
Kleine Chirurgie mit großer Wirkung beim diabetischen Fußsyndrom
Autor:
Dr. Gerald Engels
Department Diabetes-Fußchirurgie Klinik für Diabetologie/Endokrinologie
St.-Vinzenz-Hospital, Köln
E-Mail: gerald.engels@cid-direct.de
Vielen Dank für Ihr Interesse!
Einige Inhalte sind aufgrund rechtlicher Bestimmungen nur für registrierte Nutzer bzw. medizinisches Fachpersonal zugänglich.
Sie sind bereits registriert?
Loggen Sie sich mit Ihrem Universimed-Benutzerkonto ein:
Sie sind noch nicht registriert?
Registrieren Sie sich jetzt kostenlos auf universimed.com und erhalten Sie Zugang zu allen Artikeln, bewerten Sie Inhalte und speichern Sie interessante Beiträge in Ihrem persönlichen Bereich
zum späteren Lesen. Ihre Registrierung ist für alle Unversimed-Portale gültig. (inkl. allgemeineplus.at & med-Diplom.at)
Die weitgehend uneingeschränkte Mobilität der an einem diabetischen Fußsyndrom erkrankten Menschen sollte bei der Therapie im Vordergrund stehen. Bei mittleren Wundschlusszeiten von etwa 180 Tagen und einer Reaktivierung von ca. 40% im Folgejahr nach Wundschluss kann die Immobilisation für den Zeitraum der Wundbehandlung keine sinnvolle Therapiestrategie sein. Ein möglichst „minimalistisches“ operatives Konzept kann bei den Faktoren Wundschlusszeit und Reaktivierungsrate oftmals entscheidende Vorteile bringen.
Keypoints
-
Das Entitätenkonzept erleichtert dem weniger Erfahrenen die Auswahl geeigneter konservativer oder operativer Strategien.
-
Mit der Verordnung eines abnehmbaren Hilfsmittels nimmt man das Ablegen in Kauf!
-
Im Vordergrund steht die alltagstaugliche Mobilität der Betroffenen.
-
Operative Maßnahmen können durch dauerhafte Verbesserung der Pathobiomechanik den schnelleren Wundschluss ermöglichen oder Rezidive verhindern.
-
Die Auswahl operativer Strategien sollte das Alter und den Mobilitätsgrad berücksichtigen.
Grundlagen der Erkrankung
Das zentrale Merkmal bei Menschen mit einem diabetischen Fußsyndrom (DFS) ist die zumindest reduzierte, oftmals aber komplett aufgehobene schützende Schmerzwahrnehmung bei Anfangsschäden („loss of protective sensation“, LOPS) im Rahmen der peripheren Polyneuropathie. Dies ermöglicht die fortgesetzte Mikrotraumatisierung einer Wundregion und führt zu fehlendem Wundschluss, inflammatorischen Prozessen, zunehmender Gewebedestruktion und Infektionen. Das Ausmaß der Achtlosigkeit, das Betroffene an den Tag legen, ist für Unerfahrene im Umgang mit Menschen mit reduziertem Empfinden verblüffend. Daher ist der entscheidende Schritt während der Festlegung einer Behandlungsstrategie zuerst einmal die diagnostische Abklärung einer sensiblen Neuropathie. Abhängig davon wird beginnend mit der Indikationsstellung zu einem chirurgischen Verfahren auch die erforderliche Nachbehandlung eine angemessene Berücksichtigung finden müssen. Der Textbaustein „Durchblutung, Motorik, Sensibilität intakt“ sollte am besten verschwinden.
Grundlagen der Therapie
Menschen mit LOPS benötigen häufig eine Entlastung oder Ruhigstellung der Wunden oder der operierten Region – damit ist aber nicht Immobilisation gemeint. Sinnvoll ist der postoperative Erhalt einer alltagstauglichen Mobilität. Die tägliche Gehstrecke darf postoperativ temporär reduziert werden. Die konservativen Entlastungsmaßnahmen benötigen die konsequente Nutzung des eingesetzten Hilfsmittels. Da dies erfahrungsgemäß meist nicht funktioniert, muss dieses Hilfsmittel bestenfalls nicht abnehmbar sein. Hierfür steht ein ganzer Blumenstrauß von Möglichkeiten vom „total contact cast“ (TCC) bis zur lokalen Entlastung mittels aufgeklebten Filzes zur Verfügung.
