
Seltener Tumor, hohe Mortalität
Autoren:
Prof. Dr. Alexander Navarini
Chefarzt für Dermatologie am Universitätsspital Basel und Leiter des dortigen Zentrums für Hauttumore, Schweiz
E-Mail: Alexander.Navarini@usb.ch
Dr. Leo Richter
Ordination Dr. med. Richter in Wien und Baden, Österreich
E-Mail: drrichterwien@gmail.com
Eine 88-jährige Frau präsentiert sich mit einer Hautveränderung im Gesicht: einer erbsengroßen, glasigen Papel. Diagnostiziert wird ein Hauttumor, der vor allem ab dem 60. Lebensjahr auftritt und 50-mal seltener ist als das Melanom, allerdings eine hohe Mortalität sowie eine hohe Rezidivrate mit sich bringt. Der leitliniengerechten Behandlung einer Exzision mit Sicherheitsabstand kann man aufgrund der Lokalisation in einem kosmetisch störenden Bereich allerdings nicht immer gerecht werden.
Die Patientin sucht die Ambulanz aufgrund einer Hautveränderung im Gesicht auf; erkennbar ist eine glasige Papel mit einem Durchmesser von rund 5–6mm (siehe Abb. 1).
Zu den möglichen Diagnosen zählen Basalzellkarzinom, auch ein noduläres Melanom oder ein Merkelzellkarzinom kämen klinisch infrage. Für ein kutanes B-Zell-Lymphom (Keimzentrumslymphom) ist die Papel wiederum zu klein und auch untypisch im Aussehen; eine Metastase wäre möglich (zum Beispiel eines neuroendokrinen Tumors).
Merke: Merkelzellkarzinom ohne Merkelzellen
Mittlerweile gilt die These als überholt, wonach das Merkelzellkarzinom seinen Ursprung in den Merkelzellen der Haut hat.7 Mögliche Ausgangspunkte sollen vielmehr Stammzellen der Epidermis und Dermis ebenso wie frühe B-Zellen des Immunsystems sein.
In diesem Fall handelte es sichum ein Merkelzellkarzinom (MCC), einen aggressiven neuroendokrinen Hauttumor, der bereits früh dazu neigt, in Lymphknoten und andere Organe zu metastasieren. Zudem kann das MCC (trotz intensiver Chemo- und Strahlentherapie) rasch rezidivieren: Die 5-Jahres-Rezidivrate beträgt 40% und ist damit mehr als doppelt so hoch wie beim Melanom; die überwiegende Zahl (95%) der Rezidive tritt innerhalb von drei Jahren nach der Erstbehandlung auf.1 Dementsprechend ist die Mortalität des MCC hoch, sie liegt in den ersten zwei Jahren bei bis zu 30%; liegen bei Diagnosestellung bereits Metastasen vor, beträgt die Überlebensrate nach fünf Jahren rund 18%.2
Erhöhte Inzidenz mitbedingt durch Polyoma-Infektion
In letzter Zeit war ein Anstieg der MCC-Fälle in Europa und den USA zu beobachten, was auch auf die zunehmende Alterung der Bevölkerung zurückgeführt wird.3 Die Inzidenz beträgt derzeit etwa 0,3/100000/Jahr, das MCC ist damit rund 50-mal seltener als das maligne Melanom.1,2
Interessant ist die Beobachtung, dass viele dieser Tumoren mit dem sogenannten Merkelzell-Polyomavirus assoziiert sind, das innerhalb des Tumorgewebes nachgewiesen werden kann (80%), wobei die Zusammenhänge noch nicht vollständig geklärt sind.4 Da allerdings viele Menschen dieses Virus in sich tragen, ohne am MCC zu erkranken, ist zu vermuten, dass weitere Risikofaktoren eine Rolle spielen (etwa starke Exposition gegenüber UV-Strahlung oder Immunsuppression).5
Rasche Wachstumstendenz und Ulzerationen
Zurück in die Klinik: Die Betroffenen sind meist – wie die vorgestellte Patientin – im höheren Alter (über 60–70 Jahre) oder immunkompromittiert, der Tumor entsteht vor allem an lichtgeschädigten Stellen, meist im Gesicht. Der bläulich-livide, teils fleischige Knoten zeigt eine rasche Wachstumstendenz und nicht selten Ulzerationen. Die immunhistochemische Färbung sichert die Diagnose, routinemäßig kommt dafür der Marker Zytokeratin 20 (CK 20) zum Einsatz (siehe Abb. 2). Mnemonisch kann „AEIOU“ bei der klinischen Diagnostik hilfreich sein: asymptomatisch – rasche Expansion – Immunsuppression – älter (older) als 50 Jahre und UV-exponierte Stelle: 89% der an MCC erkrankten Personen erfüllen drei dieser Kriterien.6
Therapeutisch wäre die Totalexzision unter regelmäßiger, relativ engmaschiger klinischer Observanz möglich, etwa initial alle sechs Wochen – allerdings nur dann, wenn die Patientin wirklich keine weitere Therapie wünscht. Ist dies nicht der Fall, empfehlen die Leitlinien als ersten Schritt die Total- und Nachexzision, möglichst mit einem Sicherheitsabstand von 2cm, gefolgt von der Sentinellymphknoten-Biopsie (bei bis zu einem Drittel der Betroffenen liegt bei Primärdiagnose eine lymphogene Metastasierung vor) sowie gegebenenfalls die regionale Lymphadenektomie beziehungsweise die postoperative adjuvante Strahlentherapie des Tumorbettes und der Lymphabflussregion. Bezüglich der Totalexzision ist noch zu erwähnen, dass dieses Vorgehen im Gesicht nicht immer zu gewährleisten ist und in der Praxis daher von dieser Regel auch abgewichen wird.
