<p class="article-intro">Wirbelsäulendeformitäten werden beim älteren Patienten zunehmend häufig beobachtet und gehen mit einer hohen Einschränkung der Lebensqualität einher. Der chirurgische Eingriff ist eine Therapieoption mit uneinheitlichen Ergebnissen und zum Teil widersprüchlicher Studienlage. Eine Vielzahl von patienten- und chirurgieassoziierten Faktoren muss bei der Indikationsstellung und Bewertung der Ergebnisse in Betracht gezogen werden. </p>
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<p class="article-content"><p>Die Prävalenz von adulten spinalen Deformitäten beim älteren Patienten über 60 Jahre beträgt fast 70 % , ist zunehmend und daher von herausragender Bedeutung für die nationalen Gesundheitssysteme. Grund für die Zunahme ist die Bevölkerungsentwicklung mit einer Verschiebung der Altersverteilung nach oben. So hat sich zwischen 1950 und dem Jahr 2000 der Anteil von Menschen über 60 Jahre von 205 Millionen auf 606 Millionen fast verdreifacht.<sup>1</sup> Umfangreiche Forschungsbemühungen auf diesem Gebiet sind daher gerechtfertigt. Ein Grossteil der in den letzten Jahren publizierten Studien stammt von der multinationalen European Spine Study Group (ESSG)<sup>2</sup> und der amerikanischen International Spine Study Group (ISSG)<sup>3</sup>.<br /> Das Spektrum der Wirbelsäulendeformitäten beim älteren Patienten ist heterogen und reicht ätiologisch von sogenannten De­-novo­-Skoliosen über sekundäre degenerierende idiopathische Formen, Entzündungen und Tumoren bis zum iatrogenen «Flat-­Back». Bei der Entwicklung spielen diverse altersassoziierte Faktoren wie Osteoporose, Bandscheibendegeneration und Spondylarthrose sowie neuro-­ und muskulodegenerative Veränderungen eine Rolle.<br /> Die subjektive gesundheitliche Belastung und der Leidensdruck bei den betroffenen Patienten ist erheblich. In einer Studie der ESSG wurde der Einfluss einer adulten Deformität von 766 Patienten auf die Lebensqualität mit anderen chronischen Leiden wie Diabetes, Arthritis, Herzinsuffizienz und chronischen Lungenerkrankungen bei über 24 000 Patienten verglichen. Es zeigte sich, dass in allen Unterkategorien des erhobenen Gesundheitsfragebogens (Short Form SF­-36-Scores) adulte Patienten mit Deformitäten schlechter abschnitten. Dies traf vor allem auf potenzielle Kandidaten für eine chirurgische Intervention zu. Patienten nach einer Operation schnitten insgesamt am besten ab, aber waren immer noch schlechter als die internistische Vergleichsgruppe.<sup>4</sup><br /> In eine ähnliche Richtung weist eine Studie von Mannion et al., welche mit dem «Full Paper Award» der European Spine Society 2017 ausgezeichnet wurde. In diese Untersuchung wurden unter anderem die klinischen Ergebnisse von Deformitätenoperationen mit anderen orthopädischen Eingriffen wie künstlichem Knie- oder Hüftgelenkersatz verglichen. Ein erfolgreiches Outcome nach Hüftendoprothesenoperation war demzufolge 4,6-mal wahrscheinlicher als nach lumbaler Deformitätenkorrektur (Abb. 1).<sup>5</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s26_abb1_haschtmann.jpg" alt="" width="550" height="322" /></p> <h2>Patient-reported outcome</h2> <p>Die Ergebnisse von Deformitätenoperationen werden typischerweise mittels radiologischer Messwerte (Korrektur des Cobb-Winkels, frontales und sagittales Profil) und der Verbesserung patientenbezogener Scores (PROMs), z. B. Core-Outcome-Measure-Index (COMI), Oswestry-Disability-Index (ODI), Short-Form (SF36), Scoliosis-Research-Society (SRS-22), ermittelt. Neben der Verbesserung der Lebensqualität zielen neuere Ansätze darauf ab, zu ermitteln, wie akzeptabel das postoperative Ergebnis für die Patienten ist, wenn sie den Rest des Lebens damit verbringen müssten («patient acceptable symptom state», PASS). Die Untersuchungen zeigen, dass, um einen für den Patienten akzeptablen Symptomstatus zu erreichen, ein postoperatives Schmerzniveau 3,5 (1–5) erzielt werden muss.