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Gewalt (k)ein Thema der Frauenheilkunde?
Jatros
Autor:
Prim. Univ.-Prof. DDr. MMag. Barbara Maier
Vorständin der Abteilung für Gynäkologie und Geburtshilfe <br> Wilhelminenspital des KAV, Wien<br>E-Mail: barbara.maier.mab@wienkav.at
30
Min. Lesezeit
24.05.2018
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<p class="article-intro">Frauen machen – viel mehr noch als Männer – Gewalterfahrungen. Schätzungen zufolge ist jede 5. Frau in Österreich von Gewalt betroffen. Gewalt ist ein die Gesundheit beeinträchtigender Faktor. Sie wird in verschiedenen Kontexten und Beziehungen erlebt. Und: Frauen sind in verschiedenen Lebenssituationen besonders vulnerabel, zum Beispiel während der Schwangerschaft und unter der Geburt. </p>
<hr />
<p class="article-content"><p>In den letzten Monaten ist Gewalt unter der Geburt auch in Österreich zum Thema geworden.<br />Die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2014) definiert Gewalt in der Geburtshilfe als „Handlungen und Vorgänge, die sich während der Schwangerschaft, unter der Geburt oder im Wochenbett negativ beeinflussend, verändernd oder schädigend auf Frauen und ihre Kinder auswirken“. Die WHO fordert ausdrücklich das Recht von Frauen auf eine würde- und respektvolle Behandlung sowie körperliche Unversehrtheit unter der Geburt ein. Selbstverständlich ist es ein Grundrecht der Gebärenden, dass vor jedem Eingriff ihr „informed consent“ eingeholt wird. Sie kann auch jederzeit die Behandlung verweigern.</p> <h2>Quellen und Inhalt</h2> <p>Zur Gewalt unter der Geburt gibt es keine Studien, aber zunehmend Einzelfallberichte von betroffenen Frauen wie auch Hebammen – vor allem Hebammenstudentinnen. Die Installierung des sogenannten „Roses Revolution Day“ am 25. November jedes Jahres, an dem Betroffene, die im Kreißsaal Gewalterfahrungen gemacht haben, Rosen vor die Kreißsaaltüre legen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen, zeigt, dass Gewalt ein Thema ist, dem sich auch die Frauenheilkunde stellen muss – in einer differenzierten Herangehensweise unter Beachtung der besonderen Situation der Geburt.</p> <h2>Was bedeutet Gewalt unter der Geburt?</h2> <p>In Büchern von Betroffenen zu diesem Thema und in Internetforen werden dazu folgende Angaben gemacht: unnötig häufige Untersuchungen, Kristeller-Handgriff, unnötige Einleitung einer Geburt, unnötig große Schnittführungen, enges Vernähen einer Episiotomie, forcierte Gewinnung der Plazenta, Bewegungseinschränkung unter der Geburt und vor allem Eingriffe, die medizinisch nicht notwendig sind. Immer wieder wird auf die in Österreich und Deutschland hohe Sectiorate von über 30 % hingewiesen. Sie steht pars pro toto für alle weiteren die physiologische Geburt störenden unnötigen Interventionen. <br />Als Hintergründe werden die Technisierung der Geburtshilfe, die allzu rasche Definition einer Schwangerschaft als Risikoschwangerschaft, die mangelnde Aufklärung und die Verweigerung des Rechtes, nein zu sagen, angeführt. Ein medizinischer Eingriff ohne medizinischen Mehrwert wird als gewaltsamer Übergriff definiert. <br />Als aktuelle Ursachen werden finanzielle Anreize, Personalmangel (keine 1-zu-1-Betreuung, auf eine Gebärende kommt nicht eine Hebamme), mangelnde Gebärbeziehungen (Begleithebamme, Doula) und Forensik im Sinne von Defensivmedizin beschrieben.<br />Gewalt im Kreißsaal und unter der Geburt ist traumatisierend für Mütter, Kinder und Väter, aber auch für das geburtshilfliche Personal sowie für eine gesamte „geburtsvergessene“ Gesellschaft. Mütter und Väter können mit Versagensängsten, posttraumatischen Belastungsstörungen, postpartalen Depressionen samt Still- und Bondingproblemen sowie sekundärer Sterilität und einer gesteigerten Nachfrage nach Wunschsectiones nach traumatisierender Geburt reagieren.<br />Um dem Rechnung zu tragen bzw. „gewaltsame Übergriffe“ im Kreißsaal zu verhindern, gibt es Empfehlungen der WHO in 16 Punkten – unter dem Motto „Geburt ist keine Krankheit“. (Diese Empfehlungen sind Teil des im April 1985 veröffentlichten Berichtes „Appropriate Technology for Birth“ der Weltgesundheitsorganisation.) <br />Insgesamt werden nach Durchsicht der vielfältigen Beiträge, Bücher und Diskussionen in Internetforen folgende Erfahrungen als traumatisierend angesehen:</p> <ul> <li>Unter- wie Überversorgung</li> <li>Verletzung der Intimsphäre</li> <li>Allein gelassen werden unter der Geburt</li> <li>Mangelnde Aufklärung</li> <li>Mangelnde Nachbereitung traumatisierender Erfahrungen</li> </ul> <h2> </h2> <p> </p> <h2>Was können wir daraus lernen?</h2> <p>Was lernen wir als Geburtshelferinnen und Geburtshelfer aus dieser oft auch mehr emotional als differenziert geführten Debatte für eine Frauenheilkunde, die sich der Gesundheit ihrer schwangeren Frauen und deren Kindern verpflichtet fühlt?</p> <ul> <li>Die Geburt als physiologischen Vorgang zu respektieren und – wo immer medizinisch verantwortbar – die Chance auf eine Spontangeburt zu ermöglichen. Keine Intervention ohne medizinische Indikation.</li> <li>Gebärende mit Respekt und Feinfühligkeit zu begleiten und ein positives Geburtserlebnis zu ermöglichen. Unter einer psychosomatisch orientierten Geburt ist zu verstehen, dass jede Gebärende ihre Erfahrungen aus ihrem bisherigen Leben in die Geburt einbringt und diese ihr Geburtserleben beeinflussen. So gehen auch die Vorstellungen zu einer „idealen Geburt“ weit auseinander.</li> <li>Aber auch nicht „das Kind mit dem Bade auszuschütten“: Eine gelungene Geburt ist eine sichere Geburt. Die Medizin hat – was die Sterblichkeit von Müttern und Kindern wie auch nachhaltige negative Folgen für deren Gesundheit betrifft – große Fortschritte gemacht. Dies sollte nicht unterbewertet werden und in einen therapeutischen Nihilismus führen. Auch gehen viele Frauen mit besonderen Vorbedingungen in die Geburt, die medizinische Betreuung erfordern, um Schaden von den Müttern und ihren Kindern abzuwenden. Die Debatte ist differenziert zu führen.</li> <li>Eine frauenfreundliche Gesundheitspolitik erlaubt keine Unterfinanzierung der Geburtshilfe, sondern schafft Strukturen, die Frauen ebenso wie dem sie betreuenden Personal eine Geburtshilfe „so natürlich wie möglich, so sicher wie nötig“ und das Zugrundelegen eines biopsychosozialen Modells mit Beachtung der Bedürfnisse von Gebärenden ermöglichen.</li> </ul></p>
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<p>bei der Verfasserin</p>
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