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Stellenwert der Deszensuschirurgie

Interstitielle Zystitis/Blasenschmerzsyndrom: Paradigmenwechsel erforderlich

Beckenschmerzen und Harndrangbeschwerden – die Leitsymptome derInterstitiellen Zystitis/des Blasenschmerzsyndroms – werden auch durch urogenitalen Deszensus verursacht und können in hohen Prozentsätzen chirurgisch geheilt werden. Da dies in den bisherigen Leitlinien nicht dargestellt ist, ist ein Paradigmen-wechsel erforderlich.

Keypoints

  • Das IC/BPS-Management bedarf eines Paradigmenwechsels, da aktuelle Konzepte nicht zufriedenstellend sind.

  • Eine prospektive Untersuchung zeigt, dass ein Großteil der IC/BPS-Symptome bei Frauen durch einen vaginalen Prolaps verursacht sein dürfte.

  • Bei Frauen mit IC/BPS-Symptomen sollte eine urogynäkologische Untersuchung zur Erfassung von Prolapszuständen (auch von Grad 2) durchgeführt werden.

  • Simulationen können individuelle Hinweise bei betroffenen Frauen geben, um mögliche Indikationen für eine langfristige chirurgische Heilung der IC/BPS-Symptome zu finden.

Das Syndrom interstitielle Zystitis/Blasenschmerz (IC/BPS) weist mannigfache klinische Phänotypen auf.1–3 Die European Society for the Study of Interstitial Cystitis (ESSIC) hat diesen Begriff im Konsens geschaffen4 und auch eine Klassifizierung vorgenommen. Die Diagnose sollte basieren auf dem Vorhandensein on chronischen, länger als 6 Monate bestehenden Beckenschmerzen, Druck oder Unwohlsein, die in Bezug zur Blase gebracht werden, und gleichzeitig sollte wenigstens 1 Symptom wie persistierender Harndrang oder häufige Miktionsfrequenz vorliegen. Ausgeschlossen sollen ein Vielzahl von Erkrankungen werden, die ähnliche Symptome verursachen können,4–6 als „confusing disease“ bezeichnet werden,7 zumindest erkannt werden sollen und spezieller Therapie zugänglich sind. Eine Dokumentation und Klassifikation können entsprechend den Befunden einer Zystoskopie mit Hydrodistension und Befunden einer Blasenbiopsie vorgenommen werden. Weltweit herrscht derzeit eine große Unklarheit bezüglich dieses komplexen Krankheitsbildes.7 Die Ätiologie wird weiterhin als unbekannt dargestellt1 bzw. werden viele mögliche pathophysiologische Mechanismen diskutiert,5 von denen keine zufriedenstellend ist.

Nach zystoskopischen Befunden wird unterschieden zwischen Hunner-Läsionen, rötlichen mukosalen Läsionen mit abnormalen radialen kapillären Strukturen (ESSIC-Typ 3), und Glomerulationen, mukosalen Blutungen nach Blasendistension bis hin zu Wasserfall-Befunden ohne Hunner-Läsionen (ESSIC-Typ 2) oder Fehlen von Glomerulationen (ESSIC-Typ 1).

Histologisch lassen sich nach Messing und Stamey 8 typischerweise submuköses Ödem und Vasodilatation nachweisen, während die Präsenz von eosinophilen und Mastzellen variabel ist. Die Tunica muscularis erscheint oft normal. Johansson und Fall9 fanden in klassischen Fällen mukosale Ulzerationen und Hämorrhagien, Granulationsgewebe, inflammatorische Infiltrate, eine erhöhte Mastzell-anzahl und perineurale Infiltrate. Kim et al.10 beobachteten, dass schwere und moderate Fibrosierungen häufiger bei Nicht-Hunner-type-IC gefunden wurden. Schwere und moderate Entzündungen werden häufiger in Hunner-IC gesehen. In der aktuellen S2k-AWMF-Leitlinie ist eine Vielzahl von Therapien aufgeführt, die großen Konsens in der Leitliniengruppe fanden, allerdings haben inadäquate klinische Studien widersprüchliche Daten und keine klare Evidenz erbracht,5 sodass auch hier Unklarheiten bestehen. Auffällig ist, dass Frauen 4,8 bis 10,7-mal häufiger an IC/BPS leiden als Männer (Tab. 1). Somit scheint ein weiblicher Faktor eine wesentliche Rolle zu spielen.

Tab. 1: Verhältnis Männer zu Frauen bei interstitieller Zystitis; *Anzahl Frauen/AnzahlMänner

Führt urogenitaler Deszensus bei Frauen zu Symptomen von IC/BPS?

