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Osteosynthese bei periprothetischer distaler Femurfraktur
Jatros
Autor:
Dr. Lukas Beller
Abteilung für Unfallchirurgie<br> Landeskrankenhaus Feldkirch<br> E-Mail: lukas.beller@vlkh.net
Autor:
Priv.-Doz. Dr. René El Attal
Abteilung für Unfallchirurgie<br> Landeskrankenhaus Feldkirch
30
Min. Lesezeit
11.07.2019
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<p class="article-intro">Die periprothetische distale Femurfraktur stellt den Operateur meist vor eine besondere Herausforderung: komplexe implantatnahe Frakturen bei meist geriatrischem Patientenkollektiv mit Multimorbidität, Osteoporose und eingeschränkten Reserven für die postoperative Nachbehandlung durch schlechtere Koordination und Muskelschwund. Nichtsdestotrotz können bei richtiger Implantatwahl und chirurgischer Technik zufriedenstellende klinische Ergebnisse erzielt werden, welche in diesem Artikel zusammengefasst werden.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die dislozierte periprothetische distale Femurfraktur ist Domäne der operativen Versorgung. Ausnahmen sind undislozierte Frakturen bei multimorbiden, immobilen Patienten. Bei metaphysärer Trümmerzone, osteoporotischem Knochen und gleichzeitig einliegender Hüftprothese ist die winkelstabile Plattenosteosynthese die Behandlung der Wahl und sollte möglichst gewebeschonend minimal invasiv implantiert werden.</li> <li>Einfache Frakturen deutlich proximal des Femurschildes können durch eine retrograde Marknagelosteosynthese versorgt werden, falls gewisse Implantatvoraussetzungen des Nagels und eine Kompatibilität mit der einliegenden Knieprothese gegeben sind.</li> <li>Das „Arbeitspferd“ in der Versorgung distaler periprothetischer Femurfrakturen ist die winkelstabile Plattenosteosynthese.</li> </ul> </div> <h2>Epidemiologie</h2> <p>Parallel zum steigenden Durchschnittsalter in der westlichen Welt steigt auch die Anzahl an implantierten Knieprothesen und deren Komplikationen. Periprothetische suprakondyläre Femurfrakturen treten mit einer Häufigkeit von 0,6%–5,5 % auf. Frauen sind 2,3-fach häufiger betroffen als Männer. Unfallmechanismus ist meist ein „Low energy“-Trauma mit Torsions- und/oder Kompressionskräften.</p> <h2>Risikofaktoren</h2> <p>Risikofaktoren für das Auftreten einer periprothetischen Fraktur sind Komponentenlockerung, achsgeführte Prothesen, knienahes Osteosynthesematerial, Osteolyse, Ankylose, vorangegangene Revision, Kortisontherapie, Osteoporose, rheumatoide Arthritis, hohes Alter, weibliches Geschlecht, neurologisches Defizit und Implantations„fehler“ wie ein anteriores femorales Notching.</p> <h2>Klassifikationen</h2> <p>Die am häufigsten verwendete Klassifikation nach Lewis & Rorabeck unterscheidet 3 Typen (Abb. 1): Typ I sind undislozierte Frakturen mit festsitzender femoraler Komponente. Bei Typ II liegt eine Dislokation von ≥5 mm oder eine Achsdeviation von ≥5° vor. Sie werden weiter unterteilt in IIa (simple) und IIb (mehrfragmentäre Frakturen). Bei Typ III besteht eine Lockerung/Instabilität der femoralen Komponente oder ein Inlayverschleiß. Fakler et al. haben 2017 eine neue Klassifikation vorgestellt, die neben der Frakturform auch die 4 Prothesentypen unterscheidet (Oberflächenersatz, posterior-stabilized, achsgeführte Prothese und distaler Femurersatz). Sie haben Simplizität und Reproduzierbarkeit gezeigt und lassen eine Ableitung für eine adäquate Therapieempfehlung zu.