
Physiotherapie bei osteoporotischer Wirbelkörperfraktur
Autor:
Mag. Christoph Thalhamer, B.Sc.
Ordination Gelenkspezialisten, Wien
E-Mail: christoph.thalhamer@gmx.at
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Im Rahmen einer multiprofessionellen Versorgung von Menschen mit osteoporotischen Frakturen stellt sich die Frage nach den wirksamsten physiotherapeutischen Maßnahmen. Der Schwerpunkt sollte auf die Sekundärprävention von Folgefrakturen gelegt werden.
Osteoporotische Wirbelfrakturen zählen zu den häufigsten Komplikationen, die als Folge einer Osteoporose auftreten können. Angesichts der weiterhin steigenden Lebenserwartung wird die Inzidenz dieses Frakturtyps in Europa laut Prognosen in den nächsten Jahrzehnten ebenfalls weiterhin steigen.1 Osteoporotische Frakturen beeinträchtigen die Unabhängigkeit und Lebensqualität der Betroffenen und oft auch der Angehörigen. Im Rahmen einer multiprofessionellen Versorgung von Menschen mit osteoporotischen Frakturen stellt sich die Frage, was die wirksamsten physiotherapeutischen Maßnahmen in der Therapie akuter und chronischer osteoporotischer Wirbelkörperfrakturen in Bezug auf die Endpunkte Schmerz und Behinderung sind. Diese Frage ist u.a. auch deshalb von großer Relevanz, weil operative Verfahren wie die Vertebroplastie in der Therapie subakuter und chronischer osteoporotischer Wirbelfrakturen keinen klinischen Nutzen zu haben scheinen.2–4 Folglich sind wir in der Therapie dieser Frakturen auf pharmakologische und physiotherapeutische Maßnahmen angewiesen.
Überblick über aktuelle Literatur und daraus abgeleitete Empfehlungen
Cunningham et al. publizierten 2023 einen Scoping-Review, in dem sie einen Überblick über die vorhandene Forschungsliteratur geben und Wissenslücken in Bezug auf die o.g. Frage identifizieren.5 Insgesamt schlossen die Autoren 13 Studien (5 RCTs, 3 Pilot-RCTs, 5 deskriptive Studien) ein, in denen Männer und Frauen im Alter zwischen 53 und 90 Jahren (Durchschnitt 71,9 Jahre) untersucht wurden. Das Alter der Fraktur wurde in den meisten Primärstudien nicht genannt. Physiotherapie wurde im Rahmen der Studien in Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Physiotherapiepraxen, in Fitnesscentern und im Rahmen von Hausbesuchen angeboten. Folgende Therapiemaßnahmen wurden untersucht:
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medizinische Trainingstherapie
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Orthesen/Mieder
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Edukation zum Thema Osteoporose sowie zu deren Therapie
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manuelle Therapie (Weichteiltechniken und milde Mobilisationen)
Von diesen vier Maßnahmen wurde medizinische Trainingstherapie am häufigsten untersucht. Unter medizinischer Trainingstherapie verstanden die Autoren allgemeines Krafttraining und Rumpfkrafttraining im Speziellen, Gleichgewichts- und Haltungstraining inklusive Yoga, „mind-body techniques“ (z.B. achtsames Atmen) und Tapes, die an der Wirbelsäule angebracht wurden, um eine aufrechte Haltung zu erleichtern. Die Trainingsprogramme wurden in den meisten Primärstudien hinsichtlich Volumen, Intensität, Frequenz, Pausenzeiten und anderer Parameter nicht ausreichend beschrieben, sodass eine direkte Anwendung der untersuchten Programme in der Praxis nicht möglich ist. Die Übungsprogramme wurden zwischen 10 Wochen und 12 Monaten lang durchgeführt.5
In Bezug auf rigide, dynamische oder weiche Orthesen/Mieder (Bracing) beobachten wir in der Praxis, dass diese bei akuten und teils auch bei chronischen osteoporotischen Frakturen nach wie vor häufig verordnet werden. Alle bisher publizierten Studien zeigen allerdings keinen Nutzen dieser Maßnahme.6 Dasselbe gilt auch für sogenannte Haltungstapes. All diese Maßnahmen sollten nur dann eingesetzt werden, wenn sich der Patient dadurch in der Ausführung von täglichen Aktivitäten sicherer fühlt, wie z.B. beim Gehen. In allen anderen Fällen ist die Maßnahme nicht indiziert.
Im Rahmen der manuellen Therapie wurden Weichteiltechniken und milde Mobilisationen der Wirbelsäule untersucht. Diese Maßnahmen können adjuvant zur Anwendung kommen, sollten aber aufgrund der in der Regel nur kurzfristigen Wirkung nie die primäre Therapiesäule darstellen.
