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„Im Fernsehen haben’s g’sagt …“
DAM
Autor:
Dr. Wolfgang Geppert
E-Mail: geppert@aon.at
30
Min. Lesezeit
17.11.2016
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<p class="article-intro">Das Medieninteresse für Hausarztabwertung und Zweiklassenmedizin steigt. Das Jahr 2016 hat die Verantwortlichen für die Krankenversorgung auf den Boden der Realität zurückgeholt. Konnten wir bis ins Vorjahr aus ihrem Munde nur den Stehsatz vom „besten Gesundheitssystem der Welt“ vernehmen, setzten diverse Medienberichte im laufenden Kalenderjahr diesem Schönfärben ein jähes Ende.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Arztsuche für Purkersdorf schlägt hohe Wellen</h2> <p>Eine frei bleibende Kinderarztkassenstelle in Purkersdorf fand den Weg in die Schlagzeilen großer Tageszeitungen: „Kinderarzt verzweifelt gesucht!“ Hätte die Wienerwaldgemeinde mit ihren knapp 10.000 Einwohnern einen der Öffentlichkeit unbekannten Bürgermeister, der nach Nachbesetzung einer Vertragsarztstelle ruft, wäre das enorme Medienecho ausgeblieben. So aber stand bei der Arztsuche vom Anfang an ein ehemaliger SPÖ-Innenminister an der Spitze der Akteure. Das sorgte dafür, dass dieser Fall weit über die Grenzen der Lokalberichterstattung hinausging. Ortschef Mag. Karl Schlögl machte bei jeder Gelegenheit Werbung für die unbesetzte Kassenplanstelle in „seiner“ Stadt. In einem Statement war von insgesamt 10 Pädiatern die Rede, welche vom Bürgermeister persönlich angesprochen wurden. Vergeblich! Erstmals verspürte ein ehemaliger Spitzenpolitiker am eigenen Leib, dass die Unterschrift unter einem Kassenvertrag längst nicht mehr die Attraktivität besitzt, wie sie von seinen Parteikollegen in der Gebietskrankenkasse angepriesen wird. Das kräfteraubende Durchschleusen von Patientenmassen, wie es das Honorierungssystem der Kassen betriebswirtschaftlich vorgibt, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Purkersdorfer Kinderärztin Dr. Christa Levin-Leitner hatte oft täglich bis zu 100 Patienten zu versorgen. Ihr Eingeständnis: „Mit 62 Jahren halte ich dem nicht mehr stand.“ Bereits am 7. März gab sie bekannt, ihren Vertrag mit der NÖ. Gebietskrankenkasse (NÖGKK) mit 1. Oktober zurückzulegen. Die Ärztekammer NÖ schrieb daraufhin die freie Stelle in Permanenz aus. Keine Reaktion! Bei Redaktionsschluss für diese Ausgabe (11. Oktober) lag keine einzige Bewerbung vor. Schlögl stellte am 6. Oktober fest: „Zwischen Wien und St. Pölten gibt es nun keinen einzigen Kinderarzt mit NÖGKK-Vertrag.“ Der Purkersdorfer NEOS-Gemeinderat Christoph Angerer steht der Problematik ziemlich hilflos gegenüber. Er dürfte der irrigen Meinung anhängen, irgendwo müssen massenweise beschäftigungslose Kinderärzte herumlungern, die nur darauf warten, im Anzeigenteil von „Kurier“ oder „Kronen Zeitung“ eine freie Kassenplanstelle zu entdecken. Anders kann ich mir sein Statement nicht erklären: „Wir müssen neue Wege bei der Suche gehen. Es reicht nicht aus, dass die Ausschreibung auf der Seite der Ärztekammer steht und sonst nirgends.“ In Sachen Niedergang der Kassenmedizin hat der Fall Purkersdorf große Bedeutung. Mit jedem zusätzlichen Monat der Stellenvakanz bekommen die Verantwortlichen einen Spiegel vorgehalten. Es sind ihre Versäumnisse, die jetzt zur Wirkung kommen.