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Ortho_1904_Weblinks_jatros_ortho_1904_s26_abb1_beller.jpg" alt="" width="550" height="366" /></p> <h2>Therapie</h2> <p>Nach Frakturreposition der periprothetischen Fraktur gelten als akzeptable Grenzen: <5 mm Dislokation, <5–10° Achsdeviation, <10° Rotationsfehler und <1 cm femorale Verkürzung. Die häufigste Frakturform ist die dislozierte distale Femurfraktur mit stabiler Prothese (Rorabeck Typ II). Diese kann mit retrogradem Marknagel oder winkelstabiler Platte versorgt werden. Im folgenden Abschnitt werden Vor- und Nachteile der einzelnen Therapieoptionen besprochen.</p> <p><strong>Konservative Therapie</strong><br /> Als mögliche Behandlungsstrategien existieren Gips- oder Schienenruhigstellung und Tibiakopf-Extension. Letztere hat wegen Komplikationen wie Pin-Infektion, Paresen, Dekubitus, Fortschreiten der Osteoporose und Gelenksankylose kaum mehr einen Stellenwert.<br /> Als primäre Indikation für eine Gipsbehandlung gilt die undislozierte oder problemlos reponierbare simple Rorabeck-Typ- I-Fraktur. Eine Ruhigstellung für 4–6 Wochen wird benötigt. Regelmäßige Röntgenverlaufskontrollen sind empfohlen. Bei regelrechtem Verlauf werden nach Gipsabnahme ein Kniebrace und ein langsamer Aufbau der Bewegungstherapie empfohlen. Bei sekundärer Dislokation muss die Behandlungsstrategie zugunsten eines operativen Verfahrens aufgegeben werden. Vorteile der konservativen Behandlung sind das fehlende Narkose-, Blutungs- und Infektionsrisiko. Die Erfolgsrate bei konservativer Behandlung einer undislozierten Fraktur liegt bei 83 % .<br /> Bei Dislokation oder vorhandener Osteoporose ist eine gedeckte Reposition meist nicht von Erfolg gekrönt oder kann nicht gehalten werden. Außerdem ist die Pseudarthroserate in diesen Fällen sehr hoch. In einer Studie von Moran et al. kam es bei diesen dislozierten Frakturen unter konservativer Behandlung bei allen 9 Patienten zur Entwicklung einer Pseudarthrose. Somit muss die Indikation für konservative Behandlung einer Rorabeck-Typ-IIoder -III-Fraktur sehr eng gestellt werden.</p> <p><strong>Plattenosteosynthese</strong><br /> Die winkelstabile Plattenosteosynthese ist der Goldstandard zur Behandlung von Rorabeck-Typ-II-Frakturen. Gegenüber konventionellen Platten bieten winkelstabile eine deutlich höhere primäre Stabilität insbesondere bei osteoporotischem Knochen sowie gelenksnahen oder mehrfragmentären Frakturen. Der Standardzugang wird von lateral durchgeführt. Liegt eine Trümmerzone im Bereich des medialen Femurkondylus vor, kann eine Doppelplattenosteosynthese (medial und lateral) in Erwägung gezogen werden, um ein sekundäres varisches Abkippen zu vermeiden.<br /> Nachteil der Plattenosteosynthese ist ein großer chirurgischer Zugang mit entsprechendem Weichteilschaden und Blutungsrisiko. Daher wurden LISS-Platten („less invasive stabilisation system“) entwickelt, die mittels minimal invasiven Zugangs eingeschoben werden können. Dadurch wird der Periostschaden reduziert und die für die Heilung wichtige periostale Durchblutung wird weitgehend erhalten. Es kann so eine deutlich niedrigere Komplikationsrate für Infekt, Blutverlust und Pseudarthrose erzielt werden. Kregor et al. berichten eine Heilungsrate von 95 % (36 von 38 Patienten) ohne weitere Komplikationen (Versorgungsbeispiel siehe Abb. 2 u. