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Behandlungsoptionen bei älteren Patienten mit proximaler Humerusfraktur

Unsere Daten stützen zwei Entwicklungen, welche aktuell im Gange sind. Zum einen wird mehr Wert auf den vom Patienten subjektiv erwünschten und erfahrenen Gewinn der Behandlung im Sinne von «Value Based Health Care» gelegt. Zum anderen besteht ein Trend hin zur konservativen Behandlung der proximalen Humerusfraktur, weg von der Plattenosteosynthese, und – wo indiziert – hin zur inversen Prothese als primärer Behandlung.

Bezüglich der Behandlung der proximalen Humerusfraktur besteht kein Konsens. Bei der 2-Fragment-Fraktur hat Neer in den 1970er-Jahren definiert, dass Angulationen bis 45° und eine Dislokation der Tubercula bis 1cm tolerierbar seien. Validiert bezüglich des klinischen Outcomes wurden diese Kriterien nie. Auch fehlen Angaben, wie genau die Dislokation gemessen werden soll.

Mit der Entwicklung von winkelstabilen Implantaten ging der Trend dann in den 1990er-Jahren stark in Richtung operative Therapie. Die Weiterentwicklung der Marknägel brachte eine zusätzliche chirurgische Option zur Behandlung dieser Frakturen. Bei Luxationsfrakturen und Frakturen mit kompletter Dissoziation der Tubercula vom Kopffragment wurden Hemiprothesen implantiert, seit ca. zehn Jahren werden hier vor allem beim älteren Patienten inverse Schultertotalprothesen eingesetzt. Die Indikationsabgrenzung dieser operativen Behandlungsmethoden von der konservativen, nichtoperativen Behandlung ist unklar.

Seit ca. 20 Jahren werden Studien publiziert, welche eine hohe Komplikationsrate (bis zu 60%) und eine hohe Reoperationsrate (über 30%) bei der operativen Behandlung älterer Patienten (meist über 65 Jahre) mit winkelstabilen Platten dokumentieren. Auch an unserer Institution (Universitätsspital im urbanen Umfeld mit einem hohen Anteil an geriatrischen, «frail» Patienten) machten wir diese Beobachtung, was uns dazu bewegte, unser Behandlungskonzept der proximalen Humerusfraktur bei älteren Patienten (über 65 Jahre) anzupassen. Diesen Paradigmenwechsel begleiteten wir mit zwei klinischen Studien, einer retrospektiven und einer prospektiven. Als Endpunkt definierten wir dabei die Auswirkung der proximalen Humerusfraktur und deren Behandlung auf die Selbstständigkeit des Patienten. Dies mit der Überzeugung, dass es für diese Patienten das wichtigste Ziel ist, wieder mit möglichst der gleichen Selbstständigkeit in ihr angestammtes soziales Umfeld zurückkehren zu können. Voraussetzung dafür ist eine schmerzfreie Schulter mit einer alltagstauglichen Funktion.

Zur Objektivierung benutzten wir den «Suhm-Scale» (1=selbstständig im eigenen Haushalt, 2=im eigenen Haushalt mit Hilfe, 3=in einer Institution mit einer gewissen Selbstständigkeit; 4=pflegebedürftig) und erfassten, ob am Ende eine Veränderung in diesem Scale resultierte. Sekundäre Outcome-Parameter waren klinische Parameter (Komplikationen, ROM, Schmerz) und Scores (SPADI, DASH).

Ergebnisse

In der retrospektiven Gruppe (RG; 157 Patienten) zeigte sich, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung, ca. drei Jahre nach Ereignis, 47% entweder verstorben oder demenzkrank waren. Wir werten dies als Hinweis auf die Fragilität dieser Patientengruppe, vergleichbar mit den Patienten mit hüftnahen Frakturen. Rund 64% aller Patienten wurden operiert, davon 84% mit einer winkelstabilen Platte. Rund 37% wurden konservativ behandelt. Wir verglichen sodann bei den Patienten mit A- und B-Frakturen (AO-Klassifikation) diejenigen, die operiert wurden (RGO), und die konservativ Behandelten (RGK; C-Frakturen wurden alle operiert).

Als Erstes fiel auf, dass retrospektiv nicht mehr klar rekonstruierbar war, weshalb Patienten mit gleicher Frakturklassifikation einmal operiert wurden und einmal nicht. Nicht ganz unerwartet war die Komplikationsrate in der RGO-Gruppe deutlich höher (21%) als in der RGK-Gruppe (0%). Die RGK-Patienten hatten bessere schulterspezifische Scores und in der RGO-Gruppe hatten deutlich mehr Patienten einen Grad an Selbstständigkeit (Suhm-Scale) verloren, nämlich 13 von 43 (30%), im Vergleich zu den RGK-Patienten mit 1/77 (1%).1

In der prospektiven Gruppe (PG; 85 Patienten) gingen wir nach folgendem Algorithmus vor: Alle proximalen Humerusfrakturen wurden konservativ behandelt, ausser wenn:

  • das proximale Fragment vom Schaft dissoziiert war (ab >50% Schaftbreite; inklusive Frakturen mit Varus/posterior-Dislokation) und/oder

  • die Tubercula komplett von der Kalotte dissoziiert (ohne Kontakt) waren.

2-Fragment-Frakturen (A-Frakturen) mit Dissoziation operierten wir mit einem proximalen Nagel.

3-Fragment-Frakturen (B-Frakturen), bei welchen die Tubercula nicht von der Kalotte dissoziiert waren, betrachteten wir wie 2-Fragment-Frakturen, da sie sich biomechanisch auch so verhalten, und wir behandelten sie entsprechend.

3- und 4-Fragment-Frakturen mit kompletter Dissoziation der Tubercula (Kalotte in Varus oder Valgus) wurden primär mit inverser Prothese versorgt, ebenso Luxationsfrakturen.

Winkelstabile Platten wurden nur noch ausnahmsweise verwendet, nämlich bei Valgus-impaktierten 3-Fragment-Frakturen ohne Achsabweichung im Neer-Bild, dann kombiniert mit Hydroxylapatit-Allograft zur metaphysären Abstützung.

Gesamthaft behandelten wir in diesem Studienkollektiv 74% konservativ, 15% mit inverser Prothese, 8% mit Marknagel und 3% mit Platte. Wieder war der primäre Outcome-Parameter der Verlust an Selbstständigkeit (Suhm-Scale).

RG- und PG-Patienten hatten vergleichbare Baseline-Charakteristika, was einen Vergleich der beiden Gruppen ermöglichte. In der RG wurden 37% konservativ behandelt, in der PG 74%. Patienten in der PG hatten ein 1,6-mal kleineres Risiko, einen Grad an Selbstständigkeit zu verlieren. Die Werte in den spezifischen Schulterscores und für Lebensqualität waren nicht verschieden.2

Fazit

Alles operieren ist wohl genauso falsch wie alles konservativ behandeln – es gilt, durch differenzierte Indikationsstellung den Mittelweg zu finden, immer mit dem Ziel, dem älteren Patienten die Rückkehr in sein soziales Umfeld zu ermöglichen.


Die Inhalte dieses Artikels waren Thema beim VEC (Virtual EFORT Congress), 30. Juni bis 2. Juli 2021.

1 Feissli S et al.: Treatment options for proximal humeral fractures in the older adults and their implication on personal independence. Arch Orthop Trauma Surg 2020; 140(12): 1971-6 2 Rikli D et al.: High rate of maintaining self-dependence and low complication rate with a new treatment algorithm for proximal humeral fractures in the elderly population. J Shoulder Elbow Surg 2020; 29(6): 1127-35

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