Amputationen als Notfallsituation

Im Rahmen der Behandlung von Extremitätentraumata mit ausgeprägter Weichteilverletzung sowie Beteiligung neurovaskulärer Strukturen stehen Traumatologen diverse Scoring-Systeme als Entscheidungshilfe für oder gegen die Amputation zur Verfügung. Dennoch obliegt der endgültige Entschluss einer Zusammenschau vielfältiger Faktoren.

Keypoints
  • Die Entscheidung für oder gegen Extremitätenamputation ist eine der komplexesten Fragestellungen für den Traumatologen.

  • Bis dato existiert kein validierter Score, welcher hierfür als definitive Entscheidungshilfe herangezogen werden kann.

  • Die Definition eines upge­dateten Scoring-Systems erfordert die Durchführung groß angelegter klinischer Studien unter vermehrtem Einbeziehen der oberen Extremität.

Komplexe Extremitätenverletzungen, inklusive Beteiligung neurovaskulärer Strukturen sowie ausgedehnter Weichteilverletzungen, repräsentieren herausfordernde, extremitäten- sowie potentiell lebensbedrohliche Traumata, welche rasche Diagnostik und Intervention erfordern.1–4 Die Entscheidung für oder gegen eine primäre Amputation ist mitunter eine der schwerwiegendsten für Traumatologen.

Die Weiterentwicklung operativer Technologien resultierte in einem deutlichen Abfall der Amputationsrate von 72,5% (1946)5 auf 8–46%im militärischen Setting6,7 und auf 1,9–14,7%in zivilen Zentren 8,9. Häufig kann die Entscheidung für oder wider Extremitätenerhalt bereits klinisch gestellt werden. In Grenzfällen sollte jedoch zur weiteren Differenzierung auf renommierte Scores zurückgegriffen werden, u.a. den „Mangled Extremity Severity Score“ (MESS), den „Limb Salvage Index“ (LSI), den „Predictive Salvage Index“ (PSI), den „Nerve Injury, Ischemia, Soft-Tissue Injury, Skeletal Injury, Shock, and Age of Patient Score“ (NISSSA) und die „Hannover Fracture Scale-97“ (HFS-97).10–13

Zusätzlich wird die Entscheidung noch von der generellen Kondition des Patienten (inklusive Komorbiditäten) sowie seinen persönlichen Zielen und Erwartungen beeinflusst.

„Mangled Extremity Severity Score“ (MESS)

Eines der populärsten Tools unter den Entscheidungsscores ist der MESS, der 1990 von Johansen et al.postuliert wurde (Tab.1).10 Hierfür erfolgte eine retro- und prospektive Analyse zweier Gruppen von Patienten mit Traumata der unteren Extremität. Ein MESS ≥7 Punkte korrelierte mit der Notwendigkeit zur Amputation und wurde als Cut-off für die Extremitätenamputation bestimmt.

Tab. 1: Mangled Extremity Severity Score (MESS)

Obwohl dieser Score primär für die Evaluierung der unteren Extremität konstruiert wurde, wurde seine Verwendung im Lauf der Zeit auf die obere Extremität erweitert.14–17 Die Autorenmeinungen bezüglich seiner Validität variieren jedoch deutlich in der rezenten Literatur.

Loja und Kollegen evaluierten ein ziviles Kollektiv von 230 Patienten, die aufgrund von Traumata der unteren Extremitäten inklusive Gefäßbeteiligung behandelt worden waren.18 Insgesamt wurde bei 18,7% der Patienten eine primäre oder sekundäre Amputation durchgeführt. Dieser Teil des Kollektivs hatte einen statistisch signifikant höheren MESS (Median: 6) im Vergleich zur Subgruppe mit ,,geretteter“ Extremität (Median: 4). Nach Exklusion der Confounder konnte kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen nachgewiesen werden. Die gewählte Amputationsgrenze (MESS von 8) konnte eine Amputation lediglich bei 43,2% der Patienten vorhersagen.

Hohenberger et al. evaluierten 71 Patienten mit Extremitätenverletzungen inklusive Gefäßbeteiligung.19 73% der Patienten (52/71) hatten einen MESS <7 und 27% ≥7. Insgesamt erhielten 8 Patienten (11%) eine sekundäre Amputation. Fälle mit einem MESS ≥7 zeigten eine höhere sekundäre Amputationsrate (21,1%; 4/19) im Vergleich zu Patienten mit einem MESS <7 (7,7%; 4/52). Dies hatte jedoch keine statistische Signifikanz (p=0,20).