<br /> Wirbelsäulendeformitäten bei älteren Patienten können konservativ oder chirurgisch behandelt werden. Die Entscheidung für ein operatives Vorgehen wird im Wesentlichen von der aktuellen Lebensqualität («health- related quality of life», HRQOL) sowie dem Ausmass der radiologischen Veränderungen, wie z.B. der koronaren und sagittalen Dysbalance, bestimmt. Verglichen mit anderen Faktoren, wie Geschlecht, Alter, BMI und Komorbiditäten, hat interessanterweise die sagittale Imbalance bei ausschliesslich konservativ behandelten Patienten weniger Einfluss auf die Lebensqualität als bei Patienten nach chirurgischer Intervention.<br /> Im Vergleich zur konservativen Therapie sind operative Verfahren naturgemäss mit einer höheren Komplikationsrate behaftet, können aber eine deutlichere Verbesserung als die nicht chirurgische Therapie erreichen. Bleibt diese Verbesserung 6 Monate nach einer Operation allerdings aus, liegen meist chirurgische Ursachen, wie z.B. eine Pseudarthrose oder junktionale Kyphose, zugrunde. Sie sind daher prädiktiv für eine Revisionsoperation. Diese wiederum hat einen erheblichen Einfluss auf die psychische Verfassung des Patienten und verschlechtert das Outcome nach 2 Jahren. Im Gegensatz dazu reduziert eine tiefe Wundinfektion das Ergebnis nur im 1. Jahr nach dem Eingriff; 2 Jahre postoperativ besteht kein Unterschied mehr im Vergleich zu Patienten, welche keinen Infekt aufwiesen. <br /> Dank moderner anästhesiologischer Verfahren ist heutzutage die Chirurgie nicht mehr mit einer Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten bei Patienten über 50 Jahre behaftet. Die chirurgischen Möglichkeiten bei spinalen Deformitäten sind auch im fortgeschrittenen Alter heutzutage vielfältig und reichen von der alleinigen Dekompression des Spinalkanals über eine kurzstreckige In-situ-Fusion bis zu einer langstreckigen Korrekturspondylodese mit oder ohne Osteotomien oder Fixation auf das Becken. Die Komplexität eines dorsalen Eingriffs kann mit dem Adult Deformity Surgery Complexity Index (ADSCI) quantifiziert werden und korreliert mit dem Komplikationsrisiko. Zur Beurteilung, inwieweit eine Operation einem älteren Patienten zugemutet werden kann, reicht das chronologische Alter alleine nicht aus. Zur genaueren Einschätzung hat sich das Konzept der Frailty (Gebrechlichkeit) in der Geriatrie etabliert. Frailty bezeichnet ein medizinisches Syndrom verschiedener Ursachen und Einflussfaktoren, welches durch eine Verminderung von Kraft, Ausdauer und physiologischen Funktionen gekennzeichnet ist und mit dem Risiko korreliert, eine Pflegebedürftigkeit zu entwickeln oder zu sterben. Für die Deformitätenchirurgie wurde in Anlehnung daran ein Adult Spinal Deformity Frailty Index (ASD-FI) entwickelt, welcher 36–42 Variablen enthält (Komorbiditäten, Alter, BMI, physiologische Funktionen und Fähigkeiten etc.) und ebenfalls mit der Komplikationsrate, Zahl der Reoperationen und Länge des Spitalaufenthaltes korreliert.<br /> Die Gruppe der über 70-jährigen Patienten ist von besonderer Bedeutung. Im Gegensatz zu einer monosegmentalen lumbalen Fusion, bei der trotz einer höheren Komplikationsrate kein Unterschied im klinischen Outcome zwischen Patienten unter 65 Jahren und der geriatrischen Population über 80 Jahre besteht, spielen ein fortgeschrittenes Alter und assoziierte Komorbiditäten bei Deformitätenkorrekturen für das Ergebnis eine entscheidende Rolle.</p> <h2>Outcome chirurgischer Behandlungsoptionen</h2> <p>Sind die konservativen Massnahmen ausgeschöpft, wird die Indikation für einen chirurgischen Eingriff unter Berücksichtigung der Komorbiditäten (und Frailty), der zur Verfügung stehenden operativen Verfahren und Patientenerwartungen überprüft.