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Epidemiologische Daten zur Tonsillektomie in Österreich

<p class="article-intro">In den Jahren 2006/2007 starben in Österreich fünf Kinder im Alter unter sechs Jahren infolge von Blutungen nach vollständiger Entfernung der Gaumenmandeln (Tonsillektomien). Die HNO-Ärzteschaft wurde durch Presseberichte auf diese Häufung aufmerksam, es gab bis dahin keine statistischen Daten.</p> <hr /> <p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_istock-531918370_web.jpg" alt="" width="820" height="324" /></p> <p>Berichte &uuml;ber Todesf&auml;lle kannte man nur vom &bdquo;H&ouml;rensagen&ldquo;, &bdquo;Genaueres&ldquo; war nicht bekannt. Die Todesf&auml;lle f&uuml;hrten in &Ouml;sterreich zu einem Umdenken hinsichtlich der OP-Indikationen und der OP-Technik. Es kam zu einer &Auml;nderung der intraoperativen Blutstillungsverfahren sowie der pr&auml;operativen Diagnostik von Blutungsneigungen und zu Adaptierungen bei den Operationsverfahren. Statt eine komplette Aussch&auml;lung der Mandeln (Tonsillektomie) vorzunehmen, wurden vor allem bei Kindern neuere Operationstechniken zur Verkleinerung der Mandeln unter Belassung der Tonsillenkapsel (Tonsillotomie) eingesetzt.</p> <h2>Indikationen zur Entfernung der Tonsillen</h2> <p>Dies wurde in einem Konsensuspapier von den HNO-Fach&auml;rzten und den Fach&auml;rzten f&uuml;r Kinder- und Jugendheilkunde erarbeitet, festgelegt und Ende des Jahres 2007 publiziert. Darin finden sich drei Hauptindikationen zur Entfernung der Gaumenmandeln bei Kindern: <br />a) starke Vergr&ouml;&szlig;erung (Hyperplasie) der Gaumenmandeln mit Luftwegsobstruktion <br />b) wiederholte schwere Infektionen der Gaumenmandeln <br />c) Verdacht auf einen b&ouml;sartigen Tumor der Gaumenmandeln</p> <h2>Hyperplasie der Gaumenmandeln</h2> <p>Die Hyperplasien sind die h&auml;ufigsten Pathologien im Kleinkindesalter, sie f&uuml;hren zu einer behinderten Nasenatmung, dauernder Mundatmung, gest&ouml;rter Zungenlage, gest&ouml;rter Entwicklung der Kiefer- und Zahnstellung und zu Aussprachefehlern (Artikulationsst&ouml;rungen). Weiters sind damit chronisch-rezidivierende Infektionen der Nase und Nebenh&ouml;hlen und Schlafst&ouml;rungen durch n&auml;chtliche Atemaussetzer (sog. obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, OSAS) mit Tagesm&uuml;digkeit, Gedeih- und Entwicklungsst&ouml;rungen urs&auml;chlich in Zusammenhang zu bringen.</p> <p>Bei Kindern vor dem 6. Lebensjahr sollte daher zur Verbesserung der mechanischen Obstruktion der oberen Atemwege keine Tonsillektomie, sondern eine Adenoidektomie und/oder eine Teilresektion der Gaumenmandeln (Tonsillotomie) durchgef&uuml;hrt werden.</p> <h2>Infektionen der Gaumenmandeln</h2> <p>Entz&uuml;ndliche Erkrankungen des lymphatischen Rachenringes sind bei Kleinkindern zwar ebenfalls h&auml;ufig, aber nicht immer kausal behandlungsbed&uuml;rftig. F&uuml;r die Indikation einer Tonsillektomie ist als Hauptkriterium die H&auml;ufigkeit bakterieller Infektionen festgelegt worden. Empfohlen wird eine Tonsillektomie, wenn j&auml;hrlich f&uuml;nf oder mehr Tonsillitiden in mindestens zwei aufeinanderfolgenden Jahren oder sieben oder mehr Tonsillitiden innerhalb eines Jahres aufgetreten sind. Als Zusatzkriterien sind tonsill&auml;res Exsudat, Fieber &gt;38,3&deg;C, vergr&ouml;&szlig;erte Kieferwinkellymphknoten, eine gute &auml;rztliche Dokumentation und eine hinsichtlich Dauer und Dosis ausreichende antibiotische Behandlung zu nennen.