„Limb Salvage Index“ (LSI)

Der LSI wurde 1991 von Russell und Kollegen als Entscheidungshilfe für bzw. gegen die Amputation in Fällen von Extremitätentraumata mit Gefäßbeteiligung entwickelt (Tab.2).20 Hierbei werden der Verletzungsgrad der Arterien, tiefen Venen, Nerven, Knochen, Muskulatur, Haut sowie die Dauer der warmen Ischämie zur Risikoabschätzung herangezogen. Der Cut-off zur Amputation liegt bei 6 Punkten. Bosse et al. berichteten über eine Sensitivität von 83% und eine Spezifität von 82%, der LSI lieferte jedoch eine bessere Voraussage im Vergleich zum MESS.13

Tab. 2: „Limb Salvage Index“ (LSI)

„Predictive Salvage Index“ (PSI)

Tab. 3: „Predictive Salvage Index“ (PSI)

Der PSI wurde – wiederum für die untere Extremität – 1987 von Howe et al. kreiert (Tab.3).21 Hierfür wurden 21 Patienten retrospektiv eingeschlossen. Die Autoren berichteten, dass die Überlebenschance der Extremität wesentlich mit dem Zeitintervall vom Erreichen des entsprechenden Krankenhauses bis zur operativen Versorgung, dem Ausmaß der Muskel-, Haut- und Knochenverletzung sowie der Höhe der Gefäßverletzung zusammenhängen würde. Der Grenzwert für die Amputation wurde mit 8 Punkten definiert.

Für das beschriebene Sample wurden eine Sensitivität von 78% sowie eine Spezifität von 100% berechnet. Im Vergleich hierzu evaluierten Bosse und Kollegen 556 verletzte untere Extremitäten prospektiv mit fünf Scoring-Systemen. Die Autoren berichteten über eine Sensitivität von 56% und eine Spezifität von 79% mit Einschluss der Patienten, welche eine primäre Amputation erhielten, sowie 40% und 70% bei Ausschluss dieser Subgruppe.13

„Nerve Injury, Ischemia, Soft-Tissue Injury, Skeletal Injury, Shock, and Age of Patient Score“ (NISSSA)

Der NISSSA wurde 1994 von McNamara et al. publiziert (Tab.4).22 Dieser Score beinhaltet zusätzlich eine detailliertere Evaluierung der Nervenläsion und eine Unterteilung des Gewebeschadens in eine Weichteil- und eine Skelettvariable. Der Cut-off zur Amputation liegt bei 11 Punkten. Im Sample der Autoren, das aus 26 Extremitäten bestand, zeigte der NISSSA eine Sensitivität von 81,8% und eine Spezifität von 92,3%.

Tab. 4: „Nerve Injury, Ischemia, Soft-Tissue Injury, Skeletal Injury, Shock, and Age of Patient Score“ (NISSSA)

Psychologische Faktoren

Des Weiteren müssen auch variable psychologische Faktoren beachtet werden. Melcer et al. verglichen in einem Kollektiv aus den Irak- und Afghanistankriegen 687 Patienten, welche eine Frühamputation (<90 Tage nach Trauma) erhalten hatten, mit 84 Patienten mit Spätamputation (später als 90 Tage nach Verletzung) und 117 Patienten, deren Extremität gerettet werden konnte.23 Hierbei zeigte die frühamputierte Gruppe signifikant reduzierte Raten von psychologischen Diagnosen (posttraumatische Belastungsstörung, Substanzenabusus) im Vergleich zur Subgruppe mit ,,geretteter“ Extremität. Patienten mit Spätamputation zeigten eine signifikant erhöhte Anzahl psychologischer/psychiatrischer sowie physikalischer Diagnosen, inklusive prolongierter Infektionen und nötigen Schmerztherapien, im Vergleich zur frühamputierten und zur extremitätenerhaltenen Gruppe.

Weiters muss zwischen Amputation der oberen und unteren Extremität unterschieden werden. Tennent und Kollegen evaluierten die Majoramputationen von 1315 US-Militärmitgliedern über eine Periode von 10 Jahren.24 Hierbei zeigten Patienten mit isolierter Amputation der oberen Extremität ein höheres kombiniertes Disability-Rating (82,9%) im Vergleich zu Patienten mit vorangegangener Amputation der unteren Extremität (62,3%). Kein Fall mit Amputation der oberen Extremität wurde für militärdiensttauglich erklärt und in 17% der Fälle wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Die Evaluierung zeigte auch ein signifikant erhöhtes Risiko für körperliche Einschränkungen aufgrund von posttraumatischer Belastungsstörung oder Verlust der Nervenfunktion in der Gruppe der Patienten mit amputierter oberer Extremität im Vergleich zum Gesamtkollektiv. Ein möglicher Grund hierfür könnte sein, dass es, trotz ständiger Fortschritte in der Prothesentechnologie, bis dato keinen adäquaten Ersatz für die Sensorik der Hand gibt. Daher kann sogar der partielle Erhalt der oberen Extremität zu einem besseren Outcome sowie höherer Patiententoleranz im Vergleich zur Amputation führen.25