Operative Strategien sollten zumindest dann in Betracht gezogen werden, wenn eine Amputation im Raum steht. Es gibt meist chirurgische Alternativen zu Amputationen und die Angst vor Komplikationen ist nicht gerechtfertigt, da die wesentliche Komplikation meist genau diese Amputation ist.
Vor jeder Indikationsstellung für ein operatives Verfahren ist die Untersuchung und ggf. zeitnahe Verbesserung der arteriellen Perfusion der Extremität obligat. Eine relevante und nicht revaskularisierbare Gefäßerkrankung rechtfertigt eine Amputation gegenüber einer inneren Entlastung in minimalinvasiver Technik allerdings nicht, da der zur Wundheilung erforderliche zusätzliche Blutbedarf nach einer Amputation größer sein dürfte.
Das Entitätenkonzept
Im Rahmen einer Analyse der Behandlungsdaten von Menschen mit DFS (DFS-Register) konnten typische wiederkehrende Verletzungsmuster erkannt werden, deren Entstehung entsprechenden pathobiomechanischen Ursachen, also „Auslösern“, zugeordnet wurden. Das darauf basierende Entitätenkonzept beschreibt für jede einzelne Entität identische Merkmale, konservative und operative Behandlungsansätze und Prognosen. Für alle Behandlungsfälle waren die Behandlungsabläufe, der Zeitraum bis zum Wundschluss sowie Risiken für Komplikationen, z.B. Amputationen, Notwendigkeit einer Revaskularisation und die Häufigkeit von Rezidiven, erfasst worden.
Wer die „Bedingungen“ des DFS (Polyneuropathie, periphere arterielle Durchblutungsstörung usw.) und die Entität der entsprechenden Läsion kennt, kann nun einfach feststellen, welche Strategien sich für Betroffene mit diesem Verletzungsmuster bewährt haben. Daraus lässt sich aber auch ableiten, mit welchen Risiken im Zusammenhang mit der Behandlung eines diabetischen Fußulkus (DFU) gerechnet werden muss.
Pathobiomechanik und „minimalistische“ Operationen am Beispiel der Zehenläsionen
57,8% der dokumentierten Läsionen fanden sich an den Zehen und 28,5% im Bereich der plantaren Mittelfußköpfe. Diese Regionen lassen sich durch operative Strategien sehr gut entlasten. Das Paradebeispiel für eine effektive innere (operative) Entlastung ist die Tenotomie der langen Beugesehne bei Zehenkuppenläsionen der Krallenzehe.
Grund für die Zehenläsionen ist die Dysbalance intrinsischer und extrinsischer Muskulatur. Während die extrinsische Muskulatur im Rahmen der distal betonten motorischen Neuropathie noch korrekt funktioniert, sind die kurzen Fußmuskeln mit Wirkung auf die Zehengelenke (intrinsische Muskulatur) weitgehend atrophiert und die Ausrichtung der Zehen wird besonders bei der Beugung nicht mehr korrekt unterstützt. Eine andauernde Hyperextension im Grundgelenk verlagert die Zugwirkung der Extensoren, sodass sie ihre Streckfunktion verlieren und zu zusätzlichen Beugern der mittleren und distalen Phalangen werden. Dies führt im Rahmen der Zick-Zack-Fehlstellung zur Plantarisierung der apikalen Zehenregion, die jedoch für diese Druckbelastung nicht ausgelegt ist. Es kommt zu den typischen Zehenkuppenläsionen. Sie erreichen den Knochen leicht und führen überdurchschnittlich häufig zu Amputationen („Die Zehe brauchen Sie ja eigentlich nicht.“).
Auch im Bereich des dorsalen proximalen Interphalangeal(PIP)-Gelenkes oder des Interphalangeal(IP)-Gelenkes der Großzehe kann es zu Läsionen, oft durch einen Schuhkonflikt kommen. Durch die Überstreckung im Zehengrundgelenk kommt es zu einer Destruktion der plantaren Platte, zur Verschiebung des plantaren Fettpolsters nach distal und zu einer gefährlichen Überlastung mit plantaren Läsionen über den Mittelfußköpfen.
Im Rahmen der Untersuchung kann eine bereits in Ruhe sichtbare fixierte von einer funktionellen, also in Belastung auftretenden Plantarisierung unterschieden werden. Die Operationsverfahren erreichen die Aufhebung dieser Effekte und entlasten die Wundregion sofort, auch ohne externe Hilfsmittel und mit minimaler Invasivität.
