
Ungewollter Gewichtsverlust
Autoren:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Datz1
Dr. Georg Semmler2
Priv.-Doz. Dr. Bernhard Wernly, PhD1
1Abteilung für Innere Medizin
Krankenhaus Oberndorf
Lehrkrankenhaus der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg
2Klinische Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie
Allgemeines Krankenhaus Wien
Korrespondierender Autor:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Christian Datz
E-Mail: c.datz@kh-oberndorf.at
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Der ungewollte Gewichtsverlust ist ein im Praxisalltag häufig anzutreffendes Phänomen. Durch seine Komplexität und das Fehlen konkreter Leitlinien und Diagnose-Algorithmen stellt die Ursachenabklärung eine Herausforderung dar. Unbestritten ist jedoch die zentrale Rolle der Gastroenterologie in diesem Gebiet.
Keypoints
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Ungewollter Gewichtsverlust ist klinisch hoch relevant, stellt eine große differenzialdiagnostische Herausforderung dar und ist mit erheblicher Morbidität und Mortalität verbunden.
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Eine ausführliche Anamnese und eine gründliche klinische Untersuchung sind entscheidend für die Differenzialdiagnostik, die durch ein systematisches Ernährungsassessment und ein Screening auf Depression ergänzt werden sollte.
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Angesichts der zunehmenden Knappheit medizinischer Ressourcen scheint es sinnvoll, ungewollten Gewichtsverlust in geeigneten Fällen ambulant abzuklären. Hierbei könnten Primärversorgungseinheiten, die an spezialisierte Zentren angebunden sind, eine entscheidende Rolle spielen.
Ungewollter Gewichtsverlust ist ein komplexes Phänomen, mit dem man im medizinischen Alltag häufig konfrontiert ist und das nicht nur mit erhöhter Morbidität wie Infektanfälligkeit, Wundheilungsstörungen und Sturzneigung, sondern auch mit signifikanter Übersterblichkeit vergesellschaftet ist.1–4 Überraschenderweise gibt es trotz der klinischen Relevanz keine spezifischen Leitlinien oder Algorithmen, auf die man in der Abklärung von Patient:innen mit ungewolltem Gewichtsverlust Bezug nehmen könnte. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Ursachen für ungewollten Gewichtsverlust mannigfaltig sind und es kaum prospektive Studien zu diesem Thema gibt. Die meisten Daten stammen aus den späten 1990er-Jahren, in denen die diagnostischen Möglichkeiten noch nicht den aktuellen entsprachen. Die Verteilung und die Vortestwahrscheinlichkeiten verschiedener Ursachen für ungewollten Gewichtsverlust werden auch von den unterschiedlichen Szenarios beeinflusst, in denen die Abklärung durchgeführt wird – wie zum Beispiel im ambulanten oder stationären Setting. In der Literatur besteht jedoch Einigkeit darüber, dass eine gründliche Anamnese und eine umfassende klinische Untersuchung von immenser Bedeutung sind. Dies dient nicht zuletzt dazu, belastende und kostspielige Untersuchungen für die Patient:innen zu vermeiden.
Definition
Interessanterweise gibt es keinen Konsens hinsichtlich der Definition von klinisch signifikantem ungewolltem Gewichtsverlust. Dies wird vor allem dadurch erklärt, dass selten systematische Gewichtskontrollen stattfinden, damit verbunden ein relevanter Gewichtsverlust kaum dokumentiert wird und auch im stationären Setting üblicherweise kein umfassendes Ernährungsassessment durchgeführt wird. Auf Basis der publizierten Daten ist man übereingekommen, einen Gewichtsverlust von 5% in den letzten 6–12 Monaten als relevant einzustufen.5 Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Gewichtsverlust von 0,1–0,2kg pro Jahr ab einem Alter von 70 Jahren als physiologisch anzusehen ist.
Epidemiologie
Je nach untersuchtem Kollektiv besteht eine große Heterogenität in der Häufigkeit von ungewolltem Gewichtsverlust. Während ca. 5% der Gesamtbevölkerung wegen ungewollten Gewichtsverlusts abgeklärt werden, sind bei den über 65-Jährigen 15–20% betroffen, in Seniorenheimen steigt die Zahl auf über 50%.2–4 Männer und Frauen sind zwar in etwa gleich häufig von ungewolltem Gewichtsverlust betroffen, unterscheiden sich jedoch deutlich in Hinblick auf die zugrunde liegenden Ursachen. Während bei Männern unter 60 Jahren vor allem Diabetes mellitus und bei den über 60-jährigen hauptsächlich Malignome mit ungewolltem Gewichtsverlust assoziiert sind, stellen bei Frauen Depressionen und Demenzerkrankungen die Hauptursache dar.6 Weiters bestehen unabhängige Assoziationen mit sogenannter Frailty (körperliche Schwäche), sozioökonomischem Status und hohem BMI, die jedoch in der Abklärung dieser Patient:innen wenig hilfreich sind.
