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Urethrales Bulking nach Versagen einer vaginalen Schlinge
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Volker Viereck
Co-Chefarzt Frauenklinik, Chefarzt Urogynäkologie<br> Leitung Blasen- und Beckenbodenzentrum Kantonsspital Frauenfeld<br> E-Mail: info@blasenzentrum-frauenfeld.ch
Autor:
Dr. med. Irena Zivanovic
Zug
30
Min. Lesezeit
25.05.2017
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<p class="article-intro">Die Belastungsinkontinenz gehört zu den häufigsten Frauenleiden. Die Standardmethode zur Behandlung dieser Inkontinenzform ist die Einlage einer vaginalen Schlinge. Es stellt sich die Frage, wie man bei einer Rezidivbelastungsinkontinenz nach Bandversagen vorgehen soll. Es gibt in dieser Situation keine eindeutigen Therapieempfehlungen. Eine Option – neben einer weiteren Schlingeneinlage – stellt die Therapie mit einem «bulking agent» dar. Hierzu zeigt unsere Studie erste vielversprechende Ergebnisse an einem Risikokollektiv.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Harninkontinenz ist eine der häufigsten Erkrankungen der Frau. Bei der Belastungsinkontinenz kommt es zum Urinverlust bei körperlichen Anstrengungen – beim Husten, Niesen, Lachen, Heben von Lasten, Sport.</li> <li>Die operative Standardtherapie der Belastungsinkontinenz ist eine Schlingeneinlage. Eine weitere operative Therapieoption ist die periurethrale Injektion sogenannter «bulking agents».</li> <li>Das Material Bulkamid bietet dafür gute Eigenschaften. Die Vorteile dieser Injektionsbehandlung liegen in der einfachen Durchführbarkeit und der niedrigen Komplikationsrate.</li> <li>Bulkamid kann zur Behandlung einer Rezidivbelastungsinkontinenz nach einer erfolglosen mitturethralen Schlingenoperation mit guter Heilungsrate und niedriger Komplikationsrate eingesetzt werden. Günstig ist die Methode insbesondere bei Patientinnen mit Voroperationen, immobiler Urethra und zusätzlicher Drangkomponente.</li> </ul> </div> <p>Harninkontinenz ist eine der häufigsten Erkrankungen bei der Frau. So liegt die Prävalenz der Urininkontinenz bei Frauen zwischen 40 und 59 Jahren bei 17 % , bei Frauen zwischen 60 und 79 Jahren bei 23 % und kann bei den über 80-Jährigen über 30 % betragen.<sup>1</sup><br /> Die häufigsten Inkontinenzformen der Frau sind die Belastungsinkontinenz (50 % ), die Dranginkontinenz (16 % ) und die Mischharninkontinenz (34 % ).<sup>2</sup><br /> Bei der Belastungsinkontinenz kommt es zum Urinverlust bei körperlichen Anstrengungen – beim Husten, Niesen, Lachen, Heben von Lasten, Sport. Bei dieser Form der Urininkontinenz besteht eine Beckenbodenschwäche respektive ein zu geringer Harnröhrenverschlussdruck gegenüber dem intravesikalen Druck. Je nach Schweregrad der Inkontinenz geht dann Urin in Form von Tropfen, Spritzern oder im Schwall verloren.<br /> Die operative Standardtherapie der Belastungsinkontinenz ist die Einlage einer suburethralen Schlinge, z.B. der TVTSchlinge. TVT steht für «tension-free vaginal tape» – ein spannungsfreies, synthetisches Band, das die Harnröhre im funktionell relevanten mittleren Bereich unterstützt. Die TVT-Schlingenoperation wurde durch Professor U. Ulmsten aus Schweden Mitte der 1990er-Jahre inauguriert.