
Eine neue Ära in der Epileptologie?
Autor:
Dr. Johannes Koren, PhD
Neurologische Abteilung, Klinik Hietzing, Wien
Karl Landsteiner Institut für klinische Epilepsieforschung und kognitive Neurologie
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Mobile Health Devices – medizinisch geprüfte digitale Geräte, die für Diagnostik und Therapiemonitoring unterschiedlicher Erkrankungen verwendet werden können und einen direkten Draht zum Arzt/zur Ärztin haben – klingen gut für Patient:innen. Wie aber wird die riesige Datenmenge verarbeitet, die durch Langzeitverwendung solcher Geräte anfällt? Kann oder muss hier künstliche Intelligenz helfen? Wo landen die Daten? Gibt es Probleme mit der Patient:innen-Compliance im Verlauf? Wie erfolgt die Kommunikation zwischen Arzt/Ärztin und Patient:innen? Können Mobile Health Devices letztlich Diagnostik und Therapie für alle Beteiligten verbessern, vereinfachen und effizienter gestalten? Alle diese Fragen müssen in den nächsten Jahren durch qualitativ hochwertige Studien noch suffizient beantwortet werden.
Was gibt es nun diesbezüglich im Bereich der Epileptologie zu berichten? Zahlreiche Studien sind aktuell in Planung oder bereits angelaufen, die einerseits auf Ultralangzeit-EEG-Aufnahmen (mittels subkutaner Elektroden) bzw. anderen, unkomplizierten EEG-Systemen zur Heimanwendung und andererseits auf Telemedizin/Telemedizinplattformen inklusive Heimmonitoring unterschiedlicher multimodaler Parameter fokussieren. Als Hintergrund für diese Studien ist primär das Anfallserfassungsproblem zu nennen, also das objektive, korrekte Erfassen aller epileptischen Anfälle eines Individuums mit Epilepsie. Mehr als 50% aller epileptischen Anfälle werden von den Patient:innen nicht bemerkt. Dies ist insofern von zentraler Relevanz, als die Anfallshäufigkeit der wichtigste Parameter für die Therapiekontrolle im klinischen Alltag sowie auch in bisher jeder publizierten pharmakologischen Studie ist. Zudem konnte eine Studie zum intrakraniellen EEG zeigen, dass die Verwendung eines theoretischen Korrekturfaktors der berichteten Anfallsfrequenz pro Patient:in (Stichwort: Underreporting/Overreporting von epileptischen Anfällen) nicht zielführend bzw. nicht möglich ist.1,2
Technologische Fortschritte der EEG-Aufzeichnung sowie Monitoring und Erfassung anderer physiologischer Parameter mittels Mobile Health Devices sollen in Zukunft also dieses Anfallserfassungsproblem unkompliziert adressieren. Multimodale Systeme, die mehrere Analysen von unterschiedlichen physiologischen Signalen kombinieren, sind aktuell dabei die vielversprechendsten Optionen und erreichen bereits Sensitivitäten von bis zu 100% bei Falsch-Alarm-Raten von 0,25–5,4 pro Tag.3,4 Diese Art von Monitoring soll in der gewohnten Umgebung von Patient:innen (zu Hause/in der Arbeit/Freizeit) stattfinden, die Compliance erhöhen und letztlich Krankenhausaufenthalte minimieren – bei gleicher oder höherer diagnostischer und therapeutischer Qualität.5
Aktuelle Entwicklungen bezüglich unterschiedlicher technologischer Möglichkeiten sollen in den nächsten Absätzen kurz näher erläutert werden.
Smartphones und Anfallsdokumentation
Als einfachste Möglichkeit zur technischen Erfassung und Dokumentation von epileptischen Anfällen zeigen rezente Studien, dass mit dem Smartphone aufgenommene Videos helfen können, diese von nichtepileptischen Anfällen zu unterscheiden. Hier sind aber u.a. die Aufnahmequalität (Ganzkörperaufnahmen) und der Beginn der Aufzeichnung (zumeist kann der Beginn des Anfalls nicht aufgezeichnet werden) entscheidend. Dennoch konnten in einer Studie eine hohe Sensitivität mit 80–100% und eine hohe Spezifizität mit 80–100% sowie ein hoher positiver prädiktiver Wert von 76–91% erreicht werden.6 Hier ist allerdings einschränkend zu sagen, dass diese Perfomanceparameter und Daten nur für sehr erfahrene Epileptolog:innen mit Video-EEG-Expertise gelten.
