
Eine kritische Auseinandersetzung
Principal Scientist, Technical Fellow, Spine & Pain Therapies (EU)
Ortho Clinic Zürich
E-Mail: clement.werner@orthoclinic-zuerich.ch
Die osteoporotischen Wirbelsäulenfrakturen stellen mittlerweile die häufigste Manifestation dieser Krankheit dar, gefolgt von distalen Radiusfrakturen und Schenkelhalsfrakturen. Obwohl die Mortalität nach Auftreten einer osteoporotischen Wirbelkörperfraktur höher liegt als bei Schenkelhalsfrakturen, gibt es wohl kein kontroverseres Schema bezüglich ihrer Therapie. Unter dem Motto «Die heilen doch alle» wird oft die Bedeutung einer Nichtbehandlung und ihrer Folgen für das spätere Leben unterschätzt (Abb. 1).
Key Points
- Die sagittale Balance und insbesondere die Ausschöpfung von Kompensationsmechanismen müssen bei der Indikationsstellung mit berücksichtigt werden.
- Ziel einer operativen Therapie muss die Reduktion von Langzeitschmerz, Mortalität und Anschlussfrakturen sein.
- Kyphoplastien haben bessere Langzeitresultate als Vertebroplastien, diese wiederum bessere als die konservative Therapie.
Operieren oder nicht operieren?
Bei Osteoporose (einer quantitativen Störung, nicht einer qualitativen Störung) dauert die Knochenheilung genau gleich lange wie bei einem normalen Knochen: nämlich 6 Wochen. Dementsprechend kann es bei einer chirurgischen Therapie, bei der Zement oder Keramik in den trabekulären Knochen eingebracht wird, auch nicht primär darum gehen, lediglich eine schnellerer Analgesie zu erreichen. Die Zeitspanne, in der eine frische osteoporotische Fraktur nämlich schmerzt, beträgt im Normalfall 2–3 Wochen. Die Zeit, welche zwischen Trauma, Vorstellung beim Hausarzt, Zuweisung zum Spezialisten, neuer Bildgebung und schliesslich Planung eines OP-Termins vergeht, ist wohl genauso lange. Ein invasives Vorgehen scheint vor diesem Hintergrund also gegenüber der herkömmlichen rein medikamentösen Therapie primär nicht gerechtfertigt.
Ziel eines operativen Eingriffes muss es vielmehr sein:
- langfristig weitere Frakturen zu verhindern,
- Ermüdungsrückenschmerzen zu lindern,
- die Mortalität bei diesen oft betagten Patienten zu reduzieren.
Dass dabei der akute Schmerz durch einen Eingriff oft innerhalb sehr kurzer Zeit verschwindet, ist nur ein sehr angenehmer Nebeneffekt. Die Beantwortung der Frage, ob einem Patienten eine chirurgische Lösung angeboten werden soll, bedarf weiterer Kenntnisse und Überlegungen.
Die «Todesspirale» der osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen
Klassischerweise führen osteoporotische Wirbelkörperfrakturen im thorakolumbalen Übergang zu einer Deformität im Sinne einer progredienten Kyphosierung der Wirbelsäule. Folgen der biomechanischen Veränderungen sind eine Abnahme der Ganggeschwindigkeit, Verlust des Gleichgewichtes, verfrühte Muskelermüdungen und ein erhöhtes Sturzrisiko. Die progrediente Kyphosierung führt zu einer verminderten Vitalkapazität und zu generellen Funktionseinbussen des Körperstammes. Durch das Aufsitzen der Rippenbögen auf dem Beckenkamm und das Ausweichen der Viszera nach vorne kommt es zu einem verminderten Appetit. Die Patienten bemerken vor allem den «dickeren» Bauch. Es treten aufgrund der Kyphose Schlafprobleme auf: Patienten brauchen mehr und mehr Kissen, um überhaupt auf dem Rücken liegen zu können. Je mehr die Tagesaktivität abnimmt, desto mehr nimmt die Osteoporose zu und desto höher wird das Risiko für weitere Frakturen.
