
Migräne: «Wir können alle dazu beitragen, dass die Gesundheitsausgaben nicht ins Unermessliche steigen»
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Christoph Schankin
Leiter des Zentrums für Migräne und Kopfschmerzen
Bellevue Medical Group in Zürich
Vizepräsident der Schweizerischen Kopfwehgesellschaft
E-Mail: christoph.schankin@bmg-swiss.ch
Das Interview führte:
Dr. med. Felicitas Witte
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Vor 25 Jahren gab es nur eine Handvoll Medikamente zur Migräneprophylaxe. Heute stehen mit CGRP-basierten Medikamenten in der Schweiz sechs weitere zur Verfügung, sodass mehr Patienten geholfen werden kann. Warum er es trotzdem sinnvoll findet, zunächst mit den klassischen Prophylaktika zu beginnen, und was neue Antikörper und Techniken in Zukunft bringen werden, erklärt Prof. Dr. med. Schankin aus Zürich.
Prof. Schankin, als Sie in den frühen 2010er-Jahren in San Francisco angefangen haben, sich für Migräne zu interessieren – wie war da der Stand der Dinge?
C. Schankin: Wir Kopfschmerzfachleute waren fasziniert von den Erkenntnissen der grossen Migräneforscher: Migräne hat keine vaskulären oder psychosomatischen Ursachen, wie man bis in die 1990er-Jahre vermutete, sondern das «calcitonin gene-related peptide» (CGRP) spielt eine entscheidende Rolle. CGRP-Antikörper und Gepante (CGRP-Blocker) wurden zur Prophylaxe ab 2018 erstmals in den USA und dann auch in der Schweiz zugelassen. Wir hatten bis dahin zur Prophylaxe nur Betablocker, Flunarizin, Valproinsäure, Topiramat und Amitriptylin. Diese wirken zwar gut, problematisch waren und sind aber bis heute die Nebenwirkungen.
Wie erleben das die Patienten?
C. Schankin: Zum Teil beschreiben sie die Nebenwirkungen als sehr lästig und brechen die Therapie deshalb manchmal ab. Amitriptylin führt zum Beispiel häufig zu einer Gewichtszunahme und ist deshalb gerade bei den oftmals jungen Patienten nicht beliebt. Viele möchten das auch nicht nehmen, weil sie gelesen haben, es sei ein Antidepressivum, und sie hätten doch gar keine Depression. Man muss im Gespräch genau erklären, dass man das Medikament nicht gegen depressive Verstimmungen einsetzt, sondern gegen die Schmerzen. Betablocker senken den Blutdruck. Auch das ist für junge Patienten, die häufig einen niedrigen Blutdruck haben, eher ungünstig. Topiramat kann Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen verursachen, was natürlich im Job ziemlich lästig ist. Und es ist teratogen, was bei der typischen Patientenpopulation – Frauen im gebärfähigen Alter – riskant ist.
Wie war das, als die ersten Antikörper zugelassen wurden?
C. Schankin: Ich war begeistert. Endlich hatten wir eine spezifische Migränetherapie und nicht nur Medikamente, die eigentlich gegen andere Krankheiten entwickelt worden waren. Heute haben wir neben den vier Antikörpern zusätzlich noch vier Gepante, also CGRP-Rezeptor-Antagonisten (Tab.1), von denen zwei in der Schweiz zugelassen sind, nämlich Atogepant und Rimegepant. Trotzdem erreichen wir auch mit diesen Medikamenten nur bei maximal 6 von 10 Patienten eine Responderrate von 50%. Bei 2 von 5 Patienten wird die Migräne nicht deutlich besser mit Antikörpern oder Gepanten. Ein grosses Problem sehe ich in der Vorgabe des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), dass wir nicht auf ein anderes CGRP-basiertes Medikament switchen dürfen, wenn das erste nicht gewirkt hat (siehe Box). In anderen Ländern ist das möglich und ich kann die Entscheidung des BAG nicht nachvollziehen, vor allem nicht, dass wir nicht von einem Gepant zum Antikörper wechseln dürfen oder umgekehrt. Biologisch ist Migräne bei jedem Patienten anders und Gepante und Antikörper wirken unterschiedlich. Manchen Patienten kann möglicherweise ein Antikörper helfen, wenn das Gepant nicht geholfen hat.