Schlussfolgernd halten Cunningham et al. fest, dass die Wirksamkeit physiotherapeutischer Maßnahmen in der Therapie akuter und chronischer osteoporotischer Wirbelfrakturen bisher nur unzureichend untersucht wurde.5 Welche physiotherapeutischen Maßnahmen also optimalerweise bei osteoporotischen Wirbelfrakturen zur Anwendung kommen sollten, ist folglich nicht bekannt.
Auf der Grundlage dieses nicht zufriedenstellenden Befundes formulierten Ponzano et al. 2023 einen experten- und evidenzbasierten Konsens zur nichtpharmakologischen und nichtoperativen Therapie osteoporotischer Wirbelfrakturen.7 Im Rahmen des fünfstufigen modifizierten Delphi-Prozesses nahmen rund 30 Experten, u.a. aus den Fachbereichen Diätologie, Medizin und Physiotherapie, teil. Die Empfehlungen der Experten gliederten sich in:
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allgemeine Empfehlungen
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Empfehlungen zur Befundung
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Empfehlungen zur nichtpharmakologischen und nichtoperativen Schmerztherapie
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Empfehlungen zur medizinischen Trainingstherapie
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Ernährungsempfehlungen
Nachfolgend werden die wichtigsten Empfehlungen wiedergegeben. Zunächst ist es wichtig, dass Menschen mit osteoporotischen Wirbelfrakturen eine mehrtägige Bettruhe nach der Fraktur vermeiden. Sie sollten möglichst frühzeitig nach der Fraktur stehen und mit oder ohne Hilfsmittel (z.B. Rollmobil) gehen. Eine entsprechende pharmakologische Schmerztherapie sollte die Umsetzung dieser Maßnahme erleichtern. In den ersten 12 Wochen nach der Fraktur sollten schwere körperliche Anstrengung, schweres Heben oder Aktivitäten, die den Schmerz verschlechtern, vermieden werden. Eine Wiederaufnahme dieser Aktivitäten hängt von der Schwere der Fraktur, der Schmerzintensität sowie von funktionellen Kriterien (Belastbarkeitstests) ab.7
Im Rahmen der Befundung und der anschließenden Therapie sollte insbesondere auf plötzlichen Rückenschmerz oder eine akute Verschlechterung von bereits bestehendem Rückenschmerz, eine Zunahme der thorakalen Kyphose und Kurzatmigkeit geachtet werden. Diese könnten ein Indiz für neue Wirbelfrakturen sein oder sie könnten auf eine Progression einer bestehenden Wirbelfraktur hinweisen.
Die Experten empfehlen, dass Gespräche mit den Patienten so geführt werden und Empfehlungen so formuliert werden, dass die Zuversicht und der Optimismus des Patienten gefördert werden. Nocebos sollten in der Kommunikation vermieden werden.7
Da die meisten osteoporotischen Frakturen als Folge eines Sturzes auftreten, sollte das Sturzrisiko umfassend beurteilt werden.8,9 Dies kann beispielsweise mithilfe des Algorithmus der „world guidelines for falls prevention and management for older adults“ von Montero-Odasso et al. (2022) erfolgen.9 Alle Maßnahmen, die der Sturzprophylaxe dienen, sind wesentlich in der Prophylaxe von osteoporotischen Frakturen. Aus trainingstherapeutischer Sicht gehören zu diesen Maßnahmen:
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Gleichgewichtsübungen mit Schwerpunkt auf dynamischen statt statischer Aktivitäten (wie z.B. Einbeinstand)
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funktionelles Training: Beim funktionellen Training werden Alltagsaktivitäten als Trainingsreiz genutzt. Es gibt hier häufig Überschneidungen mit dem Krafttraining. Typische funktionelle Übungen sind der Transfer vom Stand zum Boden,10 Aufstehen von einem Sessel/Niedersetzen auf einen Sessel, Stiegensteigen mit/ohne Zusatzlasten oder zügiges Gehen auf Zeit.
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Krafttraining auf Maschinen oder mit freien Gewichten11,12
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Stoßbelastungen12,13
Patienten mit osteoporotischen Wirbelfrakturen sollten fundamentale menschliche Bewegungsmuster erlernen, wie z.B. die Kniebeuge und die Hüftbeuge sowie Drück- und Zugübungen für den Oberkörper, und diese unter Last kontrolliert ausführen können. Die Progression sollte gegen Ende der Wundheilungsphase des Knochens kriteriumsbasiert vonstatten gehen. Trainingsvolumen sollte vor Trainingsintensität priorisiert werden.
