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Das Bermudadreieck der Leiste

Essenziell für Diagnostik und Therapie von Leistenschmerzen ist, die Pathologien vollständig zu erfassen. Wir haben zwei Orthopäden von der Universitätsklinik Balgrist gefragt, wie man am besten vorgeht.

2017 trafen sich Kollegen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland in Hamburg zu einem Konsensus-Treffen zur Diagnostik und Therapie von Leistenschmerzen bei Sportlern. Braucht es für dieses Symptom wirklich so ein Extratreffen?

S. Fröhlich: Ich finde schon. Leistenschmerzen sind ein grosses Problem für Sportler. Viele leiden darunter und oft müssen sie monatelang mit dem Training aussetzen. Häufig kommen die Sportler spät zur Abklärung – dann haben sich die Symptome chronifiziert. Und selbst wenn der Patient dann beim Arzt ist, haben die Kollegen nicht immer genügend klinische Erfahrung, um das multifaktorielle Krankheitsbild zu entschlüsseln und einen spezifischen Behandlungsplan aufzusetzen. Abgesehen davon gehen die Kollegen je nach Fachrichtung bei der Diagnostik unterschiedlich vor und es gibt verschiedene Definitionen. Daher finde ich diese Konsensus-Statements sehr gut, denn sie vermitteln eine einheitliche Vorgehensweise.

Die Diagnose von Leistenschmerzen ist schwierig. Warum?

P. Zingg: Es gibt Dutzende von Ursachen, die dahinterstecken können. In der Leiste befinden sich diverse Strukturen nahe beieinander: Hüftgelenk, Schambein, fasziale, muskuläre und nervale Strukturen der Bauchwand. Probleme an all diesen Strukturen können ähnliche Beschwerden verursachen. Deshalb wird die Leistenregion als «Bermudadreieck der Sportmedizin» bezeichnet.

S. Fröhlich: Es gilt aber nicht nur, die beschwerdeauslösende Struktur zu identifizieren. Man muss auch herausfinden, ob die Schmerzen durch sportliche Über- oder Fehlbelastung ausgelöst und aufrechterhalten werden oder durch morphologische Abnormitäten, etwa eine Hüftdysplasie oder ein femoroacetabuläres Impingement. Um all das strukturiert abzuklären und dem Patienten dann die passende Behandlung anzubieten, braucht man viel differenzialdiagnostisches Wissen und Erfahrung. Das geht nicht mal eben schnell im Rahmen einer Konsultation. Meist sehen wir den Patienten über Monate und begleiten ihn, bis seine Schmerzen gelindert sind.

Wie sehr leiden die Patienten?

S. Fröhlich: Sportler, die wir engmaschig regelmässig betreuen, erzählen uns meist frühzeitig davon und bitten uns, das abzuklären. Die meisten Patienten, die sich bei uns mit Leistenschmerzen vorstellen, haben jedoch bereits eine gewisse Leidenszeit und häufig auch mehrere Arztbesuche und Therapieversuche hinter sich. Über starke Schmerzen im Alltag klagen allerdings die wenigsten. Die meisten der Patienten leiden insofern, dass sie ihren Sport nicht mehr so ausüben können, wie sie möchten. Im Alltag spüren sie keine oder nur mässige Beschwerden.

Wie gehen Sie vor, um die Ursache zu finden?

P. Zingg: In der Anamnese ist es wichtig, genau zu fragen: Was hat die Schmerzen ausgelöst? Wie lange dauern die Beschwerden schon an? Wie fühlt sich der Schmerz an? Wo sind die Schmerzen am schlimmsten? Strahlen sie aus? Ziehen die Schmerzen zum Beispiel Richtung Skrotum, kann die Ursache im Leistenkanal stecken, etwa eine Leistenhernie? Der Verdacht würde sich erhärten, wenn der Schmerz sich durch Husten, Niesen oder Pressen provozieren lässt. Strahlen die Schmerzen in den medialen Oberschenkel aus, denke ich eher an ein Problem in den Adduktoren. Für ein coxogenes Problem sprechen Schmerzen, die sich durch bestimmte Hüftgelenkspositionen und -bewegungen oder Belastungstests reproduzieren lassen.

S. Fröhlich: Viel Zeit nehmen sollte man sich für eine gründliche körperliche Untersuchung. Ich würde etwa eine halbe Stunde einplanen: Zum einen muss das Hüftgelenk sorgfältig untersucht werden, zum anderen die umliegenden Weichteile: Leistenkanal, M. iliopsoas, Adduktoren, Bauchmuskulatur, Symphyse, Rücken etc. Abgesehen davon stehen uns Testverfahren der funktionellen Bewegungsanalyse zur Verfügung, um Rumpf-, Becken- und Beinachsenstabilität zu testen. Diese Tests können entweder eigenständige funktionelle Störungen aufdecken oder zusätzliche Informationen bei bekannten strukturellen Pathologien liefern und gehören daher auch zur Standardabklärung. Beschwerden der Patienten und Befunde lassen sich jedoch meist nicht eindeutig einer einzigen Struktur zuordnen. Man muss versuchen, die nicht konkordanten Befunde in Einklang zu bringen.

Wann ist eine Bildgebung erforderlich?