</p> <h2>Thema „Zwangsjacke Kassenvertrag“ als Spätzünder</h2> <p>Noch vor einigen Monaten war die Flucht aus dem Kassenvertrag kein Thema. Nur in Ortschaften, wo von einem Arzt solch ein Schritt gesetzt wurde, kannten die betroffenen Patienten diese Problematik: Plötzlich wirft ein Allgemeinmediziner, der über viele Jahre einen Kassenvertrag hatte, seine Verträge mit der Gebietskrankenkasse und der Sozialversicherung der Bauern hin. Am 2. Juni kam es erstmals in dieser Angelegenheit zum öffentlichen Auftreten dreier Hausärzte: Dr. Gertrude Bartke, Dr. Anton Biedermann und Dr. Günther Loewit sprachen im ORF KulturCafe offen über ihre Beweggründe für diesen Schritt. Das mediale Echo auf die Veranstaltung war mager. Der 28. Juli hingegen brachte die Wende. Die ORF-Sendung „Am Schauplatz“ widmete sich dem Thema „Zweiklassenmedizin“. Dr. Biedermann bekam ausführlich Gelegenheit, die Gründe für die Kassenkündigung darzulegen. Seine Patienten zeigten in den ORF-Interviews Verständnis für diesen Schritt ihres Vertrauensarztes. Biedermanns plakative Vergleiche in Sachen geringer Kassenhonorierung wurden auch in andere ORF-Sendungen eingespielt. Der Bann war gebrochen! Hieß es bisher in Insiderkreisen, das Niederlegen der Kassen führe für einen praktischen Arzt zum betriebswirtschaftlichen Niedergang, drehte der mutige Allgemeinmediziner aus Ober-Grafendorf mit seinen knalligen Statements den Spieß um. Als Wahlarzt hat er nur ein Viertel seiner früheren Patienten verloren. <br />Plötzlich begannen sich Journalisten für das Thema zu interessieren. Der Begriff „Zwangsjacke Kassenvertrag“ krallte sich auch bei einigen Sozialversicherern und diversen Gesundheitspolitikern fest. Anfang Oktober brachte Gesundheitsministerin Dr. Sabine Oberhauser die aktuelle Situation der Kassenmedizin in einem Zeitungsinterview auf den Punkt: „Ich kenne eine Menge Ärzte, die den Kassenvertrag zurückgelegt haben und nur noch kleine Kassen oder eine Privatpraxis haben, weil man in Kassenpraxen nur durch eine entsprechende Frequenz auf eine adäquate Entlohnung kommt. Das heißt, man muss möglichst viele Patienten in kurzer Zeit behandeln. Das wollen viele, vor allem junge Kollegen nicht mehr.“ Obwohl die Entwicklung seit Jahren zu beobachten ist, wurde damit erstmals von höchster Stelle die wahre Situation exakt dargestellt.</p> <h2>Permanente Abwertung der Hausärzte</h2> <p>Kein Politikerstatement ist abgedroschener als die Forderung nach Aufwertung des heimischen Hausarztes. Tatsächlich wurden die Kassen-Allgemeinmediziner in den vergangenen Monaten mehr erniedrigt als in allen Zeiten davor: von Mystery Shopping über verpflichtende Ausweiskontrollen bei Fremdpatienten bis zur Registrierkassenpflicht. Eine geballte Ladung an bürokratischen Erniedrigungen. Die Drohung der ELGA-Macher, die E-Medikation gegen den Willen der Kassenvertragsärzte ausrollen zu wollen, brachte die Stimmung unter der betroffenen Kollegenschaft zum Kochen. Die Koordination der Medikamente ist seit Jahren die Domäne des Hausarztes, ein Service zum Nulltarif. Hausarztpatienten halten bei geplantem Spitalsaufenthalt die schriftliche Medikamentenaufstellung ihres Behandlers stets parat. Chaotisch läuft es nur bei Patienten ab, die ihre Ärzte nach Belieben wechseln und dabei den diversen Behandlern die rezeptpflichtigen Verschreibungen des jeweils anderen verheimlichen. Österreich hat die Krankenversorgung zu einem Selbstbedienungsladen verkommen lassen. Der Hausarzt wurde bewusst ins Out gedrängt. In der ZiB 1 des ORF am 4. Oktober lässt sich Hofrat Dr. Gerald Bachinger als Sprecher aller Patientenanwälte zu einem entlarvenden Statement hinreißen. Er will nicht verstehen, dass Vertragsärzte von jeder Form von Fremdbestimmung die Nase voll haben, so auch vom Teilnahmezwang an der bisher an Pannen reichen E-Medikation. Bei seiner Drohung, dieses für Patienten kostenlose Service ausschließlich den Apothekern übertragen zu wollen, rutscht ihm ein Eingeständnis heraus. Die seit Jahren anhaltende Talfahrt der Allgemeinmediziner wird von ihm mit folgenden Worten erklärt: „Dann müssen sich die Hausärzte eigentlich bei ihrer Standesvertretung herzlich bedanken, denn das wird zu einer weiteren Abwertung der Hausärzte führen.