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Expertenkomitee bescheinigt kaum Nutzen: Wie geht man jetzt in der Praxis vor?
Leading Opinions
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08.03.2018
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<p class="article-intro">Nach unzähligen Studien und Reviews hat eine kanadische Expertengruppe jetzt ein Fazit gezogen: Es gebe gute Evidenz, dass Kniearthroskopien bei degeneriertem Knie den meisten Patienten keinen oder nur einen minimalen Nutzen bringen. Bedeutet dies das Aus für die Arthroskopie? Wir haben PD Dr. med. Sandro Fucentese gefragt, Leitender Kniechirurg an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Kniearthroskopien zählen zu den häufigsten Eingriffen: Pro Jahr werden weltweit mehr als 2 Millionen Arthroskopien durchgeführt.<sup>1–4</sup> Bei der grossen Menge könnte man meinen, die Prozedur habe Sinn. Dem sei aber nicht so, kritisierten Teppo Järvinen von der Universität Helsinki und Gordon Guyatt von der McMaster-Universität in Hamilton, Kanada, schon im Juli 2016.<sup>5</sup> «Eine sehr fragwürdige Praxis, die noch nicht einmal mit Evidenz mittlerer Qualität unterstützt wird», so das Fazit der Professoren. Bereits 2002 liess eine randomisierte Studie mit 180 Arthrosepatienten am Nutzen einer Arthroskopie zweifeln: Die operierten Patienten hatten weder weniger Schmerzen noch zeigten sie eine bessere Funktionalität als Patienten mit Placebooperation.<sup>6</sup> Seitdem wurden einige gut gemachte Studien durchgeführt, die in zwei Übersichtsarbeiten und einer Metaanalyse zusammengefasst wurden.<sup>7, 8</sup> Eingeschlossen waren randomisierte kontrollierte Studien, die den Nutzen einer Arthroskopie untersucht hatten und in denen bei Patienten mit oder ohne radiografische Zeichen einer Arthrose eine partielle Meniskektomie, ein Débridement oder beides durchgeführt worden waren.</p> <h2>Schwierig, einen langjährigen Glauben aufzugeben</h2> <p>Die Aussage auch hier: Kniearthroskopien nützen den meisten Patienten mit Knieproblemen so gut wie nichts. Der «letzte Nagel zu einem gut verschlossenen Sarg» (also zur Evidenz) sollte gemäss Prof. Järvinen und Prof. Gyatt dann die Studie eines Forscherteams aus Skandinavien sein:<sup>9</sup> 140 Erwachsene mit degenerativem medialem Meniskusriss wurden randomisiert entweder mit einer Übungstherapie unter Aufsicht behandelt oder mittels Arthroskopie und partieller Meniskusresektion. Nach 12 Wochen unterschieden sich die beiden Gruppen nicht hinsichtlich Schmerzen und anderer Beschwerden, Funktionalität und knieassoziierter Lebensqualität (Abb. 1), aber die Patienten der Trainingsgruppe hatten – nicht erstaunlich – kräftigere Muskeln am Oberschenkel. Für mittelalte Patienten mit degenerativen Meniskuserkrankungen und ohne Zeichen einer Arthrose, so schlossen die Autoren, sei Training die Therapie der Wahl.<br /> Wie konnte es zu dieser weitverbreiteten Praxis kommen, obwohl die Evidenz dagegenspricht? Es begann bei jungen Patienten, die nach einer Verletzung ihr Knie nicht mehr richtig strecken konnten, weil sich ein gerissener Meniskusteil zwischen die Gelenkflächen eingeklemmt hatte. In einer offenen Operation schnitten Chirurgen den Meniskus zurecht. Als dann die Arthroskopie aufkam, liess sich das endoskopisch noch viel einfacher machen. Doch obwohl es wenig Rationale für das Vorgehen gab, wurde die Indikation von jungen Patienten mit «eingeklemmtem » Meniskus auf Patienten aller Altersgruppen mit