P. Zingg: Meist sind mehrere Bildgebungsverfahren notwendig. Mit dem Ultraschall alleine findet man beispielsweise zuverlässig eine Leistenhernie. Habe ich den Verdacht auf ein coxogenes Problem, sind Röntgen und meist auch Arthro-Magnetresonanztomografie indiziert. Im MRI sieht man auch weitere Befunde wie Pathologien der Adduktoren(-ursprünge), Läsionen des Iliopsoas oder eine Bursitis iliopectinea. Das MRI ersetzt das Röntgenbild aber nicht. Insbesondere zur Objektivierung oder zum Ausschluss morphologischer Störungen der Hüfte und des Beckens sind Röntgenbilder unerlässlich.

S. Fröhlich: Häufig liegt aber nicht nur eine einzelne Pathologie vor, sondern wir sehen verschiedene Auffälligkeiten in Bildgebung oder klinischer Untersuchung. In solchen Fällen helfen diagnostische Infiltrationen an verschiedenen Lokalisationen. Nicht jede Auffälligkeit in der Bildgebung ist nämlich relevant für die beklagten Symptome. Mit den Infiltrationen können wir herausfinden, welche Strukturen hauptsächlich verantwortlich für die Beschwerden sind.

Wie schnell kann der Betroffene wieder Sport treiben?

S. Fröhlich: Selbst wenn keine Operationsindikation besteht, dauert es oft Monate, bis der Patient wieder uneingeschränkt Sport treiben kann. Abgesehen davon, dass das die Sportler natürlich frustriert, ist die Therapie keineswegs einfach. Art und Dauer der Behandlung hängen davon ab, welche Pathologie vorliegt. So heilt beispielsweise eine muskuläre Läsion des M. iliopsoas normalerweise sehr viel schneller als eine lange bestehende Insertionstendinopathie der Adduktoren.

Wie schnell ist der Patient wieder fit, wenn Sie operieren müssen?

P. Zingg: Nach einer Hüftarthroskopie – etwa bei femoroacetabulärem Impingement – kann der Betroffene nach sechs bis zwölf Wochen und bei offener Chirurgie mit Osteotomien des Beckens oder des proximalen Femurs nach drei bis vier Monaten wieder Sport machen. Selbstverständlich ist dann die Rehabilitation noch nicht abgeschlossen. Zum Erlangen der vollen Leistungsfähigkeit braucht es patientenspezifische Trainingsprogramme mit sportmedizinischer und physiotherapeutischer Unterstützung und Behandlung.

Was ist das Wichtigste bei der Therapie?

S. Fröhlich: Die Pathologie vollständig zu erfassen. Das heisst abzuklären, ob nur ein Problem vorliegt oder – wie in den meisten Fällen – eine Kombination mehrerer Pathologien. Für essenziell halte ich eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit, das heisst zwischen konservativ und operativ tätigen Spezialisten von der Abklärung über die Behandlung bis zur Rehabilitation. Weil Leistenschmerzen oft multifaktoriell bedingt sind, muss man in der Therapie alle Teilprobleme entsprechend berücksichtigen. Denn sonst kann es vorkommen, dass Patienten beispielsweise nach einer Leisten- oder Hüftoperation noch weiterhin über Beschwerden klagen, wenn eine zusätzlich vorhandene Pathologie – etwa ein adduktorenbedingter Leistenschmerz – nicht erkannt und behandelt wurde.

P. Zingg: Bei kombinierten Problemen gehen wir in der Regel zunächst dasjenige an, das mit nicht invasiven und nicht operativen Massnahmen therapiert werden kann. Hiermit lassen sich in vielen Fällen die Beschwerden der Sportler bereits deutlich verbessern. Wir bestellen den Sportler dann zeitnah wieder ein und eruieren, ob zusätzliche operative Massnahmen notwendig sind, zum Beispiel wenn der Patient ein relevantes femoroacetabuläres Impingement hat oder eine Leistenhernie.

Wann sollte ein niedergelassener Kollege den Patienten zur Abklärung in die Klinik verweisen?

P. Zingg: Immer, wenn er sich bezüglich der genauen Schmerzursache unsicher ist, der Verdacht auf eine kombinierte Pathologie besteht, gar kein primär orthopädisches Problem vorliegt oder der bisher eingeschlagene Therapieweg keine relevante Besserung gebracht hat.

Können Sie den Patienten immer helfen?

S. Fröhlich: Weil bei uns verschiedene Fachspezialisten aus Sportmedizin, Physiotherapie, Hüftchirurgie sowie physikalischer Medizin und Rehabilitation zusammenarbeiten, können wir die meisten Patienten erfolgreich therapieren – sei es mit konservativen oder mit operativen Massnahmen. Falls die notwendige Behandlung ausserhalb unseres operativen Spektrums liegt – zum Beispiel bei einer Leistenhernie –, verweisen wir den Patienten natürlich gerne an die Kollegen am Universitätsspital Zürich.

Sollten sich Kollegen besser fortbilden, was Leistenschmerzen angeht?

P. Zingg: Das könnte sicherlich hilfreich sein, um von Beginn weg den Patienten gerecht zu werden. In unklaren oder therapierefraktären Fällen können Kollegen aber gerne jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen, um den Fall zu diskutierenoder damit wir die Behandlung übernehmen.

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