Sowohl in den Leitlinien zum chronischen Beckenschmerz-Syndrom, zur interstitiellen Zystitis als auch jenen zum Blasenschmerzsyndrom und auch jenen zur überaktiven Blase ist der urogenitale Deszensus der Frau („pelvic organ prolapse“) bislang nicht als ätiologischer Faktor genannt.5,6,11–13

In den letzten Jahren wurde jedoch Evidenz geschaffen, dass Frauen mit urogenitalem Deszensus, die sowohl an Harndrangbeschwerden als auch häufig an Schmerzen leiden, chirurgisch heilbar sind.

Schmerzen verursacht durch urogenitalen Deszensus

Petros14 hat bereits 1997 festgestellt, dass Frauen mit urogenitalem Deszensus an massiven Beckenschmerzen leiden können, die durch Prolapskorrektur in 70% geheilt werden. Goeschen15 hat ausführlich beschrieben, wie lockere sakro-uterine Bänder zu Schmerzen führen können und auch durch Prolapskorrektur geheilt werden können.16

Insbesondere bei apikalem Deszensus besteht eine Hypermobilität des Scheidenabschlusses bzw. der Zervix. Der Plexus pelvicus, der von parasympathischen Nervenfasern von S2–S4 und sympathischen Nervenfasern von Th12–L2 versorgt wird, kann durch die wiederkehrenden Senkungen bei Belastung gezerrt werden, was zu Schmerzen führen kann. Tabelle 2 zeigt die Ergebnisse aus der PROPEL-Studie.17 Hierbei wurden 6 Fragen zu Schmerzen prä- und postoperativ gestellt: Schmerzen im anterioren Bereich (Schmerzen im unteren Bauch), viszeralen Charakters (Unwohlsein, Schweregefühl, Dumpfheit) und im posterioren Bereich (Kreuzschmerzen). Die präoperativen Häufigkeiten von Schmerzen mäßiger oder starker Ausprägung schwankten zwischen 22,8 und 40,8%. 1 Jahr nach Prolapskorrektur waren vor allem die anterioren und viszeralen Schmerzen in 75–85% der Fälle geheilt.

Tab. 2:Häufigkeiten und Heilungsraten unterschiedlicher moderater und starker Schmerzen bei Frauen mit symptomatischem urogenitalem Deszensus 2.–4. Grades vor und 1 Jahr nach Beckenbodenrekonstruktion mit dem Elevate-System; Daten der PROPEL-Studie (modifiziert nach Liedl B et al.)17 *R2: Schmerzen moderater und starker Ausprägung. PFDI: „pelvic floor disorder inventory questionnaire“, **Verschwinden moderater und starker Beschwerden

Symptome überaktiver Blase verursacht durch vaginalen Prolaps

Petros und Ulmsten18 haben bereits 1993 festgestellt, dass Harndrangbeschwerden durch urogenitalen Deszensus verursacht und chirurgisch geheilt werden können. Als Pathomechanismus für die Harndrangbeschwerden haben sie Dehnungsrezeptoren am Blasenboden postuliert, die bei lockerer vorderer Scheidenwand schon bei geringer Blasenfüllung gedehnt werden und damit Harndrang auslösen und über afferente sowie efferente Nervenfasern sogar zu Harndranginkontinenz führen können.19,20 Sie beschrieben eine vorzeitige Aktivierung des Miktionsreflexes.

Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse der Propelstudie diesbezüglich.21 Die Symptome Pollakisurie tagsüber, Harndrang, Harndranginkontinenz und Nykturie mäßiger und starker Ausprägung bestanden präoperativ bei 32,7–55,8%. Die Heilungsraten 1 Jahr postoperativ lagen zwischen 64 und 83%. Die Tabelle zeigt auch, dass Prolapszustände 2. Grades präoperativ sogar eher häufiger mit Symptomen assoziert waren als Prolaps 3.–4. Grades und dass die Heilungsraten ähnlich hoch waren. Diese hohen Heilungsraten wurden von anderen Autoren verifiziert, die eine ligamentäre Rekonstruktion vornahmen.22 Je besser die langfristige Prolapskorrektur gelang, umso besser waren die Heilungsraten im Verlauf von bis zu 2 Jahren postoperativ. Da vaginaler Prolaps 2. Grades nur bei starkem Pressen zu erkennen ist, wurde bei den eigenen Patienten immer wieder beobachtet, dass ein Prolaps 2. Grades trotz vorangegangener urologischer oder gynäkologischer Untersuchung (ohne POP-Q-Messung) nicht erkannt wurde.