Kognitiv-emotionale Risikofaktoren für die Entwicklung oder Aufrechterhaltung persistierender Schmerzen sollten, wenn vorhanden, im Rahmen einer psychologisch informierten Physiotherapie oder psychologischer Sitzungen adressiert werden. Langes Sitzen (>30 Minuten) sollte vermieden werden. Die Haltung während des Sitzens sollte beachtet werden. Endgradige, schnelle, wiederholte und/oder belastete Wirbelsäulenflexion oder -rotationen sollten während der initialen Wundheilungsphasen (in den ersten 3 Monaten) modifiziert oder vermieden werden, um einen weiteren Kollaps des Wirbelkörpers oder Folgefrakturen in den Anschlusssegmenten zu vermeiden. Essenzielle Bewegungsmuster, wie z.B. die Hüftbeuge („hip hinge“) oder das En-bloc-Umdrehen am Stand sollten erlernt werden.
In Bezug auf Ernährung sollten ältere Erwachsene, die keine eiweißbezogenen Kontraindikationen aufweisen, 0,4g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Mahlzeit zu sich nehmen. Bei 3 bis 4 Mahlzeiten entspricht dies 1,2–1,6g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag.14–16
Conclusio
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass physiotherapeutische Maßnahmen in der Versorgung von akuten und chronischen osteoporotischen Wirbelfrakturen in Hinblick auf ihre Wirksamkeit bezüglich patientenrelevanter Endpunkte bisher kaum untersucht wurden.
Der Schwerpunkt sollte in der Physiotherapie auf die Sekundärprävention von Folgefrakturen gelegt werden. Der physiotherapeutische Beitrag zur Erreichung dieses Ziels umfasst Edukation, Sturzprophylaxetraining (mit Fokus auf ein Training der Gleichgewichtsfähigkeit) und Krafttraining (mit Fokus auf die Kraft der Rückenstreckermuskulatur). Ein entsprechendes Training sollte zwischen der 4. und 12.Woche nach der Fraktur begonnen werden. Maßnahmen aus dem Bereich der manuellen Therapie können im Rahmen der Schmerztherapie adjuvant zum Einsatz kommen.
Literatur:
1 International Osteoporosis Foundation: Ruinierte Knochen, ruiniertes Leben: Ein strategischer Plan zur Lösung der Fragilitätsfrakturkrise in Deutschland. www.osteoporosis.foundation; Zugriff am 5. 12. 2023 2 Buchbinder R et al.: Percutaneous vertebroplasty for osteoporotic vertebral compression fracture. Cochrane Database Syst Rev 2018; 4(4): CD006349 3 Carli D et al.: Vertebroplasty versus active control intervention for chronic osteoporotic vertebral compression fractures: the VERTOS V randomized controlled trial. Radiology 2023; 308(1): e222535 4 Firanescu CE et al.: Vertebroplasty versus sham procedure for painful acute osteoporotic vertebral compression fractures (VERTOS IV). BMJ 2018; 361: k1551 5 Cunningham C et al.: Physiotherapy post vertebral fragility fracture: a scoping review. Physiotherapy 2023; 119: 100-16 6 Peckett KH et al.: Bracing and taping interventions for individuals with vertebral fragility fractures: a systematic review of randomized controlled trials with GRADE assessment. Arch Osteoporos 2023; 18(1): 36 7 Ponzano M et al.: International consensus on the non-pharmacological and non-surgical management of osteoporotic vertebral fractures. Osteoporos Int 2023; 34(6): 1065-74 8 Costa AG et al.: When, where and how osteoporosis-associated fractures occur: an analysis from the Global Longitudinal Study of Osteoporosis in Women (GLOW). PloS One 2013; 8(12): e83306 9 Montero-Odasso M et al.: World guidelines for falls prevention and management for older adults. Age Ageing 2022; 51(9): afac205 10 Reece AC, Simpson JM: Preparing older people to cope after a fall. Physiotherapy 1996; 82(4): 227-35 11 Haugen ME et al.: Effect of free-weight vs. machine-based strength training on maximal strength, hypertrophy and jump performance. BMC Sports Sci Med Rehabil 2023; 15(1): 103 12 Watson SL et al.: High-intensity resistance and impact training improves bone mineral density and physical function in postmenopausal women with osteopenia and osteoporosis: the LIFTMOR randomized controlled trial. J Bone Miner Res 2018; 33(2): 211-20 13 Beck BR et al.: Exercise and Sports Science Australia (ESSA) position statement on exercise prescription for the prevention and management of osteoporosis. J Sci Med Sport 2017; 20(5): 438-45 14 Bauer J et al.: Evidence-based recommendations for optimal dietary protein intake in older people: a position paper from the PROT-AGE study group. J Am Med Dir Assoc 2013; 14(8): 542-59 15 McGrath R et al.: Daily protein intake and distribution of daily protein consumed decreases odds for functional disability in older Americans. J Aging Heal 2020: 32(9): 1075-83 16 McKendry J et al.: Nutritional supplements to support resistance exercise in countering the sarcopenia of aging. Nutrients 2020; 12(7): 2057
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