Hinsichtlich des Stagings ist laut Leitlinien die PET-CT vs. die CT vorteilhaft. Es gibt allerdings länderspezifische Unterschiede: In der Schweiz wird tatsächlich bei jedem Fall ein Staging mittels PET-CT vorgenommen (die Krankenkassen übernehmen die Kosten). In Österreich hingegen sind die Möglichkeiten für dieses Vorgehen eingeschränkt, nicht jede/r bekommt von vornherein ein PET-CT, obwohl es aus medizinischer Sicht sicher wünschenswert wäre.
Bei fortgeschrittener Erkrankung oder Fernmetastasierung können Checkpoint-Inhibitoren zum Einsatz kommen, der PD-L1-Blocker Avelumab ist in dieser Indikation in der EU und in der Schweiz zugelassen; weitere Checkpoint-Inhibitoren haben zumindest vielversprechende Studienergebnisse gezeigt.2 Die Chemotherapie ist ebenfalls eine Möglichkeit und zeigt in vielen Fällen ein gutes Ansprechen, allerdings hält das Ansprechen meist nicht lange an.
Abschließend noch ein Hinweis zur Nachsorge: Da Rezidive besonders in den ersten drei Jahren auftreten, ist gerade in dieser Zeit eine engmaschige Kontrolle wichtig (alle drei Monate), danach kann die Untersuchungshäufigkeit wahrscheinlich reduziert werden (alle sechs Monate).2
Nehmen Sie teil!
Diagnostizieren Sie mit uns generalisierte Exantheme, behandeln Sie hartnäckige Nägel und staunen Sie im Schwarzlicht. Oder haben Sie selbst einen Patientenfall vor Augen, bei dem Sie sich über einen frischen Blick freuen würden? Wir laden Sie herzlichst zu unseren nächsten „Abendvisiten“ ein:
am 28. Mai 2024,
am 27. August 2024 und
am 19. November 2024
jeweils von 18.15 bis 19.15 Uhr
Wir freuen uns auf Ihre Teilnahme!
Quelle:
„Abendvisite“, interaktives Online-Format für Österreich und die Schweiz, März 2024
Literatur:
1 Gisy J et al.:Hautnah Dermatologie 2022; 38:10 2 S2k-Leitlinie – Merkelzellkarzinom (MZK, MCC, neuroendokrines Karzinom der Haut) – https://www.awmf.org/service/awmf-aktuell/merkelzellkarziom-mzk-mcc-neuroendokrines-karzinom-der-haut (letzter Zugriff: 17. April 2024) 3 Teixeira da Cunha S et al.: Merkelzellkarzinom: ein unerwarteter Befund. Swiss Medical Forum Fallberichte Online: https://smf.swisshealthweb.ch/de/article/doi/smf.2022.08908 (letzter Zugriff: 2. April 2024) 4 Servy A et al.: Ann Oncol 2016;27(5):914-9 5 Deutsche Krebsgesellschaft, Onko Portal, Das Merkelzellkarzinom: https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebsarten/hautkrebs/merkelzellkarzinom-seltener-hautkrebs.html (letzter Zugriff: 2. April 2024) 6 Drusio C et al.: Hautarzt 2019; 70(3): 215–27 7 Rached NA et al.: Merkelzell-Karzinom C44.L in: Altmeyers Enzyklopädie, zuletzt aktualisiert 2022: https://www.enzyklopaedie-dermatologie.de/dermatologie/merkel-zell-karzinom-2454 (letzter Zugriff: 3. April 2024)
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