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2019_Jatros_Ortho_1904_Weblinks_jatros_ortho_1904_s27_abb2+3_beller.jpg" alt="" width="550" height="749" /></p> <p><strong>Retrograde Marknagelosteosynthese</strong><br /> Verglichen mit antegraden Marknägeln, die distal meist nur 2 Schrauben zur Stabilisierung bieten, können bei retrograden Implantaten gelenksnah mehr Schrauben implantiert werden. Als Folge der Versorgung in Kniebeugung und durch einen weit dorsalen Eintrittspunkt kann es zu einem Hyperextendieren der Femurkomponente kommen. Pelfort et al. haben jedoch gezeigt, dass dies die Prothesenstabilität, knöcherne Heilung und Gelenksfunktion nicht signifikant beeinflusst. Als Kontraindikation gelten Patella baja, Gelenkskontraktur, liegender ipsilateraler Femurnagel oder Hüftprothese, Komponentenlockerung, enger Markraum sowie mehrfragmentäre oder sehr weit distale Frakturen. Limitierend kann die implantierte Knieprothese selbst sein, da gewisse Implantate eine sehr enge oder dorsale Notch aufweisen. Dies kann eine retrograde Marknagelosteosynthese schwierig oder gar unmöglich machen.<br /> Die Stabilität des Marknagels für geriatrische Frakturen im Bereich des distalen Femurs ist verglichen zur Plattenosteosynthese geringer, da ein schlankes Implantat in einer weiten Metaphyse mit wenigen Verankerungspunkten zu liegen kommt. Häufig müssen zusätzlich Pollerschrauben verwendet werden, um die Stabilität zu erhöhen oder die Reposition zu halten.<br /> Verglichen mit der Plattenosteosynthese kommt es zu weniger Weichteilschaden und Blutungen. Außerdem werden die periostalen Blutgefäße nicht verletzt und das Frakturhämatom wird nicht eröffnet. Ein weiterer theoretischer Vorteil ist, dass Patienten sofort mit Bewegungstherapie und Belastung beginnen können. In einigen retrospektiven Studien konnte ein gutes funktionelles Ergebnis mit wenig Komplikationen und >90 % Heilungsrate gezeigt werden.</p> <p><strong>Knieprothesenrevision</strong><br /> Die Indikation für die Implantation einer Revisionsprothese besteht bei Prothesenlockerung unabhängig von der Frakturform, bei besonders distalen Frakturen sowie bei ausgedehnter distaler Trümmerfraktur. Bereits im Vorfeld sollten alle Patienten mit periprothetischer Femurfraktur über die Möglichkeit einer Revisionsprothese aufgeklärt werden, falls sich intraoperativ eine Komponentenlockerung herausstellt. Abstriche und Gewebeproben sind hierbei obligat, um einen Infekt auszuschließen.</p> <h2>Indikationsstellung: Platten- oder Marknagelosteosynthese?</h2> <p>Die Entscheidung, ob besser eine winkelstabile Plattenosteosynthese oder eine retrograde Marknagelosteosynthese durchgeführt werden soll, ist oft schwierig und viele unterschiedliche Faktoren müssen hierbei berücksichtigt werden. Biomechanische Studien konnten weder dem einen noch dem anderen Verfahren eine Überlegenheit nachweisen. In-vivo-Studien sind in ihrer Aussagekraft ebenso wenig richtungsweisend aufgrund geringer Fallzahlen, fehlender Randomisierung und eingeschränkter Vergleichbarkeit (Frakturform, Knochenqualität etc.). Einige Studien zeigen keinen Unterschied bezüglich Heilungs- und Komplikationsrate. Andere Studien wiederum favorisieren eine der beiden Methoden. Folgende Faktoren sind entscheidend und können bei der richtigen Indikationsstellung helfen:</p> <p><strong>Frakturform</strong><br /> Frakturen proximal des Femurschildes können in der Regel mit Marknägeln versorgt werden. Umso weiter distal die Fraktur ausläuft, desto eher sollte eine winkelstabile Plattenosteosynthese in Erwägung gezogen werden. Diese bietet mehr Fixationsmöglichkeiten und Stabilität insbesondere bei schlechter Knochenqualität. Längsstabile Querfrakturen sind üblicherweise gut intramedullär zu schienen. Langstreckige und mehrfragmentäre Frakturen sollten eher mit winkelstabilen Platten überbrückt werden, um Länge, Achse und Rotation wiederherzustellen.