</p> <h2>B&ouml;sartige Tumoren der Gaumenmandeln</h2> <p>Maligne Tumoren der lymphatischen Gewebe im Rachen sind zum Gl&uuml;ck im Kindesalter sehr selten.</p> <h2>Positive Auswirkung der Empfehlungen auf die Praxis</h2> <p>Nach anf&auml;nglicher Skepsis sind diese Empfehlungen sehr rasch in die Praxis umgesetzt worden und seither sind keine Todesf&auml;lle durch Nachblutungen bei Kindern mehr aufgetreten. Jetzt, nach 10 Jahren, wurden im Auftrag der &Ouml;sterreichischen Gesellschaft f&uuml;r Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie zu diesem Themenkomplex Daten erhoben und ausgewertet. Es sollte der Frage nachgegangen werden, wie sich die Operationszahlen und das Operationsverhalten in &Ouml;sterreich durch diese Ereignisse ge&auml;ndert haben und wie sich dieses therapeutische Konzept im Vergleich zu den Daten aus Europa bzw. vor allem aus den Nachbarl&auml;ndern einordnen l&auml;sst.</p> <p>Dazu wurden dankenswerterweise Daten aus der &Ouml;GIS-Datenbank vom Bundesministerium f&uuml;r Gesundheit zur Verf&uuml;gung gestellt und frei zug&auml;ngliche Daten der &ouml;sterreichischen Krankenanstalten (www.spitalskompass.at) herangezogen. Vergleichsdaten der europ&auml;ischen L&auml;nder wurden aus der Hospital-Morbidity-Database der WHO-Europasektion sowie der Destatis-Datenbank der BRD entnommen, wobei Letztere eine enorme Informationsf&uuml;lle hinsichtlich Eingriffsspezifit&auml;t, Altersstruktur und regionaler Eingriffsverteilung aufweist.</p> <p>Aus diesem Datenmaterial ist eindeutig zu erkennen, dass Eingriffe am lymphatischen System im HNO-Bereich (Gaumenmandeln = Tonsillen; Rachenmandeln, &bdquo;Polypen&ldquo; = Adenoide) in den westlichen Industriel&auml;ndern in den letzten 25 Jahren insgesamt r&uuml;ckl&auml;ufig sind. Die Abbildungen 1 bis 3 zeigen den R&uuml;ckgang der Operationsfrequenzen. Bis in das Jahr 2002 bestand in &Ouml;sterreich im Vergleich zu den Nachbarl&auml;ndern eine hohe Operationsfrequenz. Nach den Todesf&auml;llen in den Jahren 2006 und 2007 kam es zu einem dramatischen R&uuml;ckgang der Tonsillektomien vor allem bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen. Die alternative Operationstechnik der Tonsillotomie hat aber den starken R&uuml;ckgang der Operationsfrequenzen nur gering beeinflusst. Aus der Abbildung 1 ist ersichtlich, dass f&uuml;r alle Altersgruppen bereits vor den tragischen Ereignissen 2006/2007 die Operationsfrequenzen f&uuml;r die Adenotomie und Tonsillektomie gesunken sind und es zu einem dramatischen Einbruch der OP-Frequenzen in den Jahren 2006 bis 2008 mit einem R&uuml;ckgang der Zahl der Adenotomien um 40 % und der Tonsillektomien um 62 % gekommen ist. Die Adenotomierate ist seither ann&auml;hernd konstant geblieben, die Tonsillektomiefrequenzen sinken weiterhin nur mehr gering. Die alternative OP-Methode der Tonsillotomie, welche erst 2007 als Leistung kodiert werden konnte, hat nur zu einem geringen Teil die fr&uuml;heren Tonsillektomiefrequenzen erreicht.