Knieschmerzen und Meniskusrissen jeglicher Art ausgedehnt, obwohl die Framingham- Osteoarthritisstudie zeigte, dass in der MRT sichtbare Risse schlecht mit der Klinik korrelieren. <sup>10</sup> Doch die vorliegende solide Evidenz wurde ignoriert. Hierfür gäbe es viele Gründe, mutmassen Järvinen und Guyatt, wie etwa finanzielle Anreize und die Schwierigkeit, einen langjährigen Glauben aufzugeben. Orthopäden argumentieren, die Studien reflektierten nicht die «wirkliche Welt», sie seien zu «mechanistisch» statt «pragmatisch » oder «praktisch». Allein in den USA werden für Arthroskopien bei degenerativen Knieproblemen pro Jahr mehr als 3 Milliarden Dollar ausgegeben.<sup>5</sup> In einer Welt zunehmenden Bewusstseins um begrenzte Ressourcen – so das Fazit des kritischen Professoren-Duos – solle man Orthopäden, Spitalverwaltungen, Gesundheitsdienstleistern und Geldgebern nicht erlauben, die Ergebnisse gründlich durchgeführter Studien zu ignorieren und weitverbreitete Prozeduren weiterhin zu erlauben, für die es nie überzeugende Evidenz gab.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Ortho_1801_Weblinks_s12_abb1.jpg" alt="" width="1089" height="781" /></p> <h2>Experten sprechen sich klar gegen Arthroskopie aus</h2> <p>Ein internationales Wissenschaftler- Team um Reed Siemieniuk von der McMaster- Universität in Hamilton hat daraufhin eine klinische Praxisleitlinie im «British Medical Journal» veröffentlicht.<sup>11</sup> Die Gruppe spricht sich klar gegen eine Arthroskopie bei fast allen Patienten mit degenerativer Knieerkrankung aus. Es sei unwahrscheinlich, dass weitere Studien diese Empfehlung ändern würden. Die Empfehlung bezieht sich auf alle Patienten mit Kniearthrose, nachgewiesen in der Bildgebung oder nicht, mit mechanischen Symptomen oder einem plötzlichen Beginn der Beschwerden. Die Expertengruppe gründete ihre Empfehlung auf zwei in der Zwischenzeit erschienene Übersichtsarbeiten. <sup>12, 13</sup> Die eine um Romina Brignardello- Petersen von der McMaster-Universität in Hamilton schloss 13 randomisierte klinische Studien (RCTs) mit 1668 Patienten und 12 Beobachtungsstudien mit mehr als 1,8 Millionen Patienten ein.<sup>12</sup> Die RCTs umfassten Studien, die Arthroskopie mit jeglichem Débridement und/oder partieller Meniskektomie mit jeglicher Art von konservativer Behandlung verglichen hatten, also Übungstherapien, Infiltrationen, Medikamenten oder Sham-Chirurgie. Behandelt wurden Patienten mit symptomatischer degenerativer Knieerkrankung, definiert als persistierende Knieschmerzen, die die Lebensqualität des Patienten beeinträchtigen und nicht auf eine konservative Therapie ansprechen. Patienten mit oder ohne Gonarthrose aller Altersgruppen waren eingeschlossen. Ausgeschlossen waren Studien mit Patienten mit akutem Trauma und solche mit weniger als 10 Patienten. Die Ergebnisse: Die Arthroskopie führte kurzfristig (bis zu 3 Monaten) zu einer sehr geringen Schmerzreduktion und zu einer sehr geringen Verbesserung der Funktion, aber im Verlauf von 2 Jahren waren kaum eine oder keine Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung zu verzeichnen.<sup>12</sup><br /> Ein weiteres Forscherteam der Universität Hamilton kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass eine Kniearthroskopie langfristig nicht zu einer Verbesserung von Schmerz oder Funktion führt. Bei vielen Patienten würden sich Schmerz und Funktion auch ohne Arthroskopie bessern. Bei weniger als 15 % der Teilnehmer hatte die Arthroskopie 3 Monate nach dem Eingriff zu kleinen oder sehr kleinen Verbesserungen geführt, aber nach einem Jahr war dieser Benefit nicht mehr zu verzeichnen.