durchgeführt werden sollten, die über die hierfür notwendige Expertise, entsprechende Fallzahlen und über die erforderliche Routine verfügen. Es ist in der Literatur gut belegt, dass sich diese Faktoren in niedrigeren Komplikationsraten und besserem Outcome für die Patienten widerspiegeln. <br /> Mit zunehmendem Patientenalter wird die Indikation zur operativen Intervention eher restriktiver, was insbesondere für langstreckige und korrigierende Eingriffe gilt. In dieser Patientengruppe steht auch die Progredienz der Deformität weniger im Vordergrund, da sich die Wirbelsäule häufig bereits im natürlichen Verlauf durch die zunehmende Rigidität der Bandscheiben sowie osteophytäre und häufig segmentüberbrückende Knochenanbauten stabilisiert hat. Die Notwendigkeit einer operativen Intervention entsteht wie immer nach Ausschöpfen der konservativen Therapiemassnahmen eher durch eine Zunahme entsprechender neurogener Symptome, welche die Mobilität zusätzlich einschränken, oder durch eine Zunahme der Facettengelenkssymptome - entweder im Verlauf des Apex der Skoliose oder im zumeist bestehenden Gegenschwung in der Region L4 bis S1. Zu berücksichtigen sind dabei sicherlich die mit steigendem Patientenalter zunehmenden Nebenerkrankungen und auch intra- und perioperative Risiken.<br /> In der Wahl des operativen Vorgehens spielen somit konsequent korrigierende Massnahmen eher weniger eine Rolle als - wenn irgend möglich - ein lokales Vorgehen zur Beseitigung der lokalen Pathologie. Dies kann u.U. mit einer rein dekomprimierenden Massnahme geschehen oder auch mit einer kurzstreckigen Stabilisation. Das Vorliegen und das Ausmass einer Osteoporose müssen dabei ebenfalls berücksichtigt werden. <br /> Eine spezielle und an Inzidenz eher zunehmende Untergruppe stellen die Patienten mit vorhergehenden Stabilisationsoperationen dar. Die operative Versorgung von Nachbarsegmentspathologien ist eine besondere Herausforderung, da hier häufig auch beim älteren Patienten mit deutlichen, durch die frühere Fusion fixierten Störungen des Aligne ments die Notwendigkeit eines längerstreckigen und korrigierenden Vorgehens entsteht (Abb. 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s9_abb1_berlemann.jpg" alt="" width="850" height="325" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s10_abb2_berlemann.jpg" alt="" width="350" height="560" /></p></p>
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