Die progrediente Kyphosierung wird anfangs z.T. noch durch kompensatorische Becken- bzw. Knieflexion ausgeglichen. Ist dies nicht mehr möglich, kommt es zu weiteren Frakturen, zu weiteren Lungenproblemen etc. und schlussendlich zum Tod, sodass die 1-Jahres-Mortalität bei diesen Frakturen schliesslich mindestens gleich hoch oder höher ist als diejenige bei osteoporotischen Frakturen des proximalen Femurs (die 5-Jahres-Mortalitätsrate liegt bei osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen bei 72 % ; im Vergleich dazu sind nach dem gleichen Zeitraum 59 % der Patienten mit Schenkelhalsfrakturen noch am Leben).
Diagnostik
Die allermeisten osteoporotischen Wirbelkörperfrakturen entgehen einer Diagnose. Einerseits empfindet man es als normal, dass man im Alter etwas kleiner und kyphotischer wird, andererseits verlaufen viele der osteoporotischen Frakturen klinisch stumm oder werden aufgrund der wenig ausgeprägten Symptomatik kaum beachtet. Zusätzlich zur Kyphosierung gibt es pathognomonische Zeichen für in der Vergangenheit aufgetretene osteoporotische Frakturen: tannenbaumförmige Hautfalten im Bereich des Rückens, Rippenbögen, welche auf dem Becken aufsetzen, und die Vorwölbung des Bauches, wenn man die Patienten von der Seite betrachtet. Diagnostisch sollte wann immer möglich die radiologische Untersuchung (Röntgen oder CT) mit einem MRI komplettiert werden. Im MRI, insbesondere in der STIR-Sequenz, kann das Frakturalter abgeschätzt werden. Entsprechend kann auch beurteilt werden, ob eine Fraktur noch aufrichtbar ist oder nicht. Zusätzlich können Fragen wie nach dem Vorliegen einer zusätzlichen Spinalkanalstenose oder einer B-Verletzung (Verletzung der dorsalen diskoligamentären Strukturen) beantwortet werden. Die am besten für ein aufrichtendes Verfahren geeigneten Frakturen sind diejenigen, welche im stehenden Röntgenbild kollabieren, im MRI aber durch die Rückenlage wieder reponiert sind.
Einige biomechanische Überlegungen
Patienten, welche eine normale sagittale Balance der Wirbelsäule haben, gebrauchen nur wenig muskuläre Kraft, um Kopf und Oberkörper über dem Becken zu balancieren. In diesem Zustand kann physiologischer Knochen axiale Kräfte bis 5000N (entspricht einem Gewicht von 500kg) auffangen. Man spricht von einem «ökonomischen Gleichgewicht» (Abb. 2, links). Verschiebt man die Schwerkraftlinie nach vorne, kommt ein Drehmoment dazu, welches (bei normalem, nicht osteoporotischem Knochen) bereits bei 20Nm zu Frakturen führen kann (Abb. 2, rechts). Komplexe Kompensationsmechanismen und Mehrbelastungen im Bereich des muskuloligamentären Systems der Wirbelsäule versuchen, ein stabiles Gleichgewicht wiederherzustellen.
Je distaler im Bereich der Wirbelsäule Belastungen untersucht werden, desto höher sind sie. Bei normaler Schwerkraftlinie führen die Muskelkontraktionen der kleinen autochthonen Rückenmuskeln und der Abdominalmuskulatur zu einer umso höheren axialen Belastung durch die Bandscheiben und Endplatten, je kaudaler diese gelegen sind. Die Scherkräfte in den unteren, weniger horizontal angelegten Segmenten führen zu entsprechend grösserer Muskelaktivität. Wird die Schwerkraftlinie um beispielsweise einen Zentimeter nach anterior verlegt (Abb. 3), erhöht sich einerseits rechnerisch die Resultierende durch die entsprechenden Segmente um 20 % , andererseits aber die benötigte Muskelarbeit um etwa 60 % , um die Balance zu halten.
