
Vitamin B12 bei Fatigue
Autor:
PD Dr. med. Stefan Markun
Leiter FIRE-Forschung
Oberarzt
FA für Allgemeine Innere Medizin
Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
E-Mail: stefan.markun@usz.ch
Fatigue ist häufig und der weit verbreitete Glaube an Vitamin B12 als wirksames Heilmittel führt häufig zu entsprechenden Abklärungen und Behandlungen. Aber wie vernünftig ist dieses Procedere?
Keypoints
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Zur Wirksamkeit der Vitamin-B12-Supplementierung bei idiopathischer Fatigue gibt es kaum schlüssige Studien.
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In der Praxis werden Verbesserungen von idiopathischer Fatigue nach Vitamin-B12-Supplementierung oft beobachtet. Während die pharmakologische Wirkung in diesen Fällen unbewiesen ist, gibt es gute Hinweise darauf, dass diese «Wirkung» durch den natürlichen Verlauf von Fatigue und den zusätzlichen Placeboeffekt zustande kommt.
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Vitamin-B12-Supplementierung bei idiopathischer Fatigue ist wissenschaftlich unbelegt und ethisch heikel. Interventionen mit höherer Wahrscheinlichkeit für einen Nutzen sollten bevorzugt werden.
Das Symptom Fatigue grenzt sich von einfacher Müdigkeit ab durch besondere Schwierigkeiten, Aktivitäten zu initiieren oder aufrechtzuerhalten sowie Konzentration, Gedächtnis und Emotionen stabil zu halten. Fatigue hat ein Spektrum von Intensität und in den meisten Fällen handelt es sich um ein zeitlich limitiert auftretendes Symptom, mit welchem die Betroffenen einigermassen zurechtkommen und das ohne Abklärungsbedarf bleibt. In seltenen Fällen ist Fatigue aber chronisch (>6 Monate anhaltend) und stärker ausgeprägt, bei circa einer von tausend Personen sogar als Chronic Fatigue Syndrome (CFS), welches zusammen mit typischen Begleitsymptomen zu schwersten Einschränkungen in allen Dimensionen der Lebensführung führt.
Die Diagnostik bei Fatigue ist oft herausfordernd, denn beinahe jede Krankheit kann zu Fatigue als Leit- oder Begleitsymptom führen. Entsprechend ist der Katalog an möglichen Differenzialdiagnosen zu Beginn sehr gross und für eine effiziente und sichere Diagnostik ist ein rationaler Abklärungsprozess nötig. Dabei wird versucht, mit klinischen Fähigkeiten sowie mit einfachen Labortests Krankheiten mit hoher Vortestwahrscheinlichkeit direkt zu bestätigen (z.B. Anämie) sowie Risikofaktoren für weniger wahrscheinliche, aber gefährliche Krankheiten kontrolliert und nötigenfalls mit gezielten Tests auszuschliessen (z.B. chronische Infektionskrankheiten). Häufig wird trotz rationaler Abklärungen keine Ursache gefunden und eine idiopathische Fatigue festgestellt.
Fatigue und Vitamin B12
Aber welche Rolle spielt Vitamin B12 bei der Abklärung von Fatigue? Die Guidelines sind dazu eindeutig: Bestehen keine Risikofaktoren, anamnestische, klinische oder hämatologische Zeichen, welche mit einem Vitamin-B12-Mangel vereinbar sind (z.B. hohes Alter, kognitive Störungen oder Anämie), wird ein Vitamin-B12-Test explizit nicht empfohlen.1,2 Bemerkenswerterweise hält die Hälfte der Hausärzt:innen eine Vitamin-B12-Bestimmung in dieser Situation dennoch für indiziert.3
Aber warum gehört ein Vitamin-B12-Test nicht prinzipiell zur Abklärungsroutine bei Fatigue? Die Antwort liegt im Wort «prinzipiell», denn Fatigue gehört zwar tatsächlich zu den klinischen Zeichen des Vitamin-B12-Mangels, aber nicht als einziges Zeichen. Ohne zusätzliche klinische Zeichen (z.B. Neuropathien, kognitive Störungen, Anämie) ist ein Vitamin-B12-Mangel so unwahrscheinlich, dass kein Labortest empfohlen wird, um diese Einschätzung noch zusätzlich zu untermauern.
