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Münchner AIDS-Tage und DAIG-Webinar

Ein Plädoyer für frauenspezifische Themen

Ende März 2022 fanden die Münchner AIDS- und Covid-Tage statt und Anfang April 2022 gab es ein Webinar, welches von der Deutschen AIDS Gesellschaft (DAIG) durchgeführt und gemeinsam mit der Österreichischen AIDS Gesellschaft (ÖAG) beworben wurde. Beide Events boten ein starkes Plädoyer für mehr Aufmerksamkeit gegenüber frauenspezifischen medizinischen Themen im Zusammenhang mit HIV.

Weltweit leben knapp 20 Millionen junge Mädchen und Frauen mit HIV. Global gesehen, machen sie mit 53% mehr als die Hälfte der gesamten HIV-positiven Bevölkerung aus.1 Rein statistisch liegt es also auf der Hand, dass unterschiedlichste frauenspezifische Themen, sei es zu HIV-Behandlung und -Betreuung oder z.B. zu sämtlichen Aspekten rund um die reproduktive Gesundheit, dementsprechend gewichtet sein sollten. Dennoch erhalten ungeachtet dieser Tatsache manche Themen meist keine adäquate bzw. ausreichende Aufmerksamkeit. Einige Aspekte, welche unter anderem bei den oben genannten Fortbildungen angesprochen wurden, sollen hier exemplarisch zusammenfasst werden.

Epidemiologische Dynamiken erzeugen unterschiedliche Wahrnehmung

Die unterschiedliche Wahrnehmung von Frauen in der HIV-Epidemiologie ist unter anderem in regional sehr verschiedenen epidemiologischen Situationen begründet. So stellen z.B. in Westeuropa MSM (Männer, die Sex mit Männern haben) die größte von HIV betroffene Gruppe dar. Frauen machen hier einen vergleichsweisen kleinen Anteil der HIV-positiven Bevölkerung aus. In Österreich sind laut Bericht der Austrian HIV Cohort Study (AHIVCOS) knapp 25% aller HIV-positiven Personen, die im intramuralen Bereich betreut werden, Frauen.2 In den niedergelassenen Schwerpunktordinationen ist der Frauenanteil zumeist nochmals deutlich geringer. In Deutschland zeigt sich ein ähnliches Bild. Das Robert-Koch-Institut gibt den Frauenanteil mit 19% der gesamten HIV-positiven Bevölkerung an.3

Aufgrund dieser geringeren Fallzahlen werden HIV-positive Frauen in Westeuropa oftmals nicht so stark wahrgenommen. Gleiches gilt für Mutter-Kind-Transmissionen, welche dank der ausgezeichneten Versorgungstruktur in westlichen Industrieländern eher selten sind. In anderen Regionen der Welt ist dies zur Gänze anders gelagert, hier stellen Mädchen und Frauen die größte Gruppe in der HIV-positiven Bevölkerung dar. Die epidemiologische Dynamik und damit auch Wahrnehmung in einer Region kann keinesfalls mit der globalen Situation gleichgesetzt werden.

Klinische Studien repräsentieren nicht die globale Epidemie

Ebenfalls keinesfalls repräsentativ für die globale HIV-Statistik sind im Regelfall große klinische Studien, wie eine rezente Publikation deutlich aufzeigte.4

Betrachtet man die globale Verteilung der HIV-positiven Bevölkerung in Hinblick auf ethnische Hintergründe und Geschlecht, dann ergibt sich folgendes Bild:

  • 42% sind schwarze Frauen,

  • 30% schwarze Männer,

  • 6% weiße Männer und

  • 3% weiße Frauen.

  • Weitere 19% verteilen sich auf andere Ethnien.

Eine Analyse von 24 klinischen Phase-III-Studien der letzten Jahre zu unterschiedlichen antiretroviralen Substanzen, in die insgesamt etwa 19000 Personen inkludiert waren, zeichnete hingegen folgende durchschnittliche Verteilung auf:

  • 7% der Teilnehmenden waren schwarze Frauen,

  • 17% schwarze Männer,

  • 13% weiße Frauen und

  • 50% weiße Männer.

Schwarze Frauen sind demnach am stärksten unterrepräsentiert, weiße Männer hingegen am deutlichsten überrepräsentiert.

Die Studien bieten daher kaum bzw. gar keine Möglichkeiten, potenzielle Unterschiede hinsichtlich des ethnischen Hintergrunds oder des Geschlechts deutlich aufzuzeigen bzw. abzubilden und damit der realen globalen Statistik gerecht zu werden.

Verzögerung bei Daten zu antiretroviralen Substanzen in der Schwangerschaft

Die effektive HIV-Therapie mit supprimierter Virämie bei Schwangeren ist der Grundpfeiler in der Reduktion von Mutter-Kind-Transmissionen. Jedoch stellt der Einsatz antiretroviraler Substanzen die HIV-Behandler immer wieder vor große Herausforderungen.