Van Dongen et al. evaluierten 84 Militärbedienstete, die zwischen 2005 und 2014 in Afghanistan eine Verletzung der unteren Extremität erlitten hatten. Hiervon hatten 13 Personen eine schwerwiegende Verletzung inklusive „Abbreviated Injury Scale (AIS) Extremity“ ≥3 erlitten. Bei 7 dieser Patienten war eine Amputation unumgänglich (3 bilateral) und in 6 Fällen konnten die jeweiligen Extremitäten gerettet werden. Bezüglich des Outcomes zeigten sich signifikant bessere Ergebnisse in der Gruppe der amputierten Patienten im Hinblick auf den SF-36 RP (körperliche Rollenfunktion), SF-36 BP (körperliche Schmerzen) und den EQ-6D VAS.

Hinsichtlich der unteren Extremität ist auch die Amputationshöhe ein wesentlicher Einflussfaktor. Hierbei zeigen Oberschenkelamputationen ein schlechteres klinisches Outcome als Amputationen des Unterschenkels, bei denen mithilfe moderner Exoprothetik sehr gute Ergebnisse erzielt werden können.

Fazit und Fallbeispiel

Die Entscheidung für oder gegen Extremitätenerhalt bleibt weiterhin eine der komplexesten Fragestellungen für den Traumatologen. Das Hauptziel hierbei ist es, ein Ausmaß motorischer Funktion wiederherzustellen, das die Rückkehr zum prätraumatischen Arbeitsplatz sowie die Wiederdurchführung der Freizeitaktivitäten ermöglicht. Jedoch erlangen nicht alle technisch geretteten Extremitäten ein zufriedenstellendes funktionelles Ergebnis im Rahmen der Rehabilitation. Patienten, die sich einer Amputation unterziehen müssen, haben jedoch die Chance auf kürzere Rehabilitationszeiträume, eine geringere Anzahl an Revisionsoperationen sowie die schnellere Rückkehr zum Arbeitsplatz.

Des Weiteren existiert bis dato kein validierter Score, welcher als Entscheidungshilfe für oder gegen die Amputation herangezogen werden kann. Auch unsere institutionseigenen Ergebnisse lassen schlussfolgern, dass sich mit dem MESS keine validen Voraussagen bezüglich Amputation in zivilen Settings in Zentraleuropa treffen lassen. Für ein upgedatetes Scoring-System müssten großangelegte prospektive klinische Studien zur Evaluierung von Einflussgrößen auf die Amputation durchgeführt werden. Auch ist es notwendig, hierbei die obere Extremität detaillierter als bisher einzubeziehen.

Aktuell müssen bezüglich Extremitätenerhalt somit individuelle Entscheidungen, auch unabhängig der gängigen Scores, getroffen werden, wie etwa in dem Fall einer 68-jährige Patientin, die als Fahrradfahrerin von einem PKW erfasst wurde. Sie erlitt dabei eine drittgradig offene Unterschenkelfraktur linksseitig (Abb.1a) mit ausgedehntem Knochendefekt (20cm tibial und 10cm fibular) inklusive komplettem Verlust der Sprunggelenksgabel (Abb. 1b) sowie einer Rissquetschwunde im Bereich der Kniekehle mit Décollement nach distal. Zusätzlich zog sie sich eine zweitgradig offene Querfraktur des Humerusschaftes rechts mit primärer Radialisläsion, eine Femurschaftfraktur rechts, eine Bimalleolarfraktur rechts und ein Schädelhirntrauma I. Grades zu (Injury Severity Score 26). Obwohl im Sinne der gängigen Scores nicht allseits die Amputationsgrenze erreicht wurde (kontra Amputation: LSI 5 Punkte, NISSA 9 Punkte, PSI: 7; pro Amputation: MESS 7 Punkte), erfolgte aufgrund des ausgedehnten Knochendefektes die primäre Kniegelenksexartikulation.

Abb. 1: 68-jährige Patientin: drittgradig offene Unterschenkelfraktur linksseitig (a) mit ausgedehntem Knochendefekt inklusive komplettem Verlust der Sprunggelenksgabel (b) sowie Rissquetschwunde im Bereich der Kniekehle mit Décollement nach distal. Zusätzlich zweitgradig offene Querfraktur des Humerusschaftes rechts mit primärer Radialisläsion, Femurschaftfraktur rechts, Bimalleolarfraktur rechts und SHT I. Grades. Obwohl im Sinne der gängigen Scores nicht allseits die Amputationsgrenze erreicht wurde, erfolgte aufgrund des ausgedehnten Knochendefektes die primäre Kniegelenksexartikulation

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