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Präoperative Halo-Gravitations-Traktion für hochgradige Skoliosen
Jatros
Autor:
Dr. Stefan Schenk
Leiter der chirurgischen Skolioseambulanz,<br> Wirbelsäulenzentrum,<br> Orthopädisches Spital Speising, Wien<br> E-Mail: stefan.schenk@oss.at;<br> stefan.schenk@drstefanschenk.at
30
Min. Lesezeit
11.05.2017
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<p class="article-intro">Die chirurgische Behandlung hochgradiger Wirbelsäulendeformitäten ist komplikationsreich und mit hohem neurologischem Risiko verbunden. Mithilfe der präoperativen Halo-Gravitations-Traktion (HGT) kann vor der definitiven operativen Sanierung eine Reduktion der Deformität erreicht und das Risiko gesenkt werden.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Hochgradige Skoliosen oder Kyphosen von mehr als 90° stellen hinsichtlich Morbidität und Mortalität eine wirbelsäulenchirurgische Herausforderung dar. Um das Risiko zu mäßigen, haben Chirurgen verschiedenartige Vorgehensweisen vor dem eigentlichen korrektiven Eingriff herangezogen:</p> <ul> <li>Ein „anterior release“ in Form einer transthorakalen Diskektomie mit Rippenköpfchenresektion ist mit erheblicher Zugangsmorbidität verbunden. Der vorbereitend mobilisierende Effekt ist in meinen Händen verhältnismäßig enttäuschend.</li> <li>Zweizeitige Versorgungen wie Wirbelkörperresektionen oder „temporäre interne Distraktion“ sind chirurgisch komplikationsträchtig und anästhesiologisch belastend.</li> </ul> <p>Verglichen mit den genannten Techniken erlaubt die HGT eine schrittweise Reduktion der Deformität mit dem Ziel, das neurologische Risiko zu vermindern. Da der Patient während dieser Zeit wach ist, können eventuell auftretende Symptome oder Defizite unmittelbar beobachtet und kontinuierlich bewertet werden.<br /> Die HGT ist eine altbekannte Technik. Dass sie ein geeignetes und verlässliches Werkzeug darstellt, um Deformitäten präoperativ teilweise zu korrigieren, ist in der Literatur gut belegt. Eine Arbeit des Scoliosis Research Society Global Outreach Program hat mein Interesse geweckt (Nemani VM et al: Spine 2015; 40(3): 153- 61). Insbesondere Ferran Pellisé aus Barcelona hat mich bei der Umsetzung beraten und gab Sicherheit in der Erstellung des Behandlungsplanes. Eine Recherche bei Ralf Stücker in Hamburg war hilfreich bei der Konstruktion der entsprechenden technischen Hilfsmittel.</p> <h2>Halo – Protokoll</h2> <p>Die Anlage des Halo erfolgt in Kurznarkose im Operationssaal. Vier Pins werden an typischer Stelle knapp über dem Äquator des Schädels unmittelbar oberhalb der Augenbrauen und 1cm hinter der Spitze der Ohrmuschel gesetzt und mit einem Drehmoment von 0,9Nm festgezogen (Abb. 1a). Die HGT nützt Schwerkraft und Zeit. In der Folge wird der Patient vor der definitiven operativen Versorgung über einen Zeitraum von mindestens drei Wochen gestreckt. Den Tag verbringt der Patient im Rollstuhl (Abb. 1b) oder Gehgestell, die Nacht im schräg gestellten Bett. Über dem Halo wird ein axialer Zug mit Gewichten angelegt und kontinuierlich gesteigert, bis das halbe Körpergewicht des Patienten erreicht ist. Die Traktion wird zu jeder Zeit aufrechterhalten, ausgenommen zu Mahlzeiten oder zur Verrichtung der persönlichen Hygiene. Die Patienten werden täglich hinsichtlich neurologischer Veränderungen oder Zeichen einer Infektion an den Pinstellen überwacht. Angestrebt wird eine langsame Verringerung der Krümmung um ca. ein Drittel. Die oben genannte Publikation konnte zeigen, dass sich die Korrektur asymptotisch einem Plateau nähert, das nach fünf Wochen und mit 50 % des Körpergewichts erreicht ist.<br /><br /> Die HGT ist gleichermaßen effektiv für die Skoliose und Kyphose im Rahmen kombinierter, biplanarer Deformitäten. Reine kyphotische Krankheitsbilder sind häufig starr und nicht so gut beeinflussbar. Dass es schon während der HGT zu einer Verbesserung des Selbstbildes und der psychischen Gesundheit (SRS-22-Score) kommen kann, ist eine Beobachtung, die sich mit meiner Erfahrung deckt. Durch die präoperative HGT wird die definitive operative Versorgung handwerklich um einiges einfacher, die räumliche Orientierung an der reduzierten Deformität leichter.<br /><br /> Die HGT stammt aus einer Zeit, in der der Skoliosenchirurgie noch nicht so potente Verankerungspunkte an den Wirbeln zur Verfügung standen, wie sie aktuelle Schrauben-, Haken- und Bandsysteme bieten können. Die Kombination der HGT mit modernen Reduktions- und Osteosynthesematerialien ermöglicht erstaunliche Ergebnisse. Üblicherweise ist das Ziel der definitiven chirurgischen Versorgung eine Reduktion um ca. zwei Drittel. Ist die Ausgangssituation allerdings bereits um ein Drittel besser, ist eine Gesamtkorrektur von über 75 % möglich (Abb. 1c und 2).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s26_abb1.jpg" alt="" width="2186" height="709" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Ortho_1703_Weblinks_s26_abb2.jpg" alt="" width="1455" height="2291" /></p> <h2>Komplikationen</h2> <p>Häufig beobachtet werden Infektionen der Pinstellen, die eine antibiotische Therapie oder die Repositionierung des Halo notwendig machen.<br /> Berichtenswert ist jener unserer Fälle, bei dem es während der primären Anlage des Halo zu einer Pinperforation der Kalotte gekommen ist. Rückblickend konnten wir einen außergewöhnlich dünnen Schädelknochen als Ursache feststellen. Trotz nachgewiesener Verletzung der Großhirnrinde haben sich keine neurologischen Symptome entwickelt. Vermutlich handelt es sich um ein sehr seltenes Problem, da es in der Literatur kaum beschrieben ist.<br /> Neurologische Komplikationen, bedingt durch HGT, sind selten, da – wie oben beschrieben – der tägliche Neurostatus gegebenenfalls eine Anpassung der Traktion ermöglicht.<br /> Für traktionsbedingte Kopf- und Nackenschmerzen sind meist leichte Schmerzmittel in Kombination mit physikalischen Maßnahmen ausreichend.<br /> Der muskulären Atrophie, bedingt durch die Zeit im Rollstuhl, versuchen wir mit physiotherapeutisch angeleiteter Übungstherapie zu begegnen.<br /> In einem weiteren Schritt hoffen wir, die Mobilisierung in Zukunft auch in einem Traktions-Walker anbieten zu können.</p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Die HGT ist eine sichere Methode, um schwere Wirbelsäulendeformitäten schon vor einer definitiven Versorgung zu reduzieren. Die Notwendigkeit einer risikoreichen 3-„column“-Osteotomie (Wirbelkörperresektion) kann gegebenenfalls umgangen werden. Im Allgemeinen gelingt eine präoperative Korrektur von ca. einem Drittel. Die HGT dauert zumindest drei Wochen, das Plateau der Korrektur wird mit 50 % des Körpergewichtes des Patienten erreicht.</p></p>
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