<sup>13</sup><br /> Abgesehen von der Belastung durch eine Arthroskopie kann diese – wenn auch selten – zu Komplikationen führen. Es braucht zwischen 2 und 6 Wochen, um sich von einer Arthroskopie zu erholen. In dieser Zeit können die Patienten unter Schmerzen, Schwellungen und einer eingeschränkten Funktion leiden. Die meisten können ihr Bein nicht voll belasten und brauchen Gehstützen. Autofahren oder Sport sind zum Teil schwierig. Die Empfehlung gegen Arthroskopie gelte für fast alle Patienten mit degenerativen Knieproblemen, so die kanadischen Experten, ausserdem für Patienten mit mechanischen Symptomen jeglichen Schweregrades. Einzige Ausnahme könnten die Patienten sein, die objektiv unfähig sind, ihr Knie voll zu strecken. In die Analysen waren keine jungen Patienten mit Sportunfällen eingeschlossen oder Patienten jeglichen Alters mit einem grösseren Trauma.<br /> Bedeutet dies jetzt das Aus für die Arthroskopie? Wir haben bei PD Dr. med. Sandro Fucentese nachgefragt, Leitender Kniechirurg an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich.<br /><br /> <strong>Herr Dr. Fucentese, die Studien sprechen ja ziemlich klar gegen Arthroskopien. Soll man jetzt nicht mehr arthroskopieren?<br /> S. Fucentese:</strong> Die Medizin ist nicht schwarz-weiss, und man kann das nicht so kategorisch sagen. Manche Patienten profitieren durchaus von einer Arthroskopie. Leider haben wir aber bis auf das Alter von ungefähr 50 Jahren keine Prädiktoren, wer einen Benefit hat. Wir am Balgrist entscheiden das immer individuell: Je älter der Patient ist, desto konservativer ist unser Ansatz. Wichtig ist, den Patienten in die Therapie gut einzubinden und ihm zuzuhören. Wir müssen verstehen, was sein Problem mit dem Knie ist.<br /><br /> <strong>Was meinen Sie damit?<br /> S. Fucentese:</strong> Nehmen wir einen mittelalten, leicht übergewichtigen Patienten mit einem Meniskusschaden und Knieschmerzen – solche Patienten sehe ich fast täglich in der Sprechstunde. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, dass sich seine Beschwerden durch eine Arthroskopie bessern. Jetzt ist es aber einfach, zu sagen: Nehmen Sie ab, trainieren Sie Ihre Muskulatur und machen Sie Physiotherapie. Der Patient versucht es drei Monate mit der konservativen Therapie, aber wenn die Schmerzen nicht nachlassen, die konservativen Massnahmen erschöpft sind und der klinische Befund mit positivem Meniskusstress-Test und Blockaden passt, halte ich eine Arthroskopie für durchaus gerechtfertigt.<br /><br /><strong> Auch wenn inzwischen so viele Studien dagegensprechen?<br /> S. Fucentese:</strong> Die Studien sagen nicht, dass es allen Operierten schlecht und allen Nichtoperierten gut geht. Viele Patienten wollen eine Operation, denn sie denken, dass nur diese das Problem löst. Der Patient muss gut informiert werden, was er erwarten kann und was nicht. Eine Arthrose im Knie können wir zum Beispiel nicht beseitigen.<br /><br /><strong> Aber man kann doch dem Patienten die Ergebnisse der Studien erklären – lässt er sich dann nicht vom Gegenteil überzeugen?<br /> S. Fucentese:</strong> Ja, oft schon. Patienten, die sich für die Studienergebnisse interessieren, fragen ziemlich schnell nach Alternativen. Unser Ansatz ist, stets konservativ zu starten.<br /><br /><strong> Bisher haben wir doch keinen Hinweis aus den Studien, dass irgendeine Subgruppe von Patienten profitieren könnte?