<sup>3</sup> Wenn dieses Band aber mit der Zeit in der Funktionalität versagt, stellt sich die Frage nach dem weiteren Prozedere. Eine erneute Schlingeneinlage kann aufgrund von Vernarbungen nach urogynäkologischen Voroperationen mit einer immobilen Urethra oder bei einer gleichzeitig vorliegenden Dranginkontinenz problematisch sein. Die Immobilität der Urethra beeinträchtigt die Bandfunktionalität, Vernarbungen begünstigen intraoperative Blasenläsionen, eine zusätzliche Drangsymptomatik kann eventuell durch das zweite Band verstärkt werden. Eine weitere Alternative stellt in diesen Fällen die periurethrale Injektion eines sogenannten «bulking agent» dar.</p> <h2>Was ist das «bulking agent» Bulkamid<sup>®</sup>?</h2> <p>Bulkamid ist eine jahrelang gut untersuchte Substanz. Das sterile, geruchlose und transparente Hydrogel aus 2,5 % Polyacrylamid (Trockenmasse) und 97,5 % Wasser hat vielseitige Eigenschaften. Es ist biokompatibel, nicht biologisch abbaubar, nicht resorbierbar, nicht migrationsfähig, nicht toxisch und nicht allergen.<sup>4</sup><br /> Nun wird Bulkamid auch als «bulking agent», d.h. als Füllstoff der Urethra, zur Behandlung der Belastungsinkontinenz angewandt. Zu diesen Zwecken wurden bereits seit den 1970er-Jahren viele andere Substanzen erprobt, wie Teflon, autologes Fett, Kollagen, Silikon, humanes Kollagen, autologer Knorpel, Bioglass, Hyaluronsäure mit Dextranmonomeren und Polykarbon. Die meisten Substanzen wurden aus unterschiedlichen Gründen wieder vom Markt genommen. Bulkamid zeigt sehr gute Eigenschaften. Daher kommt es heutzutage am häufigsten als Bulking-Substanz zur Anwendung. Die Umspritzung der Harnröhre ist eine minimalst invasive Technik. Sie erfolgt in der Regel nur unter Lokalanästhesie.<br /> Die Füllsubstanz wird transurethral mittels einer Injektionsnadel unter zystoskopischer Kontrolle als submuköses Depot im Bereich der proximalen Urethra unterhalb des Blasenhalses platziert (Abb. 1). Jeweils drei Depots bei 3, 6 und 9 Uhr werden im Bereich der proximalen Urethra in die Submukosa appliziert (Abb. 2). Damit wird wie beim TVT-Band ein Widerlager für die Urethra erreicht und die Urethra wird eingeengt, im Sinne einer sogenannten Koaptation (Abb. 3).<br /> Die Bulking-Agent-Therapie kann sowohl primär als auch sekundär zur Behandlung der Belastungsinkontinenz eingesetzt werden. Für eine primäre Injektionstherapie kommen Patientinnen mit komplizierenden Zusatzkriterien infrage. Dazu gehören ausgeprägte Adipositas, Polymorbidität mit eingeschränkter Narkosefähigkeit, ausgedehnte Varicosis im kleinen Becken, St. n. Radikaloperation eines Zervix- oder Endometriumkarzinoms oder St. n. lokaler Radiotherapie; des Weiteren Frauen mit bestehendem Kinderwunsch oder Wunsch nach minimal invasivem Vorgehen. Für eine sekundäre Therapie eignen sich Frauen, bei denen die suburethrale Schlingeneinlage nicht erfolgreich war, oder Frauen mit St. n. Kolposuspensionsoperationen.<sup>5</sup> Zur Bulking-Agent- Therapie für Rezidivsituationen nach mitturethraler Schlingeneinlage gibt es in der Literatur allerdings nur sehr wenige Studien, und diese sind nur retrospektiv.<sup>6</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Gyn_1701_Weblinks_lo_gyn_1701_s20_abb1.jpg" alt="" width="1417" height="985" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Gyn_1701_Weblinks_lo_gyn_1701_s21_abb2.jpg" alt="" width="1417" height="706" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Gyn_1701_Weblinks_lo_gyn_1701_s21_abb3.jpg" alt="" width="1455" height="780" /></p> <h2>Studienergebnisse</h2> <p>Um die Problematik der Rezidivbelastungsinkontinenz nach bereits durchgeführter TVT-Operation zu klären, führten wir eine erste prospektive Studie zu diesem Thema durch.<sup>7</sup><br /> Ab September 2009 wurden über zwei Jahre 60 Patientinnen untersucht, die in der Anamnese eine erneute Belastungsinkontinenz nach erfolgloser TVT-Bandeinlage hatten und sich einer Behandlung mit Bulkamid unterzogen. Das Durchschnittsalter der Patientinnen lag bei knapp 72 Jahren. 