</p> <p>Ein besonders starker R&uuml;ckgang der Frequenzen bei den Tonsillektomien ist zwischen 2006 und 2010 zu erkennen. In der Kleinkindesaltersgruppe (0&ndash;5 Jahre) kam es w&auml;hrend des Beobachtungszeitraumes insgesamt zu einem R&uuml;ckgang der Operationsfrequenz um 87 % , bei den 6- bis 15-J&auml;hrigen zu einer Reduktion um 56 % und auch bei den Erwachsenen kam es zu einem deutlichen R&uuml;ckgang um 37 % , obwohl diese Patientengruppe gar nichts mit dem Konsensuspapier zu tun hat (Abb. 2). <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_seite45.jpg" alt="" /> <img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Jatros_Pneumo_1701_Weblinks_seite46.jpg" alt="" /></p> <h2>Eingriffe im europ&auml;ischen Vergleich</h2> <p>Im europ&auml;ischen Vergleich sind starke Unterschiede in den einzelnen Staaten und im Vergleich der Staaten untereinander erkennbar. Exakte und vergleichbare Zahlen &uuml;ber die Operationsfrequenzen existieren nicht. Ein verwertbarer Index sind aber die station&auml;ren Aufnahmen aufgrund von &bdquo;chronischen Erkrankungen der Tonsillen und Adenoide&ldquo;, welche fast ausschlie&szlig;lich operativ und nicht konservativ behandelbar sind. Betrachtet man die Nachbarstaaten, dann sind die Operationsfrequenzen auch heute noch in Ungarn und Tschechien hoch, in Italien und der Schweiz niedrig und &Ouml;sterreich n&auml;hert sich durch den rapiden OP-Frequenzr&uuml;ckgang immer mehr der Bundesrepublik Deutschland an (Abb. 3 f&uuml;r die Altersgruppe der 1- bis 4-J&auml;hrigen).</p> <p>Trotz des allgemeinen R&uuml;ckgangs der Zahl der Operationen am lymphatischen System bei Kindern sind diese Eingriffe noch immer die h&auml;ufigsten Operationen in dieser Altersgruppe. Beispielsweise war im Jahr 2013 (letztes auswertbares Jahr der Destatis-Datenbank) in der BRD bei Kindern bis zum 15. Lebensjahr die Adenotomie an zweiter Stelle, die Tonsillektomie an vierter und der Kombinationseingriff Tonsillektomie und Adenotomie an sechster Stelle aller durchgef&uuml;hrten Operationen in dieser Altersgruppe. In &Ouml;sterreich &ndash; wenn man die HNO-Eingriffe aller Altersgruppen betrachtet &ndash; ist im Jahr 2012 die Adenotomie an erster Stelle, die Tonsillektomie an dritter Stelle und die Tonsillotomie an neunter Stelle der Operationsfrequenzen zu finden.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Anf&auml;ngliche Bef&uuml;rchtungen, dass es nach dem rapiden Absinken der Operationsfrequenzen zu einem Rebound-Ph&auml;nomen kommen und die Zahlen wieder auf das urspr&uuml;nglich hohe Niveau steigen w&uuml;rden, bewahrheiteten sich nicht. Zur zweiten Bef&uuml;rchtung, dass durch dieses konservative Verhalten die Rate an Sp&auml;tkomplikationen durch verschleppte Tonsillitiden ansteigen w&uuml;rde, ist eine abschlie&szlig;ende Stellungnahme noch nicht m&ouml;glich bzw. w&auml;re verfr&uuml;ht. Jedenfalls ist nicht anzunehmen, dass unsere Nachbarn Italien und Schweiz wegen der niedrigen Operationsrate im Vergleich zu Tschechien oder Ungarn das schlechtere HNO-Los gezogen h&auml;tten.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
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