<br /> S. Fucentese:</strong> Nein, zurzeit haben wir noch nicht genügend Daten. Patienten mit eingeschlagenem Meniskus scheinen am besten zu profitieren. Es geht ja nicht darum, dass die Operation nichts nützt und die konservative Therapie immer ein Erfolg ist: Falls die konservative Therapie fehlschlägt, stellt sich die Option der Operation. Und dann ist die Frage: Arthroskopie oder sofortiger Gelenkersatz?<br /><br /> <strong>Wie gehen Sie konkret in der Praxis vor?<br /> S. Fucentese:</strong> Ich bespreche mit dem Patienten zunächst ein konservatives Vorgehen. Das beinhaltet eine einmalige Infiltration mit Kortison und Lokalanästhetikum und zweimal wöchentlich Physiotherapie. Selbst bei starken Arthroseknien hilft die Bewegung: Die Durchblutung wird gefördert, die Muskeln werden gestärkt und dadurch wird die Führung des Kniegelenkes stabilisiert. Sehe ich nach drei Monaten keine Besserungstendenz und leidet der Patient sehr, versuche ich, ihn über Nutzen und Risiken einer Arthroskopie gut aufzuklären. Keinen Sinn hat eine Arthroskopie bei ausgeprägter Arthrose oder wenn das Gelenk kaputt ist – dann hilft später meist nur eine Endoprothese. Bei der ganzen Arthroskopiediskussion habe ich aber Sorge, dass hierzulande etwas Ähnliches passieren könnte wie in Deutschland.<br /><br /><strong> Was ist dort geschehen?<br /> S. Fucentese:</strong> Seit einem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) von 2015 dürfen Ärzte dort bei gesetzlich Versicherten eine Kniearthroskopie nur noch in Ausnahmefällen anwenden. Jetzt bleibt den Kollegen oft keine andere Wahl mehr, als eine Totalendoprothese zu implantieren, weil der Patient grosse Schmerzen hat, auch wenn dies möglicherweise noch lange hinausgezögert werden könnte. Die Anzahl arthroskopischer Eingriffe im Kniegelenk bei Kniearthrose sank in Deutschland von 45 000 im Jahr 2011 auf 7000 2016 ab. Eine Gegenbewegung verzeichnen die Implantationen von Knieprothesen. Auch diese waren zunächst rückläufig, aber nach einer Plateauphase 2014 steigt die Anzahl der implantierten Knieprothesen nun wieder jährlich um knapp 10 000. Eine Knieendoprothese ist ein nicht zu unterschätzender Eingriff. Vielleicht wäre manchen Patienten mehr mit einer Arthroskopie geholfen, auch wenn der schmerzlindernde Effekt möglicherweise durch eine Placebowirkung bedingt ist. Wir Chirurgen versuchen, den neuen Daten gerecht zu werden. Wir führen viel seltener Arthroskopien durch als noch vor einigen Jahren. Es wäre jetzt an der Zeit, Studien durchzuführen, die zeigen, welche Patienten profitieren und welche nicht – und zwar sollten diese Studien von Internisten und Chirurgen gemeinsam durchgeführt werden.</p></p>
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<p>1 Adelani MA et al.: Clin Orthop Relat Res 2016; 474: 489- 94 2 Bohensky MA et al.: Med J Aust 2012; 197: 399-403 3 Hamilton DF, Howie CR: BMJ 2015; 351: h4720 4 Thorlund JB et al.: Acta Orthop 2014; 85: 287-92 5 Järvinen TLN, Guyatt GH: BMJ 2016; 354: i3934 6 Moseley JB et al.: N Engl J Med 2002; 347: 81-8 7 Thorlund JB et al.: BMJ 2015; 350: h2747 8 Khan M et al.: CMAJ 2014; 186: 1057- 64 9 Kise NJ et al.: BMJ 2016; 354: i3740 10 Guermazi A et al.: BMJ 2012; 345: e5339 11 Siemieniuk RAC et al. : BMJ 2017; 357: j1982 12 Brignardello-Peterson R et al.: BMJ Open 2017; 7: e016114 13 Devji T et al.: BMJ Open 2017; 7: e015587</p>
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