Tenotomie der Flexor-digitorum-longus(FDL)- oder der Flexor-hallucis-longus(FHL)-Sehne
Die perkutane Tenotomie der langen Beugesehne ist bei flexibler Plantarisierung der Zehenapex an allen Zehen eine effektive, zuletzt sogar in einer randomisierten kontrollierten Multicenterstudie1 gut untersuchte, in der Regel einfache und unkomplizierte Maßnahme, die das Problem sofort und dauerhaft beendet und daher als Notfallmaßnahme indiziert werden kann. Der Eingriff erfolgt in einer Leitungsanästhesie und grundsätzlich ohne Blutsperre.
Operationstechnik
Die Kanüle wird am Luer-Lock-Ende so umgebogen, dass der Operateur weiß, in welcher Ebene sich die scharfe Seite der geschliffenen Spitze befindet. Mit dem Mittelfinger der Hand, welche die Zehe hält, wird diese von dorsal im Bereich des PIP/IP-Gelenkes nach plantar gedrückt, während der Daumen das Endglied von plantar aus im DIP/IP-Gelenk überstreckt (Abb. 1). Dadurch wird (bei Aufforderung an den Patienten zur Beugung) erreicht, dass sich die lange Beugesehne unter die plantare Zehenhaut verlagert. Nun wird die Kanüle mittig plantar etwas proximal der Beugefalte des distalen Gelenkes eingestochen. Durch eine kurzfristige Lockerung des Daumendruckes kann die Spitze der Kanüle zwischen Haut und Sehne positioniert und anschließend die Sehne vorsichtig durch Bewegung der Kanülenspitze in der Horizontalebene tenotomiert werden. Hierbei wird der Daumendruck auf das Endglied langsam wieder gesteigert und damit die Sehne gegen die Kanülenspitze gespannt. Eine Fixierung der Fehlstellung, für die nur sehr selten eine knöcherne Ankylose verantwortlich ist, kann durch ein perkutanes Release der plantaren Kapselstrukturen des IP- oder PIP-Gelenkes über den gleichen Zugang durch Umpositionierung der Kanüle leicht behoben werden. Abschließend wird der Patient aufgefordert, die Zehen zu beugen. Durch Gegendruck mit dem Daumen lässt sich der Erfolg der Maßnahme überprüfen.
Abb. 1: Tenotomie der FDL- oder FHL-Sehne, Operationstechnik: Die Kanüle wird am Luer-Lock-Ende so umgebogen, dass der Operateur weiß, in welcher Ebene sich die scharfe Seite der geschliffenen Spitze befindet. Mit dem Mittelfinger der Hand, welche die Zehe hält, wird diese von dorsal im Bereich des PIP-/IP-Gelenkes nach plantar gedrückt, während der Daumen das Endglied von plantar aus im DIP-/IP-Gelenk überstreckt
Postoperative Verbandtechnik und Entlastung
Abb. 2: Postoperative Verbandtechnik nach Tenotomie der FDL- oder FHL-Sehne (aus Engels 2023)
Nach kurzem Druck auf die Punktionsstelle wird die anfängliche Blutung der Hautgefäße rasch sistieren. Der Verband erfolgt mit einer aufgefalteten Kompresse (10×10cm), die aufgeklappt (10×20cm) in Längsrichtung gedrittelt gefaltet wird. Als Schlaufe zügelt sie die operierte Zehe mit den Nachbarzehen nach dorsal und wird am Fußrücken mit einem elastischen Pflaster fixiert (Abb. 2a). Zusätzlich wird eine weitere Kompresse aufgerollt, in die Beugefalten der Zehen eingelegt (Abb. 2b) und gleichfalls mit einem Pflaster fixiert (Abb. 2c). Diese Verbandtechnik sollte für etwa eine Woche angelegt werden. Cave: Auf keinen Fall dürfen zirkuläre Verbände angelegt werden!) Eine Kontrolle sollte am ersten oder zweiten postoperativen Tag und nach einer Woche stattfinden.
Die postoperative Entlastung erfolgt in der Regel im Verbandschuh oder im ausreichend weiten Schutzschuh bis zum Wundschluss. Eine Thromboseprophylaxe ist bei Vollbelastung nicht erforderlich. Der Patient erhält für die Zeit des Verbandes ein Duschverbot, um Infektionsrisiken durch Mazeration im Wundgebiet durch feuchte Verbände zu reduzieren.