Auf der anderen Seite benötigen Personen mit Risikofaktoren für einen Vitamin-B12-Mangel auch ohne Fatigue Vitamin-B12-Laborkontrollen, denn Fatigue ist kein verlässliches Frühwarnzeichen von bevorstehenden Komplikationen durch einen Vitamin-B12-Mangel.
Wissenschaft versus Werbung
Bei spezifischen Befunden oder Risikofaktoren für einen Vitamin-B12-Mangel sind präventive Tests und eine allfällige Behandlung unumstritten. Aber wie steht es mit der Mehrheit von Patient:innen mit einer idiopathischen Fatigue in der Hausarztmedizin oder Patient:innen, bei denen das Vitamin B12 allenfalls im Graubereich liegt, aber kein Mangel besteht? Diese Patient:innen sind sehr häufig und die Frage nach einer Vitamin-B12-Supplementierung ist es entsprechend ebenso. Leider gibt es keine ausreichende Evidenz aus randomisierten Studien in dieser Domäne, und Ärzt:innen müssen auf der Basis von anderen Informationen handeln.4
In dieser Hinsicht stehen sowohl Patient:innen als auch Ärzt:innen zwei Quellen von Informationen besonders prominent zur Verfügung: Werbung und anekdotische Evidenz. Für die Hersteller von Vitaminpräparaten ist Fatigue aufgrund der hohen Prävalenz ein interessantes Marktsegment, weshalb ein grosser Anreiz besteht, es mit der Evidenz nicht so genau zu nehmen. Die Schweizerische Lauterkeitskommission gab einer Beschwerde gegen die Bewerbung von Vitamin B12 als Muntermacher vor Kurzem statt (Entscheid Nr. 137/21), dennoch ist davon auszugehen, dass das Marktsegment weiter ungeachtet der Evidenzlage bewirtschaftet wird. Noch eindrücklicher als Werbung dürfte aber die anekdotische Evidenz sein (auch bekannt als «Erfahrungsmedizin»).
Erfahrungsmedizin
Die Erfahrung von vielen Patient:innen scheint der Hypothese der Wirksamkeit von Vitamin B12 bei Fatigue recht zu geben. Klinisch auffällige Verbesserungen nach der Durchführung einer bestimmten Intervention wirken auf den ersten Blick für alle Beteiligten allgemein sehr bestätigend. Aber könnte eine eindeutige Besserung von Fatigue nach Vitamin-B12-Gabe auch irreführend sein? Ein Blick in die Placebogruppen aus randomisierten Studien, in welchen Fatigue mit Eisen behandelt wurde, fördert ernüchternde Erkenntnisse zutage: Fatigue besserte sich in 30–50% der Patient:innen unter Placebo.5–7 Wer also eine Besserungsrate von Fatigue auf die Vitamin-B12-Gabe im Bereich von 50% beobachtet, befindet sich im Bereich dessen, was mit einer Placebobehandlung zu erwarten ist. Da bei diesen Studien nur Patient:innen mit grenzfälligem Eisenstatus eingeschlossen wurden, sind die Resultate jedoch nicht unbedingt übertragbar auf Patient:innen mit Fatigue mit normalem Eisenstatus (schlechteres oder besseres Ansprechen auf Placebo). Aber ist Vitamin B12 bei Fatigue ein plausibles Placebo? Gemäss den Erkenntnissen eines Cochrane-Reviews zu Placeboeffekten kann diese Frage ziemlich eindeutig mit «Ja» beantwortet werden: Placebos wirken nämlich besonders stark, wenn sie mit einer physikalischen Intervention verabreicht werden (wie z.B. mittels einer Injektion einer rubinroten Flüssigkeit) oder wenn subjektive Outcomes (wie z.B. Fatigue) gemessen werden.8
Selbstheilungskräfte (bzw. der natürliche Verlauf) sind weitere Faktoren, mit denen sich Verbesserungen gut erklären lassen. In unserem medikalisierten Alltag können wir Selbstheilungskräfte aber nur selten ungestört von Interventionen beobachten, weil wir (und auch unsere Patient:innen) selten die Geduld haben, einfach nur zuzuwarten. Bei Symptomen mit natürlichen Schwankungen wie Fatigue kommt aber noch eine weitere Stolperfalle hinzu, welche uns zu Fehlschlüssen durch Erfahrung verleiten kann: Patient:innen suchen uns tendenziell dann auf, wenn sich eine Symptomatik auf einem Maximum befindet. Nach Erreichen des Maximums werden die Symptome alleine aufgrund der natürlichen Schwankungen wieder schwächer (sog. «Regression to the mean»-Effekt). Wenn auf dem Maximum gleichzeitig eine Behandlung gestartet wird, sieht es für alle so aus, als wäre die Behandlung kausal für die Verbesserung verantwortlich, obwohl lediglich die natürliche Schwankung beobachtet wurde.