Tab. 3: Häufigkeiten und Heilungsraten von Symptomen überaktiver Blase bei Frauen mit symptomatischem urogenitalem Deszensus 2.–4. Grades vor und 1 Jahr nach Beckenbodenrekonstruktion mit dem Elevate-System, Daten der PROPEL-Studie (modifiziert nach Liedl B et al.)21 *R2: Beschwerden moderater und starker Ausprägung, **Verschwinden moderater und mäßiger Beschwerden, PFDI: „pelvic floor disorder inventory questionnaire“

Weitere Analysen zeigten, dass die Harndrang- und Schmerzsymptome in 42–65% koexistent waren und dass in diesen Fällen sowohl Schmerz- als auch Harndrangsymptome in ähnlichemAusmaß geheilt wurden.

Vaginaler Deszensus bei Frauen mit Schmerzsymptomen (<6 Monaten) und Harndrangbeschwerden

Zur Klärung der Häufigkeit von vaginalem Deszensus bei Frauen mit Schmerzsymptomen (<6 Monaten) und Harndrangbeschwerden erfolgte eine prospektive Untersuchung am Zentrum für rekonstruktive Urogenitalchirurgie der Urologischen Klinik München-Planegg (Ethikvotum Nr. 22002, Ethikkommission der Bayerischen Landesärztekammer). 52 Frauen, die sich mit diesen Beschwerden vorstellten und die Kriterien der Diagnose IC/BPS erfüllten, wurden sorgfältig urogynäkologisch untersucht. Von den 52 Frauen wiesen 65% mindestenseinen Prolaps 2. Grades nach POP-Q und 31% einen Descensus 1. Grades nach POP-Q auf. Von den Frauen mit Prolaps mindestens2. Grades hatten sich bereits einige einer vaginalen Prolapskorrektur unterzogen und berichteten eine Verminderung ihrer Beschwerden.

Diskussion und Schlussfolgerung

Das IC/BPS bedarf dringend eines Paradigmenwechsels,23 da die bisherigen Konzepte nicht zufriedenstellend sind. Scheffler et al.24 konnten bei einer Patientin mit typischen IC/BPS-Symptomen, mit nichtulzerativen Hunner-Läsionen und histologisch vermehrter Mastzellvermehrung Harndrangbeschwerden und Schmerzsymptome durch vaginale Korrektur des bestehenden Prolaps zur Rückbildung bringen, was über einem Zeitraum von 3 Jahren anhielt. Petros25,26 sowie Goeschen et al.27 haben bereits daraufhingewiesen, dass Symptome von IC/BBPS durch vaginalen Prolaps verursacht und chirurgisch geheilt werden können.

Als Pathomechanismus für die Schmerzsymptome wurde bereits die Zerrung der Fasern des Plexus pelvicus genannt, wobei hierbei durchaus nervale Läsionen auftreten können. Diese Läsionen können eine neurale Inflammation28,29 in Gang bringen, die auch das Endorgan Blase in Mitleidenschaft ziehen kann. Folge dieser Triggerung von neuraler Inflammation kann auch eine Mastzellausschüttung sein,30-32 die bei interstitieller Zystitis häufig nachweisbar ist. Die seit Langem bekannte Beobachtung einer perineuralen Infiltration von Entzündungszellen bei Patienten in der Blase bei Patienten mit interstitieller Entzündung9 unterstützt diese Hypothese.

Aufgrund der vorgelegten Ergebnisse kann ein Großteil der Symptome von IC/BPS durch vaginalen Prolaps der Frau verursacht sein. Dieser ätiologische Faktor wurde bisher in den Leitlinien zu chronischem Blasenschmerzsyndrom und interstitieller Zystitis nicht angegeben, bietet aber die Chance einer langfristigen chirurgischen Heilung.

Somit sollten alle Frauen mit Symptomen einer IC/BPS einer sorgfältigen urogynäkologischen Untersuchung zur Erfassung auch von Prolapszuständen2. Grades zugeführt werden. Ausgiebige Erfassung aller Symptome von über- und unteraktiver Blase, anorektalen Dysfunktionen und auch Schmerzen mit möglichst validierten Fragebögen sind sehr hilfreich in der Diagnostik. Die Feststellung des Prolapsgrads sollte entsprechend den POP-Q-Empfehlungen unter maximalem Pressen erfolgen, weil nur dadurch das wahre Ausmaß des Deszensus erkannt werden kann. Simulationen können individuelle Hinweise ergeben, dass Beschwerden wie Harndrangbeschwerden und Schmerzen prolapsbedingt sind.20 Dann besteht die Möglichkeit, Indikationen für die langfristige chirurgische Heilung von Symptomen von IC/BPS zu finden, sodass Frauen mit diesen stark einschränkenden Symptomen geholfen werden kann.

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