Abb. 3: Falldarstellung: a) klinischer Befund bei Vorstellung, die Läsion besteht seit 2 Tagen nach einer längeren Wanderung. b, c) Der „Kralltest“ simuliert die Belastungssituation. d, e) postoperativ, der Patient wurde sofort bei ausreichender arterieller Durchblutung (Notfallindikation) operiert (Tenotomie der FHL-Sehne und der FDL-Sehnen D2–5 bei hohem Risiko für Transferläsionen der Zehen 1 und 3–5 nach ausschließlicher Tenotomie der FDL-Sehne D2). f) 13. postoperativer Tag, die postoperative Entlastung erfolgte in einer Sandale mit weichem Fußbett (aus Engels 2023)
Knöcherne Umstellungen
Abb. 4: Schematische Darstellung einer offenen dorsalen Keilosteotomie, vor (a) und nach (b) Schluss der Osteotomie; c) DMMO (distale minimalinvasive Metatarsalosteotomie)
Ein Beispiel für die Effektivität entlastender Operationen ist die dorsalisierende Umstellung eines tiefstehenden Mittelfußkopfes der Strahlen 2–4, durch den die Entstehung einer plantaren Wunde verursacht wurde. Solange die Wunde keinen Kontakt zum Grundgelenk der Zehe hat, kann durch eine offene dorsale Keilosteotomie eine Anhebung und leichte Verkürzung des distalen Metatarsale eine ausreichende Druckentlastung und damit ein Wundschluss erreicht werden (Abb. 4a,b). Alterativ kommen in spezialisierten Einrichtungen minimalinvasive Verfahren zum Einsatz, z.B. die distale minimalinvasive Metatarsalosteotomie (DMMO, Abb. 4c).
Knochenchirurgische und sehnenchirurgische Verfahren können bedarfsweise auch kombiniert eingesetzt werden (Abb. 5). Die Operation, die in Abbildung5 dargestellt ist, hatte eine Tenotomie der Strecksehnen des 2. bis 5. Strahles, eine Tenotomie der FDL-Sehne, ein Kapselrelease des plantaren PIP-Gelenkes D2, ein dorsales Release des Grundgelenkes D2 und eine DMMO der Metatarsale 2 und 3 kombiniert. Die postoperative Entlastung fand im Verbandschuh mit lokaler Druckentlastung mittels Filz statt. Der Patient wurde aufgefordert, die tägliche Gehstrecke für die ersten 3 Wochen auf 500Meter (1000Schritte) zu beschränken. Die nächste Röntgenkontrolle wurde für den Ablauf der 6. postoperativen Woche empfohlen.
Abb. 5: Beispiel für eine DMMO des 2. und 3. Metatarsale: Nach einer transmetatarsalen Amputation der Großzehe bei einem 81-jährigen Patienten mit reduziertem Mobilitätsgrad ist es zu einer typischen Transferläsion im Bereich des Metatarsale-2-Kopfes gekommen. a–c) präoperativer klinischer Befund. d) präoperative Röntgenaufnahme (Metatarsalköpfe zur Verdeutlichung weiß markiert). e) intraoperative Durchleuchtung zur Lokalisierung der korrekten Position der minimalinvasiven Osteotomie. f) postoperativer Verband. g, h) klinischer Befund am 2. postoperativen Tag; die Läsion ist bereits um mehr als 50 % verkleinert, die Plantarisierung der Mittelfußköpfe ist deutlich reduziert und die Streckung der Zehen etwas verbessert. i) postoperative Röntgenaufnahme; die Osteotomien sind mit Pfeilen markiert, die präoperativ deutliche Überlänge der Metatarsalia 2 und 3 sind in ein normales Vorfuß-Alignement überführt (weiße Markierungen der Metatarsalköpfe zur Verdeutlichung) (aus Engels 2023)
Literaturauswahl:
● Andersen AJ et al.: Flexor tendon tenotomy treatment of the diabetic foot: a multicenter randomized controlled trial. Diabetes Care 2022; 45(11): 2492-500 ● Engels G et al.: A concept of plantarization for toe correction in diabetic foot syndrome. Oper Orthop Traumatol 2016; 28(5): 323-34 ● Engels G: Fußchirurgie bei Diabetischem Fußsyndrom (DFS) – ausgewählte Konzepte der inneren Entlastung. WUNDmanagement 2023; 17(6): 334-41 ● Hochlenert D et al.: Das Diabetische Fußsyndrom – Über die Entität zur Therapie, 2. Auflage, Springer Nature 2022 ● van Netten JJ et al.: The effect of flexor tenotomy on healing and prevention of neuropathic diabetic foot ulcers on the distal end of the toe. J Foot Ankle Res 2013; 6(1): 3