</p> <p><strong>Patientenfaktoren</strong><br /> Die Marknagelosteosynthese bietet den Vorteil, dass die Lastübertragung besser verteilt wird und die Patienten daher früher belasten dürfen. Dies reduziert sämtliche potenziell lebensbedrohliche Komplikationen, die mit längerer Immobilisation verbunden sind. Als Voraussetzung besteht eine präoperativ erhaltene Knie-ROM zum Zeitpunkt vor der Fraktur, um einen adäquaten Eintrittspunkt für den Nagel zu erzielen.</p> <p><strong>Implantatgrenzen</strong><br /> Eine genaue Beurteilung und Identifikation der implantierten Prothese sind unerlässlich. Eine ipsilaterale Hüftprothese oder femorale „Closed box“-Knieprothese sind Kontraindikationen für eine Marknagelosteosynthese. Gewisse Knieprothesen mit schmaler Box oder posterior gelegener Notch machen eine intramedulläre Stabilisierung schwierig bis unmöglich, z. B.: Nexgen CR, Genesis II CR, TC Plus CR.</p> <p><strong>Technische Grenzen und Empfehlungen</strong><br /> Genaue präoperative Planung und gute Technik helfen zum Erfolg. Wie bereits im letzten Abschnitt erwähnt, ist die Kenntnis des Knieprothesenimplantats und dessen Größe äußerst wichtig, sollte eine Marknagelosteosynthese in Erwägung gezogen werden. Details über die Notch, Größe der Aussparung sowie Marknageldurchmesser und die posteriore Grenze des Eintrittspunkts können über den Hersteller der Implantate bezogen werden. Als Nachschlagewerk möglicher Kompatibilitäten dient auch ein Reviewartikel von Thompson et al. aus dem „Journal of Arthroplasty“ von 2014 mit Fokus auf interkondyläre Aussparung und sagittale Position der Notch. Intraoperativ muss der Eintrittspunkt exakt eingestellt werden, um eine Valgus- oder Extensionsdeformität zu vermeiden. Hierfür sind eine ausreichend große Arthrotomie und eine Bildwandlereinstellung in zwei Ebenen äußerst wichtig.<br /> Wenn möglich empfiehlt sich ein retrograder Nagel mit 4–5° anteriorer Krümmung, um einen möglichst posterioren Eintrittspunkt verwenden zu können. Außerdem sollte das Implantat mehrere Optionen für distale Schraubenpositionierungen aufweisen. Die Nagellänge sollte bis zum Trochanter minor reichen und proximal statisch verriegelt werden. Durch festen Sitz im Isthmus des Femurkanals ist das Implantat rigider fixiert und Seit-zu- Seit-Bewegungen (Scheibenwischereffekt) wie bei zu kurzem Nagel werden verhindert.<br /> Eine Revisionsprothese sollte als Plan B vorhanden sein, falls anhand der Bilddiagnostik ein fester Prothesensitz nicht sicher gegeben ist. Bei Marknagelosteosynthesen wird ein kompatibles Ersatzinlay der Knieprothese unbedingt benötigt, da dieses häufig entweder vorgeschädigt ist oder bei der Operation beschädigt wird.<br /> Ist eine Hüftprothese auf derselben Seite implantiert, wird eine Überbrückung beider Implantate empfohlen, um eine Schwachstelle mit deutlich erhöhtem Refrakturrisiko zwischen zwei rigiden Metallkomponenten zu vermeiden.</p></p>
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