Mittlerweile sind auch mehrere Smartphone-Apps verfügbar, die klassische, papierbasierte Anfallskalender ersetzen sollen. Nur wenige sind aber als Medizinprodukt zertifiziert (z.B. Helpilepsy, helpilepsy.com/de/ ). Auch Datenschutzstandards dürfen hier nicht außer Acht gelassen werden, insbesondere da die meisten Patient:innen bereits für das Thema Datenschutz sensibilisiert sind.
Mobile Health Devices/Wearables zur Anfallsdokumentation
Nicht-EEG-basierte Systeme
Smartwatches und entsprechend programmierte Apps, aber auch immer mehr Geräte, die dezidiert als Medizinprodukte zur Anfallsüberwachung bzw. Anfallsaufzeichnung für Patient:innen mit Epilepsie konzipiert und zugelassen werden, stehen mittlerweile zur Verfügung. Diese basieren u.a. auf Analysen von Elektrokardiografiesignalen und Photoplethysmografie (Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität), Elektromyografiesignalen (Amplituden- und EMG-Musteranalyse), Akzelerometrie (Bewegungssignale von Extremitäten) und Schweißsekretion (elektrodermale Aktivität bzw. Hautwiderstand). Zumeist werden diese Geräte als Uhr oder am Oberarm bzw. Bizeps als Band getragen. Es ist bereits klar, dass multimodale Systeme, die mehrere Analysen von unterschiedlichen physiologischen Signalen kombinieren, monomodalen Systemen überlegen sind und in Zukunft im Bereich der Anfallserfassung bzw. -überwachung zum Einsatz kommen werden.7 Aktuell erreichen solche Systeme Sensitivitäten von 77–100% bei Falsch-Alarm-Raten von 0,25–5,4 pro Tag.3,4,8,9 In diesem Zusammenhang ist natürlich neben einer notwendigen hohen Sensitivität insbesondere eine hohe Spezifizität bzw. niedrige Falsch-Alarm-Rate extrem wichtig, da andernfalls durch zu viele Fehlalarme Unsicherheit und Angst vor Anfällen bei Patient:innen und Angehörigen ausgelöst oder gesteigert werden können, anstatt die Patient:innensicherheit tatsächlich zu erhöhen. Systeme wie Nightwatch ( nightwatchepilepsy.com/de/ ) zeigten in Studien gute Ergebnisse und sind bereits kommerziell verfügbar.10 Eine Rückerstattung durch österreichische Gesundheitskassen ist bei entsprechender Indikation möglich (nähere Informationen u.a. unter institut-fuer-epilepsie.at ).
EEG-basierte Systeme
Neben nicht-EEG-basierten Systemen, die zumeist einfacher anzulegen und zu warten sind, werden auch sehr viele Anstrengungen unternommen, Ultralangzeit-EEG-Aufnahmen so einfach und praktikabel wie möglich durchzuführen. Dies ist von enormem Interesse, da elektrografische Anfälle mittels Ultralangzeit-EEG-Aufnahmen direkt über Monate hinweg aufgezeichnet werden können und somit die tatsächliche Anfallsfrequenz bzw. -häufigkeit erfasst werden kann. Hierfür wurden in den letzten Jahren insbesondere subdermale Elektroden, die unter die Kopfhaut implantiert werden, intensiv beforscht und zum Teil bereits kommerzialisiert. Ein europäisches Produkt namens UNEEG ( www.uneeg.com ) wurde als Medizinprodukt zugelassen und ist kommerziell verfügbar. Es zeigt eine sehr gute Langzeitdatenstabilität, hat aber gegenüber herkömmlichen klinischen Routine-EEGs den Nachteil einer nur geringen Sampling-Größe bzw. Abdeckung.11 Subdermale EEG-Systeme mit besserer Abdeckung entsprechend dem 10-20-System bzw. mit bilateralen Elektroden sind aktuell in Entwicklung. Problematisch ist bei Ultralangzeit-EEG-Aufnahmen die EEG-Datenauswertung selbst, da eine große Menge an EEG-Daten über einen langen Zeitraum von mehreren Monaten anfällt. Automatische EEG-Detektionsalgorithmen, konzipiert für eine geringe Anzahl von Elektroden, wie sie zumeist bei subdermalen EEG-Systemen zur Anwendung kommen, sind