Im Gegensatz zu Deutschland darf man in der Schweiz Gepante und Antikörper sofort verschreiben. Belastet das nicht unnötig das Gesundheitssystem?
C. Schankin: Auch hierzulande werden GCPR-Medikamente nicht einfach so erstattet. Man muss um eine Kostengutsprache ersuchen und es gibt eine Limitatio gemäss Spezialitätenliste: Der Patient muss lückenlos über mindestens drei Monate dokumentiert haben, dass er unter einer chronischen Migräne oder einer hochfrequenten episodischen Migräne mit starken Beschwerden leidet und dass ihm zwei klassische Prophylaktika, die er mindestens drei Monate genommen hat, nicht oder nicht genügend geholfen haben oder er sie nicht verträgt. Dieses stufenweise Vorgehen in der Limitatio finde ich sinnvoll. Wir können alle dazu beitragen, dass die Gesundheitsausgaben nicht ins Unermessliche steigen.
Wie gehen Sie in der Praxis vor?
C. Schankin: Ich schlage als Erstes eines der klassischen Medikamente vor. Wir haben als Ärzte eine Mitverantwortung für die Finanzierung des Gesundheitssystems: Eine Tagesdosis der Antikörper kostet bis zu 30-mal so viel wie eine der älteren Substanzen. Dabei wirken die klassischen Präparate vergleichbar gut wie die CGRP-Medikamente.1 Welches ich dann auswähle, hängt von den Begleiterkrankungen ab. Einer jungen Frau mit niedrigem Blutdruck würde ich beispielsweise keinen Betablocker verschreiben. Ist sie übergewichtig, würde sich vielleicht Topiramat eignen, denn das dämpft den Appetit, und wer Schlafprobleme hat, könnte von Amitriptylin profitieren. Einem ansonsten gesunden Menschen verschreibe ich als Erstes Betablocker, weil die am verträglichsten sind.
Wie lange muss der Patient dieTherapie nehmen, bis man weiss, ob sie wirkt?
C. Schankin: Verträgt ein Patient das Medikament gut, sage ich ihm, er soll es drei Monate nehmen. Wirkt es bis dahin nicht, probieren wir ein zweites. Bessert sich die Migräne damit auch nicht, bespreche ich mit ihm die verschiedenen Optionen, also ob er einen parenteralen Antikörper oder ein orales Gepant möchte und welches Präparat. Da die sechs in der Schweiz zugelassenen CGRP-Medikamente vergleichbar gut wirken, spielt es keine Rolle, welches man auswählt. Ich fühle mich aber manchmal unter Druck, das richtige zu finden, weil wir nicht wechseln dürfen. Manche Patienten lehnen Spritzen ab, denen verschreibe ich als Erstes Atogepant oder Rimegepant, weil diese oral genommen werden. Gepante sind auch gut für Frauen, die vielleicht schwanger werden möchten. Die Antikörper haben eine Halbwertszeit von einem Monat, sodass die Frau mindestens fünf Monate warten muss, bevor sie schwanger werden kann – bis die Antikörper abgebaut sind. Das Gepant dagegen ist nach wenigen Tagen aus dem Körper verschwunden. Manche Patienten wollen nicht jeden Tag an eine Tablette denken und spritzen sich die Antikörper lieber einmal pro Monat selbst. Das geht aber nur mit Erenumab, Fremanezumab und Galcanezumab, weil diese subkutan verabreicht werden. Eptinezumab muss intravenös gegeben werden, die Patienten brauchen hierfür aber nur alle drei Monate in die Praxis zu kommen. Ob ich Erenumab, Fremanezumab oder Galcanezumab verschreibe, entscheide ich bei ansonsten gesunden Patienten nach dem Zufallsprinzip. Für Patienten, die zu Obstipation neigen, eignen sich Erenumab und Galcanezumab weniger, weil diese recht häufig Verstopfung verursachen.
Gemäss einer rezenten Metaanalyse1 wirken Antikörper und Gepante nicht besser als die älteren Präparate. Was sagen Sie dazu?