<br /> Grundsätzlich können die Eingriffe in drei Gruppen unterteilt werden: Dekompression, Dekompression mit kurzstreckiger Spondylodese und längerstreckige Aufrichtungsspondylodesen. Der kleinstmögliche chirurgische Eingriff mit der geringsten Komplexität gemäss ADSCI ist eine Dekompression des Spinalkanals bei einer – häufig die Deformität begleitenden – Spinalkanalstenose. Bei Abwesenheit einer klinisch signifikanten radiologischen Instabilität führt dieser Eingriff zu ähnlich guten Ergebnissen wie eine Dekompressionsoperation, welche mit einer kurzstreckigen Fusionsoperation kombiniert wird. <br /> Ist die Deformität ausgeprägter, dann können foraminale Einengungen auf der konkaven Seite und ein Laterogleiten zwischen zwei Endwirbeln entstehen. In diesen Fällen kann eine kurzstreckige Spondylodese (1–3 Segmente) eine symptomatische Instabilität oder die foraminalen Einengungen beheben, ohne dass eine massgebliche Korrektur der Deformität (In-situ-Fusionen) angestrebt werden muss (Abb. 2). Selten kann sich die Deformität der Wirbelsäule auch auf wenige Segmente beschränken, wie z.B. bei einer kurzstreckigen lumbosakralen Kyphose. Aufgrund der kaudalen Lokalisation führt dies häufig zu einer erheblichen sagittalen Dysbalance. In diesen Fällen ist die Deformität ebenfalls mit einer kurzstreckigen Spondylodese korrigierbar. Die langstreckigen Korrekturspondylodesen (mehr als 3 Segmente) hingegen sind schweren Deformitäten vorbehalten (Abb. 3), welche anderweitig nicht behandelt werden können (z.B. sog. degenerative «collapsing spine»). Diese Operationen beinhalten neben Dekompressionen auch Osteotomien unterschiedlichen Grades wie Gelenkosteotomien (SPO) oder partielle/komplette Wirbelresektionen (PSO/VCR). Vergleichende Studien zeigen, dass trotz grosser Unterschiede in der Invasivität (ADSCI) bei den oben ausgeführten Eingriffstypen das Outcome aus Sicht der Patienten interessanterweise gleich gut ist (Abb. 4).<sup>6</sup> Dies unterstreicht den Stellenwert der korrekten Indikationsstellung und zeigt, dass ein kleiner Eingriff genauso effizient sein kann wie eine langstreckige Spondylodese mit vollständiger Korrektur der Deformität und umgekehrt.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s27_abb2a+b_haschtmann.jpg" alt="" width="800" height="355" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s27_abb3a+b_haschtmann.jpg" alt="" width="800" height="335" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s28_abb4_haschtmann.jpg" alt="" width="550" height="310" /></p> <h2>Komplikationen</h2> <p>Risikofaktoren für das Auftreten einer Komplikation und damit ggf. für eine Revisionsoperation und auch ein schlechtes Outcome gehen häufig mit einem höheren Patientenalter einher. Neben internistischen Erkrankungen sind vor allem die Knochenqualität, das Ausmass der Deformität und die Anzahl der Voroperationen von Bedeutung. Wie bei allen chirurgischen Eingriffen spielen Infekte und Wundheilungsstörungen, postoperative kardiopulmonale Ereignisse (besonders die Lungen embolie) sowie gastrointestinale Probleme (Ileussymptomatik bei verlängerter Immobilität und Opiatbedarf) eine Rolle. Korrigierbare Risikofaktoren wie eine Anämie oder Osteoporose sollten womöglich präoperativ behandelt werden. Denn die generell verminderte Knochenqualität bei älteren Patienten und die Osteoporose im Speziellen führen zu einem verminderten Halt der Implantate (Schrauben, Cages), was Frühlockerungen und Frakturen und damit verbundenen Korrektur- und Stabilitätsverlust prädisponiert. Bei Osteoporose ist meist eine enge Zusammenarbeit mit den Osteologen und eine adäquate anabole Pharmakotherapie wie zum Beispiel mit Teri paratid zu empfehlen. Daneben kommen intraoperative Massnahmen, wie eine Zementaugmentation der Pedikelschrauben (Vertebroplastik) und angepasste Implantate für eine optimierte Lastverteilung, zum Einsatz. Häufig bedingt dies auch eine grössere Zahl von Implantaten und Verankerungspunkten, wie z.B. den Einschluss des Iliums oder eine prophylaktische Zementaugmentation des Nachbarwirbels. Wie bei anderen Knochen auch ist auch nach einer Spondylodese das Risiko für die Entwicklung einer ausbleibenden Knochenheilung (Pseudarthrose) nicht durch die Osteoporose, sondern durch metabolische Risikofaktoren wie Diabetes mellitus und Nikotinabusus sowie unzureichende operative Techniken (Stabilität) bedingt.