Europäische Daten aus einer großen prospektiven Studie mit 2677 Patient:innen (mittleres Alter 64 Jahre, 49% Frauen) und einem Follow-up von 1–18 Monaten zeigten, dass sich bei 33% ein Malignom, bei 37% eine organische Erkrankung und bei 18% eine psychosoziale Problematik als ursächlichfür ungewollten Gewichtsverlust herausstellte.7 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich bei knapp 50% der Patient:innen eine maligne Erkrankung des Gastrointestinaltrakts fand und auch bei nahezu der Hälfte der Patient:innen mit organischen Erkrankungen eine gastrointestinale Ursache, vornehmlich Malabsorptionssyndrome, vorlag. Diese Daten unterstreichen jedenfalls den Stellenwert der Gastroenterologie in der Abklärung von ungewolltem Gewichtsverlust. Bei 12% der Patient:innen konnte trotz akribischer Abklärung mithilfe spezieller Algorithmen und unter Einbeziehung sämtlicher diagnostischer Möglichkeiten inklusive PET-CT vordergründig keine erklärende Ursache gefunden werden. In einem Follow-up nach 1–18 Monaten wurde bei 19 dieser Patient:innen (5%) ursächlich ein Malignom diagnostiziert, wobei es sich vor allem um Lymphome und Melanome handelte.7
In Hinblick auf die Übersterblichkeit zeigt eine Metaanalyse älterer Studien interessanterweise, dass ungewollter Gewichtsverlust mit einem unspezifischen Anstieg vor allem kardiovaskulärer Mortalität einhergeht, während rezent publizierte Daten eindeutig auf Malignome als häufigste Todesursache hinweisen.8–10
Diagnose und Differenzialdiagnose
Aufgrund der Vielzahl von möglichen zugrundeliegenden Ursachen stellt die Diagnostik von ungewolltem Gewichtsverlust eine große Herausforderung dar. Differenzialdiagnostisch kommt nahezu das gesamte Spektrum von Erkrankungen infrage (Abb. 1). Aus diesem Grund nehmen eine zeitintensive, umfangreiche Anamnese und eine akribische klinische Untersuchung einen zentralen Stellenwert in der Diagnostik von ungewolltem Gewichtsverlust ein. In der ausführlichen Anamnese sollte im Speziellen auf das Muster des ungewollten Gewichtsverlustes, auf psychosoziale Komponenten (Verlust des Partners, Depression, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch etc.) oder gegebenenfalls doch auf einen freiwilligen Gewichtsverlust eingegangen werden. Weiters soll ein erstes klinisch-anamnestisches Screening auf die Beteiligung unterschiedlicher Organsysteme (innere Unruhe?, kardiale, pulmonale, B-Symptomatik?, Dysphagie, Bauchschmerzen, Diarrhö?, Polyurie? etc.) erfolgen. Vor allem bei älteren Patient:innen sollte in Hinblick auf die Polypharmazie an die Inappetenz als mögliche Medikamentennebenwirkung gedacht werden. Die klinische Untersuchung sollte auch eine Inspektion der Mundhöhle, die Palpation sämtlicher Lymphknotenstationen sowie eine Untersuchung des Abdomens inkl. einer digital-rektalen Untersuchung umfassen.
Generell sollte bei jüngeren Patient:innen (unter 60 Jahre) auf eine Depression, Schilddrüsenfunktionsstörungen sowie Diabetes mellitus Typ 2 gescreent werden. Bei über 60-jährigen Männern sollte die Abklärung vor allem auf ein okkultes Neoplasma, einen Typ-2-Diabetes sowie eine chronischobstruktive Lungenerkrankung (vor allem bei Rauchern) abzielen. Bei über 60-jährigen Frauen ist insbesondere an eine Depression, an Schilddrüsenfunktionsstörungen sowie an Krebserkrankungen zu denken. Bei über 80-Jährigen stehen vor allem Demenz, Depression, Herzinsuffizienz und Krebserkrankungen im Fokus der Abklärung.