Placeboeffekte und Selbstheilung (bzw. «regression to the mean») summieren sich zu einem beobachtbaren Gesamteffekt, welchen wir als Menschen geneigt sind, gänzlich (und fälschlicherweise) einer spezifischen Intervention zuzuordnen. Es ist gut möglich, dass allein diese Phänomene eine hinreichende Erklärung dafür sind, dass es gängige Praxis ist, fleissig und mit anhaltend «guten Erfahrungen» bei Fatigue unabhängig von Risiken und Befunden Vitamin B12 zu messen und zu verschreiben.
Ethik
Sind das Testen und das Verschreiben von Vitamin B12 bei idiopathischer Fatigue ethisch problematisch? Diese Frage kann höchstens unter bestimmten Umständen verneint werden.
Befürworter stellen sich auf den Standpunkt, dass sie den Patient:innen selbst mit einem Placebo «Gutes tun» und so dem gleichnamigen Prinzip der Medizinethik dienen. Es ist meist nicht einmal nötig, die Patient:innen auch anzulügen, weil der Glaube an Vitamin B12 als Heilmittel von Fatigue bei diesen bereits vorhanden ist. Aber ist «Gutes tun» hier widerspruchsfrei? Hat die Attribuierung der Fatigue zu einer unbestätigten Ursache (obskurer Vitaminmangel) ein gutes Potenzial für eine nachhaltige Verbesserung? Gäbe es nicht auch die Möglichkeit, individuell passende Lebensstilinterventionen zu versuchen, welche die Fatigue plausibler verbessern könnten? «Gutes tun» sollte hierarchisch angewendet werden: Das heisst, man muss damit beginnen, das Beste zu tun, und erst, wenn diese Optionen ausgeschöpft sind, das «weniger Gute». Bei Fatigue scheinen Interventionen mit dem Ziel, Lifestyle-Optimierungen zu erwirken (genug und regelmässiger Schlaf, Reduktion/Sistierung von Noxen, regelmässige und ausreichende Bewegung und gesunde Ernährung), vielversprechender als mutmassliche Placebos und haben darüber hinaus günstige Effekte auf die kardiovaskuläre Gesundheit. Somit kann das Prinzip «Gutes tun» für Vitamin B12 bei Fatigue nur angewendet werden, wenn es nicht auf Kosten von mutmasslich besseren Interventionen geschieht.
Die Patientenautonomie ist ebenfalls ein heikles Thema bei Interventionen, welche von Placebos schwer zu unterscheiden sind. Grundsätzlich müssen Ärzt:innen aufklären, soweit dies im individuellen Fall möglich ist, damit ein autonomer Patientenentscheid möglich wird. Das Bundesgericht verwendet hierfür die Standardformel: «Der Patient soll über den Eingriff oder die Behandlung so weit unterrichtet sein, dass er seine Einwilligung in Kenntnis der Sachlage geben kann.» Nun lautet die Sachlage bei Vitamin B12 für Fatigue eben: «keine ausreichende Evidenz» und «mit grosser Wahrscheinlichkeit erhebliche Placebokomponente». Nur wer derart aufklärt, befindet sich im Einklang mit den relevanten Normen.
Das Prinzip der Gerechtigkeit besagt, dass Gesundheitsleistungen fair verteilt werden müssen, weil sie endlich sind. Investitionen mit Nachweis von Wirkungen sind deshalb gegenüber solchen ohne Wirkungsnachweis zu favorisieren. Vitamin B12 als Muntermacher bei idiopathischer Fatigue fällt in die Kategorie der Interventionen ohne Wirkungsnachweis. Somit stellt sich die berechtigte Frage, ob die Investition der Millionen, welche jährlich für Vitamin-B12-Bestimmungen und -Produkte bei Fatigue ausgegeben werden, anderswo nicht nachhaltiger und wirksamer wäre.