“ Wer von weiterer Abwertung spricht, bestätigt eine bisher bestehende.</p> <p><strong>Vom fraglichen Glück, gleich beim Facharzt zu landen</strong></p> <p>Mein DAM-Beitrag <a href="http://at.universimed.com/fachthemen/7472" target="_blank">„Mit Ohrenschmalz zum Kapazunder“</a> nahm den Gesundheitsteil der „Kronen Zeitung“ (Teil der Samstag-Ausgabe) aufs Korn. Ein Leser dieses Artikels stellte mir die Frage, warum ich nur dieses Massenblatt exemplarisch vorführe. Auch andere Zeitungen, so seine Meinung, würden das Spezialistentum und die Apparatemedizin verherrlichen. Die Herabwürdigung der Allgemeinmedizin zeige sich in vielen Beiträgen. Dieser Feststellung kann ich nur voll zustimmen und so beziehe ich mich diesmal auf einen „Kurier“-Beitrag im Gesundheitsteil vom 8. Oktober. Redakteur Ernst Mauritz nimmt sich darin thematisch des Mangels an Kassenpsychiatern an. Wurden frühere Hausärztewarnungen vor dem Aufkommen einer Zweiklassenmedizin vehement abgetan, gehört es heute zum guten Ton jedes Mediums, über diese Form der Entsolidarisierung unserer Krankenversorgung zu berichten. Aus der angeblichen Schwarzmalerei kritischer Ärzte ist bitterer Ernst geworden. Die Dementis der Verantwortlichen haben sich in kurzer Zeit selbst Lügen gestraft. Als ich vor vielen Jahren in den Wiener Innenstadträumlichkeiten der „Gesundheit Österreich GmbH“ das Explodieren der Anzahl von Wahlarztordinationen dokumentierte, erntete ich nur ungläubiges Kopfschütteln. Diese vielen kleinen Praxen seien nicht versorgungsrelevant, lautete damals der Konter. In besagtem Beitrag von Mauritz kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Über ein Extrembeispiel des Niedergangs der Kassenmedizin wird geklagt: Die Psychiatrie sei das einzige Fach, in dem es viermal so viele Privat- wie Kassenärzte gebe. Viele „junge“ Kollegen auch dieses Faches, so mein Eindruck, denken nicht im Traum daran, sich das Joch des Kassenvertrages umhängen zu lassen. Leider kann es sich einer der Interviewten nicht verbeißen, eine abwertende Äußerung über Hausärzteverschreibungen fallen zu lassen. Univ.-Doz. Dr. Werner Schöny berichtet über eine ältere Patientin mit Depressionen, die schon vor Jahrzehnten den Weg vom Hausarzt in seine Ordination fand: „Zum Glück kam sie zu mir, denn der Allgemeinmediziner wollte ihr ein Medikament mit hohem Suchtpotenzial verschreiben, das bei wiederkehrenden Depressionen aber nicht angebracht ist.“ Weder Kollege Schöny noch Redakteur Mauritz ahnen, was sie mit der Veröffentlichung solch einer abwertenden Feststellung anrichten. Ältere Kollegen haben gegenüber Geringschätzungen dieser Art einen Schutzmantel aufgebaut, Jungärzte hingegen scheuen sich, von Anfang an das Image eines Halbgebildeten aufgedrückt zu bekommen. Mit jeder öffentlichen Äußerung dieser Art schwindet die Bereitschaft von jungen Kollegen, Kassen-Allgemeinmediziner zu werden. Was diese Feststellung von Schöny betrifft, zeige ich auf die andere Seite der Medaille: Der überwiegende Teil an psychiatrischen Patienten wird von den Hausärzten auf das Beste versorgt. Die knapp 150 Kassenpsychiater österreichweit wären nicht imstande, die Masse an depressiven Störungen im Alleingang zu behandeln.</p></p>
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