Aufgrund der Häufigkeit gastrointestinaler Ursachen für ungewollten Gewichtsverlust sollte in der Abklärung darauf Bezug genommen werden. Dies gilt einerseits für Malignome des Magen-Darm-Trakts, andererseits für nichtmaligne organische Ursachen, bei denen vor allem an gastro-duodenale Ulzera, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen und Malabsorptionssyndrome, vor allem die Zöliakie, zu denken ist. In der Abklärungskaskade sollte diesen Erkrankungen daher durch eine fokussierte Spezialdiagnostik inklusive Stuhldiagnostik, Bestimmung von Anti-Transglutaminase-Antikörpern, panintestinaler Endoskopie, Kapselendoskopie sowie entsprechender Schnittbilddiagnostik Rechnung getragen werden. Wenngleich sich der abdominelle Ultraschall in der Primärdiagnostik anbieten würde, liegt die Sensitivität in der Abklärung von ungewolltem Gewichtsverlust lediglich bei 51%.11
Es sei an dieser Stelle nochmals betont, dass kein generell akzeptierter Algorithmus in der Abklärung von ungewolltem Gewichtsverlust existiert. Eine mögliche Vorgangsweise ist dennoch in Abbildung 2 dargestellt.
Zusammenfassung
Signifikanter Gewichtsverlust stellt eine große Herausforderung im klinischen Alltag dar und ist mit einer signifikanten Morbidität und Mortalität vergesellschaftet. Eine ausführliche Anamnese und eine gründliche klinische Untersuchung stellen die Hauptpfeiler für die komplexe Differenzialdiagnostik dar. Weiters sollten ein systematisches Ernährungsassessment sowie ein Screening auf das Vorliegen einer Depression erfolgen. Die weitere (apparative) Diagnostik sollte sich an Klinik und Anamnese orientieren, jedoch auch den hohen Stellenwert von gastrointestinalen Ursachen von ungewolltem Gewichtsverlust berücksichtigen.
Obwohl ungewollter Gewichtsverlust ein häufig anzutreffendes Problem in der klinischen Praxis ist, gibt es erstaunlicherweise nur begrenzt wissenschaftliche Daten dazu, was die Notwendigkeit von klinisch relevanten Forschungen zu diesem Thema unterstreicht.
In Zeiten, in denen medizinische Ressourcen immer knapper werden, erscheint es ratsam, ungewollten Gewichtsverlust bei geeigneten Patient:innen ambulant abzuklären. Dabei könnten Primärversor-gungseinheiten, die entsprechend mit Zentren mit spezifischer Fachkompetenz vernetzt sind, eine wichtige Rolle einnehmen. In solchen Netzwerken könnten Patient:innen rasch und unter optimalem Ressourceneinsatz abgeklärt werden, es könnte weitere klinische Exzellenz zu diesem Thema sichergestellt werden und auch eine systematische wissenschaftliche Aufarbeitung erfolgen.
Literatur:
1 Chapman-Novakofski KM, Nelson RA: Loss of appetite: managing unwanted weight loss in the older patient. Geriatrics 1994; 49(3): 54-9 2 Alibhai SMH et al.: An approach to the management of unintentional weight loss in elderly people. CMAJ 2005; 172(6): 773-80 3 Meltzer AA, Everhart JE: Unintentional weight loss in the United States. Am J Epidemiol 1995; 142(10): 1039-46 4 Moriguti JC et al.: Involuntary weight loss in elderly individuals: assessment and treatment. Sao Paulo Med J 2001; 119(2): 72-7 5 Wong CJ: Involuntary weight loss. Med Clin North Am 2014; 98(3): 625-43 6 Withrow DR et al.: Serious disease risk among patients with unexpected weight loss: a matched cohort of over 70000 primary care presentations. J Cachexia Sarcopenia Muscle 2022; 13(6): 2661-8 7 Bosch X et al.: Unintentional weight loss: clinical characteristics and outcomes in a prospective cohort of 2677 patients. PLoS One2017; 12(4): e0175125 8 Wannamethee SG et al.: Metabolic syndrome vs Framingham Risk Score for prediction of coronary heart disease, stroke, and type 2 diabetes mellitus. Arch Intern Med 2005; 165(22): 2644-50 9 De Stefani FDC et al.: Observational evidence for unintentional weight loss in all-cause mortality and major cardiovascular events: a systematic review and meta-analysis. Sci Rep 2018; 8(1): 15447 10 Aligué J et al.: Etiologies and 12-month mortality in patients with isolated involuntary weight loss at a rapid diagnostic unit. PLoS One 2021; 16(9): e0257752 11 Rao S et al.: Diagnostic utility of computed tomography in patients presenting to the emergency department with unintended weight loss. Emerg Radiol 2021; 28(4): 771-9