Zuletzt ist noch das Prinzip der Schadensvermeidung anzuwenden. Bei Vitaminen besteht häufig der Volksglaube «Nützt es nicht, so schadet es nicht». Der Grundsatz «Die Dosis macht das Gift» stimmt mit der wissenschaftlichen Theorie jedoch besser überein. Die Einnahme von Vitaminen ist jedoch eine Ernährungsintervention und als solche viel schwerer auf Wirkungen und Nebenwirkungen zu evaluieren als Medikamente. Die Zufuhr von Vitaminen über die normale Ernährung unterliegt starken intraindividuellen (von Mahlzeit zu Mahlzeit) und interindividuellen Schwankungen (Lebensstil). Vitamine lassen sich nicht kontrolliert untersuchen, weil keine Null-Vitamin-Kontrollgruppe gebildet werden kann. Eine weitere Barriere für wissenschaftliche Erkenntnisse bei der Gabe von Vitaminen sind die sehr langen Beobachtungszeiten, die notwendig sind, um Unterschiede in medizinischen Outcomes statistisch messbar zu machen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass auch zur Vermutung, dass «es nicht schadet», keine gute Evidenz existiert. Hierzu lässt sich aber bei Vitamin B12 immerhin auf zwei beunruhigende Studienresultate verweisen, welche einen statistischen Zusammenhang zwischen einem hohen Vitamin-B12-Spiegel und Sterblichkeit sowie der Entwicklung von Lungenkrebs gezeigt haben.9,10 Das Postulat, dass Vitamin B12 nicht schaden kann, ist somit genauso unsicher wie das Postulat eines Nutzens über den Placeboeffekt hinaus. Weil das Schaden-Nutzen-Verhältnis nicht mit Sicherheit als günstig beurteilt werden kann, könnte bei der Gabe von Vitamin B12 für Fatigue deshalb das Prinzip der Schadensvermeidung verletzt sein.
Schlussfolgerung
Zum Nutzen oder Schaden von Vitamin B12 bei Fatigue über den Placeboeffekt hinaus gibt es keine ausreichende Evidenz, weshalb eine Vitamin-B12-Bestimmung und -Behandlung in dieser Situation mit unterschiedlichen medizinethischen Prinzipien kollidieren könnte. Pragmatisch wäre es, Vitamin B12 bei Fatigue nur dann abzuklären, wenn zusätzliche Risikofaktoren und klinische Hinweise dies gebieten. Ist dies nicht der Fall, sollten Behandlungen gesucht werden, welche sich eindeutiger von Placebos unterscheiden.
Literatur:
1 Huber F, Beise U: Müdigkeit: Verein mediX; 2020 [verfügbar unter: https://www.medix.ch/wissen/guidelines/muedigkeit/ 2 Fosnocht KM, Ende J: Approach to the adult patient with fatigue: UpToDate; 2023 [verfügbar unter: https://www.uptodate.com/contents/approach-to-the-adult-patient-with-fatigue 3 Bardheci K et al.: Testing and pescribing vitamin B12 in Swiss General Practice: a survey among physicians. Nutrients 2021; 13: 2610 4 Markun S et al.: Effects of vitamin B12 supplementation on cognitive function, depressive symptoms, and fatigue: a systematic review, meta-analysis, and meta-regression. Nutrients 2021; 13: 923 5 Favrat B et al.: Oral vitamin B12 for patients suspected of subtle cobalamin deficiency: a multicentre pragmatic randomised controlled trial. BMC Fam Pract 2011; 12: 2 6 Vaucher P et al.: Effect of iron supplementation on fatigue in nonanemic menstruating women with low ferritin: a randomized controlled trial. CMAJ 2012; 184: 1247-54 7 Krayenbuehl PA et al.: Intravenous iron for the treatment of fatigue in nonanemic, premenopausal women with low serum ferritin concentration. Blood 2011; 118: 3222-7 8 Hróbjartsson A, Gøtzsche PC: Placebo interventions for all clinical conditions. Cochrane Database Syst Rev 2010; 2010: Cd003974 9 Flores-Guerrero JL et al.: Association of plasma concentration of vitamin B12 with all-cause mortality in the general population in the Netherlands. JAMA Netw Open 2020; 3: e1919274 10 Fanidi A et al.: Is high vitamin B12 status a cause of lung cancer? Int J Cancer 2019; 145: 1499-503
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