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Neues aus Boston zur Multiplen Sklerose
Jatros
Autor:
Mag. Christine Lindengrün
30
Min. Lesezeit
15.06.2017
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<p class="article-intro">Tausende Forschungsarbeiten aus aller Welt wurden am Jahreskongress der American Academy of Neurology (AAN) präsentiert. Eine kleine Auswahl aus dem umfangreichen Programm rund um das Thema Multiple Sklerose haben wir hier für Sie zusammengestellt.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Komorbiditäten</h2> <h2>Epilepsie</h2> <p>Die Prävalenz von Epilepsie bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) und die demografischen, klinischen und paraklinischen Merkmale der Betroffenen hat ein Team der Harvard Medical School erhoben. Unter 2228 MS-Patienten fanden sie 47 mit diagnostizierter Epilepsie (2 % ). Die Prävalenz ist somit gegenüber der Allgemeinbevölkerung (0,5–1 % ) erhöht. Bei 10 der Patienten konnten die epileptischen Anfälle aber auf einen Hirntumor oder Verletzungen bzw. Blutungen zurückgeführt werden. Das mittlere Alter der Betroffenen beim ersten Anfall war 44 (22–73) Jahre. Durchschnittlich litten die Patienten seit 12 (0–42) Jahren an MS. 24 Patienten litten zum Zeitpunkt des ersten epileptischen Anfalls an schubförmig remittierender MS, der mittlere EDSS-Status lag bei 3,2 (0–7,5). Neue MS-Läsionen, die als Anfallsfokus infrage kamen, wurden nur bei der Hälfte der Betroffenen gefunden (18/37). 19 Patienten hatten generalisierte Anfälle, 7 fokale mit sekundärer Generalisation. (Baharnoori M et al, AAN 2017, P3.360)</p> <h2>„Restless legs“ und Schmerz</h2> <p>Das Restless-Legs-Syndrom (RLS) ist häufig mit MS assoziiert und oft begleitet von neuropathischen Schmerzen der unteren Extremität und phasischer Spastik. In der Marianne-Strauß-Klinik in Berg (Deutschland) wurden diese Zusammenhänge untersucht. Beim Großteil (88/130) der untersuchten MS-Patienten trat RLS 5–10 Jahre nach dem MS-Erkrankungsbeginn auf. 20 Patienten litten sowohl an RLS als auch an neuropathischen Schmerzen und schmerzhaften phasischen Spastiken. 38 Patienten wiesen zumindest zwei dieser Symptome auf. Auftreten und Manifestation des RLS zeigten eine hohe Variabilität unter den MS-Patienten. (Poellmann W et al, AAN 2017, P3.367)<br />Der neuropathische Schmerz bei MS-Patienten war auch Gegenstand der Untersuchungen von Javid Jahanroshan und seinem Team an der Universität Hacettepe (Ankara, Türkei). Obwohl die Pathologie der MS auf einer Demyelinisierung zentraler Neuronen beruht, leiden viele Patienten an neuropathischen Schmerzen in distalen Extremitäten, die durch eine Schädigung bzw. Dysfunktion von kleinen nicht myelinisierten Nervenfasern („small fibers“) verursacht werden. Das Team nahm bei MS-Patienten mit neuropathischen Schmerzen und einer Kontrollgruppe Hautbiopsien am Bein – proximal und distal – vor und bestimmte die intraepidermale Nervenfaserdichte (IENFD). Es stellte sich heraus, dass die IENFD bei den MS-Patienten von proximal nach distal abnimmt (von durchschnittlich 11,6 auf durchschnittlich 5,88) und dass die MS-Patienten mit neuropathischem Schmerz im distalen Bein generell eine niedrigere IEFND aufwiesen als die Kontrollgruppe. Obwohl MS eine demyelinisierende Erkrankung ist, scheinen also auch nicht myelinisierte Nerven betroffen zu sein, so die Schlussfolgerung der Autoren. Der Verlust an intraepidermalen Nervenfasern könnte der Grund für das Auftreten von neuropathischen Schmerzen bei MS sein. (Jahanroshan J er al, AAN 2017, P3.374)</p> <h2>Obstruktive Schlafapnoe</h2> <p>Forscher aus Israel untersuchten die Prävalenz von obstruktiver Schlafapnoe (OSA) bei MS-Patienten. Sie fanden ein hohes Risiko für OSA bei 50 % der Patienten und eine Korrelation mit der MS-Progression hinsichtlich ARR („annualized relapse rate“), EDSS (Expanded Disability Status Scale) und Hirnatrophie. Lediglich