C. Schankin: In der Studie geht es um episodische Migräne. Möglicherweise ist bei chronischer Migräne ein deutlicherer Effekt zu erkennen. Es ist denkbar, dass die CGRP-Medikamente bei schwächerer Migräne nicht wirksamer sind als die klassischen Präparate, sondern nur bei stärkerer. Wichtig ist, das den Patienten transparent zu erklären und ihnen keine falschen Hoffnungen zu machen. Ich sage den Patienten: Sie wirken ähnlich gut wie die alten Medikamente, verursachen aber weniger Nebenwirkungen und sind dabei teurer – das bekommen ja auch die Patienten zu spüren durch den Selbstbehalt.
Welchen Stellenwert haben nichtmedikamentöse Massnahmen?
C. Schankin: Ich halte viel davon. Im akuten Anfall können Akupunktur, externe transkutane Stimulation des N. trigeminus im supraorbitalen Bereich und Vasokonstriktionstraining, also Blut-Volumen-Puls-Biofeedback, helfen. Prophylaktisch erreicht man mit einer Kombination aus medikamentösen und nichtmedikamentösen Verfahren eine höhere Wirksamkeit als mit einem Verfahren allein. Am Anfang der Behandlung können Patienten Entspannungsverfahren, kognitive Verhaltenstherapie und Biofeedback statt konventioneller medikamentöser Prophylaxe probieren, denn sie sind vergleichbar effektiv. Man kann in einem multimodalen Ansatz auch medikamentöse und nichtmedikamentöse Prophylaxe kombinieren. Auch Ausdauersport wird in der Leitlinie empfohlen, wobei unklar ist, ob der Sport generell zur Entspannung führt oder spezifische Wirkungen hat.
Welche Therapien sind in der Pipeline?
C. Schankin: Interessant finde ich den neuen Ansatz mit PACAP-Antikörpern. PACAP steht für «pituitary adenylate cyclase-activating polypeptide», ein Protein, das ebenso wie CGRP Migräneanfälle zu triggern scheint. Ein PACAP-Antikörper wird in Phase-II-Studien getestet.2 Eine Infusion mit dem Antikörper reduzierte die Zahl der Migräneattacken besser als Placebo.3 Wir müssen aber erst einmal die weiteren Studien abwarten, und ob der PACAP-Antikörper wirksamer ist als die CGRP-Medikamente. Es wäre zu hoffen, dass wir damit den 2 von 5 Patienten mit schwerer und häufiger Migräne helfen können, denen zurzeit keine Prophylaxe hilft. Es gibt auch immer mehr Neuromodulationsverfahren, zum Beispiel über Oberarmstimulation (Nerivio®) oder mittels endonasaler Ballonvibration (Ozilia®). Es gibt allerdings bisher kaum Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit. Ich sehe dafür aber kein grosses Nebenwirkungsrisiko. Möchte der Patient das ausprobieren, rate ich ihm nicht davon ab.
Werden wir Migräne irgendwannheilen können?
C. Schankin: Ich denke nicht. Die Krankheit ist genetisch bedingt, wobei viele Gene involviert sind. Wir können also nicht einfach «das» Migränegen mittels Gentherapie heilen. Aber mit den Behandlungsmöglichkeiten, die wir jetzt haben und die in Zukunft noch kommen werden, können wir die Migräne so gut behandeln, dass fast jeder Patient ein beinahe normales Leben führen kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 Damen JAA et al.: Comparative effectiveness of pharmacologic treatments for the prevention of episodic migraine headache: a systematic review and network meta-analysis for the American College of Physicians. Ann Intern Med 2025; 178(3): 369-80 2 https://clinicaltrials.gov/search? intr=%20Lu%20AG09222 3 Ashina M et al.: A Monoclonal antibody to PACAP fo r migraine prevention. N Engl J Med 2024; 391(9): 800-9
Zum Nachlesen:
● Deutsche Leitlinie: Diener H-C et al.: S1-Leitlinie, 2022, DGN und DMKG. In: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie. Online: www.dgn.org/leitlinien (abgerufen am 18.07.2025) ● Schweizer Behandlungsempfehlungen: https://www.headache.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/Portrait/Therapiekommission/PDFs/Therapieempfehlungen_2023_11.1.pdf
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