Genau diese biomechanischen Eigenschaften werden beim Auftreten einer Kompressionsfraktur verändert. Die Schwerkraftlinie wird nach vorne verschoben. Derjenige Anteil des Körpers, welcher oberhalb des gebrochenen Wirbels liegt, führt deshalb zu einem erhöhten Drehmoment in der Sagittalebene. Dieses muss zusätzlich durch die posterioren muskulären und ligamentären Elemente zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts kompensiert werden. Dadurch erfahren die angrenzenden Wirbel zusätzlich zur normalen axialen Belastung noch mehr Druck durch die jeweiligen Endplatten. Insbesondere erfahren aber die auch kleinen kurzen (und aufgrund der Nähe zur Wirbelsäule mit einem sehr limitierten Hebelarm versehenen) autochthonen Rückenmuskeln eine massive Mehrbeanspruchung. Dies entspricht einem Phänomen, welches wir an der Hüfte – im Gegensatz zur Wirbelsäule – bestens kennen. Die muskuläre Überbeanspruchung ihrerseits könnte Ursache der häufigen Rückenschmerzen bei älteren Patienten sein, welche kaum auf Analgetika oder lokale Injektionen in die Facettengelenke reagieren.
Ein einfaches Rechenbeispiel zur Illustration möglicher Therapieansätze
Angenommen, ein Patient stellt sich mit einer einfachen Kompressionsfraktur von Th11 mit 1/3-Verkürzung der Vorderkante im Stehen vor (Abb. 4). Die angenommenen 35kg Körpergewicht oberhalb der Fraktur führen zu einem Drehmoment von ca. 22Nm (also bereits über der Toleranzgrenze für Frakturen bei normalen Knochen). Belässt man dies (konservative Therapie) oder erhöht man die Endplatte ein wenig, ohne das sagittale Alignment anzugehen (Vertebroplastie), so ändert man an diesem Drehmoment nichts. Erst die Aufrichtung des Wirbels (Kyphoplastie mit möglichst umfassender Reduktion der Kyphosierung) führt in Sachen Drehmoment wieder zu einer langfristig tolerablen Last.
Die anguläre Wiederherstellung (wenn auch nur partiell) führt pro Grad Reduktion der Kyphosierung zu 1,5Nm weniger Drehmoment (Abb. 5) – einfacher dargestellt: pro Millimeter Vorderkantenerhöhung zu 2,5Nm weniger Drehmoment. Das Frakturrisiko für angrenzende Wirbel kann also mit jedem Millimeter Aufrichtung der Vorderkante gesenkt werden.
Die «New England Journal of Medicine»-Publikationen
Im Jahre 2009 erschienen zwei prospektive, randomisierte Studien, welche den Effekt (primärer Outcomeparameter: kurzfristige Schmerzlinderung) zwischen Vertebroplastien und Sham-Prozeduren verglichen. Beide Studien kamen unabhängig voneinander zum Schluss, dass es statistisch gesehen keinen Benefit einer Vertebroplastie als augmentierenden Verfahrens gegenüber konservativer (rein medikamentöser schmerzlindernder) Therapie gebe.
Die beiden Studien haben international zu grossen Diskussionen geführt: einerseits unter Wirbelsäulenchirurgen, da die klinische Erfahrung mit schneller Schmerzreduktion nicht den Studienresultaten entsprach, andererseits aber auch unter konservativ tätigen Wirbelsäulenspezialisten, welche einer chirurgischen Therapie gegenüber kritisch eingestellt waren und sich in ihren Erfahrungen durchaus bestätigt sahen. Nicht zuletzt haben auch gewisse Versicherungsgesellschaften und sogar nationale Gesundheitssysteme (insbesondere in Skandinavien) darauf reagiert, indem die Kostengutsprache und auch die Vergütung für diese Eingriffe eingeschränkt respektive ganz aufgehoben wurden.
Die Studien haben viele Einschränkungen. Dabei fällt einerseits die Selektion ins Auge: Es wurden nur ambulante Patienten behandelt (brauchten diese überhaupt eine Therapie?). Alle Eingriffe wurden durch interventionelle Radiologen (keine Anästhesie) durchgeführt. Es gibt keine Angaben über uni- oder bipedikulären Zugang oder die Menge des injizierten Zementes. Im Vergleich zur Zahl der gescreenten Patienten ist die Einschlussrate sehr niedrig, die Cross-over-Rate ist über 40 % etc.
Was aus wirbelsäulenchirurgischer Sicht allerdings schockiert, ist die Tatsache, dass Frakturen bis 1 Jahr (!) nach ihrer Entstehung und ohne obligates MRI der Wirbelsäule eingeschlossen wurden. Da nach 6 Wochen auch osteoporotische Frakturen in den allermeisten Fällen geheilt sind, stellt sich zwingenderweise die Frage, ob nicht verheilte Wirbelkörper eingeschlossen und therapiert wurden.