die Anzahl der MRI-Läsionen korrelierte nicht signifikant mit dem Auftreten von OSA. Die Autoren folgern, dass bei vielen MS-Patienten Fatiguesymptome reduziert und die allgemeine Leistungsfähigkeit erhöht werden könnten, wenn eine allenfalls vorhandene OSA erkannt und therapiert wird. (Sloane J, Siddiqui U, AAN 2017, P3.355)</p> <h2>Hirnatrophie reduziert</h2> <h2>Daclizumab</h2> <p>Der seit 2016 zugelassene Immunmodulator Daclizumab hat in der DECIDE-Studie bei Patienten mit schubförmiger MS gegenüber Interferon beta-1a zu einer signifikanten Reduktion der jährlichen Schubrate wie auch der Krankheitsaktivität im MRI geführt (Kappos L et al, N Engl J Med 2015; 373: 1418-28). Am AAN 2017 wurden nun die Resultate bezüglich Hirn­atrophie präsentiert. Der gesamte Hirnvolumenverlust zwischen Baseline und Woche 96 war unter Daclizumab signifikant niedriger als unter Interferon beta. Eine differenzierte Betrachtung des Thalamus und der kortikalen grauen Substanz in Woche 24 und 96 zeigte in beiden Arealen zu beiden Zeitpunkten die Überlegenheit von Daclizumab insofern, als signifikant weniger Veränderungen gegenüber Baseline zu verzeichnen waren als unter Interferon beta. Die Resultate zeigen, so die Autoren in ihrer Conclusio, dass mit Daclizumab der Hirngewebeverlust bei MS reduziert werden kann, was einen Benefit für Behinderungsprogression, kognitive Funktionen und funktionelle Outcomes bedeuten könnte. (Rose J et al, AAN 2017, S12.001)</p> <h2>Alemtuzumab</h2> <p>Auch zum Hirnvolumenverlust unter Alemtuzumab liegen neue Daten vor. Evaluiert wurde der Effekt bei Patienten, die im Rahmen der CARE-MS-Verlängerungsstudie von Interferon beta-1a auf Alemtuzumab umgestellt worden waren. Sie erhielten 2 Behandlungszyklen (Baseline: 5 Tage, nach 12 Monaten: 3 Tage) mit 12mg Alemtuzumab. Bei ihnen verbesserten sich nicht nur klinische Parameter, sondern auch die Hirnatrophie, erhoben als relative Veränderung in der Gehirnparenchymfraktion (BPF). Diese verlangsamte sich im Beobachtungszeitraum von 4 Jahren nach der Umstellung auf Alemtuzumab deutlich gegenüber den Vorjahren unter Interferon beta. Mehr als 70 % der Patienten benötigten während dieser Zeit auch keine Rückfallmedikation oder andere krankheitsmodifizierende Therapie. (Pelletier D et al, AAN 2017, S12.003)</p> <h2>Barrieren auf dem Weg zur Therapie</h2> <p>Bei der Fülle an heute vorhandenen krankheitsmodifizierenden Therapien für MS ist es besonders bedauerlich, wenn Patienten der Zugang zu diesen Medikamenten erschwert wird. Dies scheint in den USA ein besonderes Problem zu sein. Restriktionen der Krankenversicherungen bei der Abdeckung der Kosten haben nicht nur klinische und finanzielle Auswirkungen auf die Patienten, sondern auch emotionale. Dies zeigt eine Untersuchung der Plattform „PatientsLikeMe“ auf, die zusammen mit der Thomas Jefferson University (Philadelphia) und der Novartis Pharmaceuticals Corporation durchgeführt worden ist. Die Auswertung ergab, dass viele Patienten bei der Beschaffung von Medikamenten auf sich allein gestellt sind und nur auf ihr eigenes Wissen und ihre persönlichen Ressourcen zurückgreifen können. Als größtes Hindernis und als direkte Gefahr für die Therapieadhärenz erwies sich ein hoher Selbstbehalt bei den Therapiekosten. Viele MS-Patienten haben ohnehin schon mit krankheitsbedingten finanziellen Problemen zu kämpfen (Verlust des Arbeitsplatzes, Verlust des Versicherungsschutzes). Hohe Kosten für Medikamente stellen eine erhebliche zusätzliche Belastung dar. Zeit- und Energieaufwand, die in die Beschaffung von Medikamenten gesteckt werden müssen, sind für die Patienten Stressfaktoren, die in eine Krankheitsverschlechterung münden und in manchen Fällen sogar Rückfälle triggern. (Simacek K et al, AAN 2017, P3.333)<br />Quelle: <br />AAN Annual Meeting, 22.–28. April 2017, Boston</p></p>
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