<br /> Ab einem bestimmten Ausmass der Deformität kommt der Wiederherstellung einer an das Alter und die Bedürfnisse der Patienten angepassten sagittalen und frontalen Balance der operierten Wirbelsäule eine zentrale Bedeutung zu. Die Korrektur und Versteifung der Wirbelsäulenabschnitte bedingt allerdings eine vermehrte Belastung in den übrigen freien Segmenten der Wirbelsäule, vor allem wenn die Korrektur unzureichend erfolgte und dort kompensiert werden muss. Besonders die direkt an die Fusion angrenzenden Bereiche sind davon betroffen. Wir sprechen hier von «proximal junctional failure» (PJF) bzw. von «proximal junctional kyphosis» (PJK). Seltener wird dieses Phänomen auch distal der Spondylodese beobachtet (DJF und DJK). Während eine vermehrte Kyphose von über 10° bei der PJK häufig asymptomatisch ist, kommt es bei der PJF zu einer Fraktur und/oder Lockerung der Implantate und rasch progredienten Kyphose, welche in der Regel einen weiteren Eingriff notwendig macht. <br /> Das Auftreten von PJK und PJF nach Deformitätenkorrektur bei Erwachsenen wird in der Literatur mit einer Häufigkeit von 20–40 % angegeben, bei älteren Patienten sogar mit 50 % , und ist damit die häufigste und schwerwiegendste Komplikation in dieser Patientenpopulation (Abb. 5). Als Risikofaktoren für das Auftreten von PJK und PJF wurden unter anderem die Schwere der Deformität, das Ausmass der Korrektur, die Beckenanatomie («pelvic incidence») und die Stabilisation auf das Becken identifiziert. Als unabhängige patientenbedingte Risikofaktoren gelten auch hier ein erhöhter BMI, Steroidgebrauch, hohe ASA-Klasse, Nikotinkonsum, Osteoporose und ein Alter >55 Jahre sowie das weibliche Geschlecht. Da die junktionalen Komplikationen bei über 66 % der Patienten bereits in den ersten 3 Monaten und bei bis zu 80 % in den ersten 18 Monaten auftreten, ist eine frühe und engmaschige Kontrolle bei dieser Patientenpopulation unabdingbar. Die Entscheidung zur Revision wird sehr uneinheitlich behandelt und klare Kriterien fehlen bisher. Auch die Rolle der postoperativen Behandlung mit einem Korsett bis zum Abschluss der knöchernen Heilung ist nicht ausreichend untersucht. <br /> Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang noch, dass die vom Patienten häufig geäusserte Befürchtung, eine neurologische Komplikation wie Paraplegie oder Paraparese als Folge des operativen Eingriffes zu erleiden, in den allermeisten Fällen unbegründet ist. Dies liegt, neben den verbesserten Operationstechniken, nicht zuletzt an dem routinemässig eingesetzten multimodalen intraoperativen Neuromonitoring (MIOM).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Leading Opinions_Ortho_1904_Weblinks_lo_ortho_1904_s29_abb5_haschtmann.jpg" alt="" width="550" height="428" /></p></p>
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<p><strong>1</strong> https://www.un.org/en/development/desa/population/ publications/pdf/ageing/WPA2017_Report.pdf <strong>2</strong> https:// www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/?term=European % 20Spine %20Study%20Group%2C%20ESSG%5BCorporate % 20 Author %5D <strong>3</strong> https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/ ?term=International%20Spine%20Study%20Group % 5B Corporate%20Author % 5D<strong> 4</strong> Pellisé F et al.: Eur J Spine 2015; 24(1): 3-11 <strong>5</strong> Mannion AF et al.: Eur Spine J 2018; 27(4): 778-88 <strong>6</strong> Kleinstück FS et al.: Eur Spine J 2016; 25(8): 2649-56</p> <p><br /><strong>Weiterführende Literatur:</strong></p> <p><strong>·</strong> Daubs MD et al.: Evid Based Spine Care J 2012; 3: 27-32 <strong>·</strong> Diebo BG et al.: Lancet 2019; 394: 160-72<strong> ·</strong> FeketeTF et al.: Spine J 2016; 16: S12-8 <strong>·</strong> Karabulut CS et al.: Int J Spine Surg 2019; 13: 336-44 <strong>·</strong> Lau DA et al.: Spine 2014; 39: 2093-102<strong> ·</strong> Pellisé F et al.: Spine J 2018; 18: 216-25</p>
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