Vor diesem Hintergrund überrascht das Resultat nicht mehr. Die beiden Studien hatten aber eine andere Wirkung: Sie haben die interventionell an der Wirbelsäule tätigen Unterdisziplinen dazu gezwungen, selbst auch Daten zu ihren Resultaten zu generieren. Dies ist auch geschehen. Heute wissen wir anhand von gross angelegten gematchten Kollektiven, dass die aufrichtenden Verfahren (mit einer Korrektur der sagittalen Balance) mit einer geringeren Mortalität verbunden sind als reine Vertebroplastien, bei denen die Fraktur nur in situ stabilisiert wird. Vertebroplastien wiederum führen zu einer geringeren Mortalität als konservative Therapien.
Anschlusssegmentfrakturen
Über die möglichen Folgen einer Zementaugmentation für Anschlusssegmente wurde viel diskutiert. Zuweilen spricht man auch von einer «vertebral body fracture cascade». Beschuldigt werden zuweilen die veränderten biomechanischen Eigenschaften des Bewegungssegmentes (Veränderung des E-Moduls, «Young’s modulus»). In gross angelegten Studien konnte zwar ein Trend in diese Richtung beobachtet werden, die Zementaugmentation selbst konnte aber nie statistisch signifikant mit dem Auftreten von Folgefrakturen assoziiert werden. Über ein Dutzend biomechanische Studien zeigen auch auf, dass die durch Injektion von verschiedenen Zementen und Keramikarten veränderte Steifigkeit («strength») des Bewegungssegmentes nie die Ausgangswerte vor Frakturierung erreicht. Somit gelten sie heute nicht mehr als Risikofaktor. Eine Ausnahme hierbei stellt ein relevanter Zementaustritt in die Bandscheibe dar, wobei es zu einem direkten Kontakt mit der benachbarten Endplatte kommen kann. Hier weiss man, dass dies einen Risikofaktor für Folgefrakturen darstellt.
Zwei Hauptrisikofaktoren sind allgemein bekannt: die geringe Knochendichte und das Vorliegen einer osteoporotischen Fraktur in der Vorgeschichte. Beide sind im Online-Tool FRAX, welches zur Bestimmung des zukünftigen Frakturrisikos verwendet wird, stark gewichtet. Die Koexistenz beider Risikofaktoren führt zwangsläufig zu einem exponentiellen Anstieg des zukünftigen Risikos. Viel interessanter ist jedoch, dass auch Patienten mit nachgewiesenermassen erhöhter Knochendichte und einer Fraktur in der Vorgeschichte ein erhöhtes Risiko haben. Dies wirft Fragen auf! Wir haben deshalb in einer eigenen Studie zwei Patientenkollektive (das eine ohne, das andere mit Auftreten einer vertebralen Kompressionsfraktur) gematcht. Als hochsignifikanter Risikofaktor bezüglich der Frakturentstehung kam dabei das C7-Lot heraus. Das heisst, Patienten, welche entweder im Lot sind oder die Kyphosierung über Kompensationsmechanismen («pelvic tilt» und Kniebeugung) korrigieren können, haben signifikant weniger Anschlussfrakturen.
Eigener Algorithmus
Die Patienten werden zum Zeitpunkt 0, 2, 4 und 6 Wochen nach Indextrauma im Stehen geröntgt. Tritt keine nennenswerte Kyphosierung auf oder ist die Fraktur hoch thorakal, bleibt die Therapie konservativ. Tritt eine Kyphosierung auf, werden die Patienten einem MRI unterzogen, das diese drei Fragen beantworten soll:
- Lokalisation der Signalalteration in der STIR-Sequenz?
- Relevante Spinalkanalstenose?
- Vorliegen einer B-Verletzung (Zerreissung des dorsalen kapsuloligamentären Komplexes, sehr selten)?
Qualifizieren sich dann die Patienten für ein operatives Vorgehen, wird eine Lotaufnahme durchgeführt. Sind die Kompensationsmechanismen in Becken und Hüfte ausgeschöpft oder möglichst zu erhalten, wird eine Kyphoplastie in Erwägung gezogen (Abb. 6).n
bei den Verfassern
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