Hintergrund ist die schwache bzw. de facto nicht existente Datenlage aus klinischen Studien in Bezug auf Schwangerschaft bzw. potenzielle Teratogenität. Aus ethischen Gründen werden Schwangere, aber auch Frauen mit Kinderwunsch oder Frauen in gebärfähigem Alter ohne nachweisliche Kontrazeption aus klinischen Studien ausgeschlossen. Daten hierzu erschließen sich somit erst durch jahrelange Beobachtungen und Kohortenstudien außerhalb klinischer Zulassungsstudien. Globale und nationale Schwangerschaftsregister spielen hier eine teils unterschätzte Rolle.

Es wurde auf eine Publikation hingewiesen, welche sich dezidiert mit dieser Zeitverzögerung auseinandersetzt.5 Im Schnitt vergehen sechs Jahre zwischen der Erstzulassung und den ersten publizierten Daten zum Einsatz des Wirkstoffs in der Schwangerschaft (Abb. 1).

Abb. 1: Zeitraum zwischen FDA-Zulassung und Publikation von Daten zur Einnahme von antiretroviralen Medikamenten in der Schwangerschaft (modifiziert nach Colbers A et al. 2019)5

Die Expertinnen des DAIG-Webinars schlossen sich der Frage der Autoren an, ob es trotz der klaren ethischen Beweggründe, schwangere und stillende Frauen nicht in Studien zu inkludieren, nicht ebenso ein unethischer Aspekt sei, dies eben nicht zu tun.

Denn Realität ist, dass Medikamente nach ihrer Zulassung auch bei schwangeren Frauen zur Anwendung kommen. Eine mögliche Risikoexposition erfolgt dann ohne Datenbasis und außerhalb eines kontrollierten Studiensettings. Dies ist eine für alle Beteiligten herausfordernde Situation – sowohl für die betreuenden Ärzte als auch die Frauen und ihre Kinder.

HIV-Medikamente in der Schwangerschaft: Realität unabhängig von der Datenlage

Die Realität von Schwangerschaften und damit auch der Einsatz von Medikamenten ohne ausreichende Daten hierzu sieht eindeutig anders aus als im definierten Studiensetting. Dies wurde unter anderem an einer Publikation aus der Schweizer HIV-Kohortenstudie aufgezeigt, in die etwa 3000 Frauen im Alter zwischen 18 und 49 Jahren inkludiert waren.6 Die Umfrage zeigte auf, dass nur 56,3% der sexuell aktiven Frauen, dienichtverhüteten, auch eine Schwangerschaft aktiv in Betracht zogen. Bei den Frauen mit Verhütung kam es bei 16% zu einer ungeplanten Schwangerschaft. Das Kondom war mit 73,4% die häufigste Verhütungsmethode, andere Optionen fanden mit 4,7–10,7% nur eine geringe Anwendung. Auch andere Studien mit HIV-positiven Frauen bestätigen dieses Bild bei der Wahl der Verhütung. Die Autoren sehen ein Erklärungsmodell in der möglichen Verunsicherung ob potenzieller Wechselwirkungen zwischen HIV-Therapie und hormonellen Kontrazeptiva.

Die Daten zeigen auf, dass sexuell aktive HIV-positive Frauen auch ohne aktuellen Kinderwunsch entweder keine Verhütung einsetzen oder es trotz Kontrazeption zu ungeplanten Schwangerschaften kommt. Die Einnahme aller HIV-Medikamente während einer Schwangerschaft ist Realität. Umso mehr stellt sich die oben genannte Frage, wie die Datenlücke zu Therapie während Schwangerschaft und Stillperiode früher geschlossen werden kann, damit Frauen und ihren potenziellen Kindern die bestmögliche HIV-Behandlung ohne Verunsicherung zur Verfügung steht.

18. Münchner AIDS- und Covid-Tage 2022 von 25.–27.3.2022 in München • DAIGinar „Sex und Gender in der Medizin“; Vortrag von Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Leiterin der Gender Medicine Unit der Medizinischen Universität Wien, und PD Dr. Karoline Aebi-Popp, Gynäkologin am Lindenhofspital in Bern, vom 30.3.2022

1 UNAIDS: Global HIV & AIDS statistics. Juni 2021 2 Zangerle R et al.: 41st Report of the Austrian HIV Cohort Study. November 2021 3 Robert Koch Institut: Epidemiologisches Bulletin 47/2021 4 Pepperrell T et al.: Phase 3 trials of new antiretrovirals are not representative of the global HIV epidemic. J Virus Erad 2020; 6(2):70-3 5 Colbers A et al.: Importance of prospective studies in pregnant and breastfeeding women living with human immunodeficiency virus. Clin Infect Dis 2019; 69(7): 1254-8 6 Hachfeld A et al.: Decrease of condom use in heterosexual couples and its impact on pregnancy rates: the Swiss HIV Cohort Study (SHCS). HIV Med 2022; 23(1): 60-9

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