41,7 % der Patientinnen wiesen eine Kolposuspension und 31,7 % eine Mischharninkontinenz auf. Durchschnittlich erfolgte die Bulkamid-Behandlung 18 Monate nach der Schlingenoperation.<br /> Abweichend vom herkömmlichen Verfahren wurden die Bulkamid-Depots nicht am Blasenhals, sondern mittels einer speziell modifizierten Nadel in der Urethramitte platziert. Die applizierten Depots wurden postoperativ sonografisch überprüft.<br /> Nach einem Beobachtungszeitraum von einem, sechs und zwölf Monaten wurden die Wirksamkeit und Verträglichkeit des Verfahrens sowohl nach objektiven als auch subjektiven Heilungskriterien beurteilt. Zugrunde lag die Beurteilung mittels einer Kombination aus Hustentest, Pad- Test und VAS-Zufriedenheits-Score. Nach sechs Monaten waren 43,3 % der Patientinnen und nach zwölf Monaten 25,4 % der Patientinnen vollständig geheilt. Geheilt bzw. gebessert waren nach zwölf Monaten insgesamt 83,6 % der Patientinnen. Der Anteil der Patientinnen mit Drangsymptomatik reduzierte sich auf 20 % . Es traten keine ernsthaften oder längerfristigen Komplikationen auf.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Zur Behandlung der Rezidivbelastungsinkontinenz nach suburethraler Schlingeneinlage stellt die peri- und mitturethrale Injektion von Bulkamid eine gute Alternative zur erneuten Schlingeneinlage dar. Dies gilt insbesondere dann, wenn nach urogynäkologischen Voroperationen, beispielsweise einer Kolposuspension, eine immobile Urethra besteht. Aber auch bei Vorliegen einer zusätzlichen Drangkomponente bietet die Bulkamid-Injektion grosse Vorteile. Die Methode ist einfach durchzuführen und weist gerade bei einem Risikokollektiv eine niedrige Komplikationsrate bei guten Heilungsraten auf. Diese Heilungsraten sind vergleichbar mit denen einer primären Bulkamid-Injektion. Daten aus einer retrospektiven Studie deuten zwar darauf hin, dass die Heilung durch Bulkamid im Vergleich einer zweiten Schlingeneinlage unterlegen ist, allerdings geht die Schlingeneinlage im Rezidivfall mit einer deutlich erhöhten Komplikationsrate einher. Somit sollten bei Rezidivbelastungsinkontinenz nach TVT-Einlage individuell die Risiken abgewogen und beim Vorliegen entsprechender Risikofaktoren der Patientin eine Bulkamid-Injektion offeriert werden.</p> </div></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Nygaard I et al: Prevalence of symptomatic pelvic floor disorders in US women. Pelvic Floor Disorders Network, JAMA 2008; 300: 1311-6 <strong>2</strong> Reynolds et al: Epidemiology of stress urinary incontinence in women. Curr Urol Rep 2011; 12: 370-6 <strong>3</strong> Ulmsten U et al: An ambulatory surgical procedure under local anesthesia for treatment of female urinary incontinence. Int Urogynecol J 1996; 7: 81-6 <strong>4</strong> Lobodasch K: Harninkontinenz der Frau: Bulking-Agents als moderne Therapieoption. UNI-MED Science 2012; 57 <strong>5</strong> Lobodasch K: Transurethrale Injektionen mit Bulkamid, erste klinische Erfahrungen. Geburtshilfe Frauenheilkd 2010; 70: 47-51 <strong>6</strong> Gaddi A et al: Repeat midurethral sling compared with urethral bulking for recurrent stress urinary incontinence. Obstet Gynecol 2014; 123: 1207-12 <strong>7</strong> Zivanovic et al: Urethral bulking for recurrent stress urinary incontinence after midurethral sling failure. Neurourol Urodyn 2017; 36: 722-6</p>
</div>
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