aktuell in Entwicklung und zeigen bereits ähnlich gute Ergebnisse – mit Sensitivitäten um 90% – wie EEG-Detektionsalgorithmen für herkömmliche klinische EEG-Datensätze.12 Laut einer rezenten Übersichtsarbeit, welche sich mit reduzierten, minimalinvasiven (subkutan/subgaleal/subskalp) sowie nichtinvasiven EEG-Systemen (Ohrelektroden/„Behind the ear“-Elektroden) befasste, zeigen diese neuartigen EEG-Systeme hohe Sensitivität (bis 98%) und Spezifität (bis 99%) für epileptische Anfälle. Epilepsietypische Potenziale kommen aber im Vergleich zu konventionellen EEG-Systemen nach dem internationalen 10-20-System deutlich seltener zur Darstellung, mit Sensitivitäten von nur 30–39,2%. Wie bereits erwähnt, kann eine automatische EEG-Analysesoftware in diesem Bereich Sensitivität und Spezifität teils deutlich verbessern bzw. insbesondere bei Ultralangzeit-EEG-Aufnahmen die Workload für EEG-Befunder:innen/Neurophysiolog:innen drastisch reduzieren.13
Conclusio
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bereits mehrere erprobte und praktikable dezidierte Medizinprodukte und Systeme (sowohl EEG-basiert als auch nicht-EEG-basiert) zur objektiven Anfallsaufzeichnung bzw. -überwachung für Menschen mit Epilepsie zur Verfügung stehen. Diese werden in naher Zukunft immer häufiger und breiter zum Einsatz kommen. Bei der Wahl des am besten geeigneten Systems werden individuelle Unterschiede und Bedürfnisse der Patient:innen sowie diagnostische/therapeutische Überlegungen von neurologischer/epileptologischer Seite einfließen. Als Vorstufe können Smartphone-Videos und Apps, aber auch herkömmlich verfügbare Smartwatches zur Anfallsaufzeichnung bzw. -dokumentation eingesetzt werden.
Es bestehen im Zusammenhang mit dem Artikel keine relevanten Interessenkonflikte seitens des Autors.
Literatur:
1 Hoppe C et al.: Epilepsy: accuracy of patient seizure counts. Arch Neurol 2007; 64(11): 1595-9 2 Cook MJ et al.: Prediction of seizure likelihood with a long-term, implanted seizure advisory system in patients with drug-resistant epilepsy: a first-in-man study. Lancet Neurol 2013; 12(6): 563-71 3 Beniczky S et al.: Machine learning and wearable devices of the future. Epilepsia 2021; 62 Suppl 2: S116-24 4 Hubbard I et al.: The challenging path to developing a mobile health device for epilepsy: the current landscape and where we go from here. Front Neurol 2021; 12: 740743 5 Beniczky S, Ryvlin P: Mobile health and digital technology in epilepsy: the dawn of a new era. Epilepsia 2023; 64 (Suppl 4): S1-3 6 Amin U et al.: Value of smartphone videos for diagnosis of seizures: everyone owns half an epilepsy monitoring unit. Epilepsia 2021; 62(9): e135-9 7 Tang J et al.: Seizure detection using wearable sensors and machine learning: setting a benchmark. Epilepsia 2021; 62(8): 1807-19 8 Halford JJ et al.: Detection of generalized tonic-clonic seizures using surface electromyographic monitoring. Epilepsia 2017; 58(11): 1861-9 9 Jeppesen J et al.: Seizure detection based on heart rate variability using a wearable electrocardiography device. Epilepsia 2019; 60(10): 2105-13 10 Arends J et al.: Multimodal nocturnal seizure detection in a residential care setting: a long-term prospective trial. Neurology 2018; 91(21): e2010-9 11 Weisdorf S et al.: High similarity between EEG from subcutaneous and proximate scalp electrodes in patients with temporal lobe epilepsy. J Neurophysiol 2018; 120(3): 1451-60 12 Hartmann M et al.: Seizure detection with deep neural networks for review of two-channel electroencephalogram. Epilepsia 2023; 4: S34-9 13 Ulate-Campos A, Loddenkemper T: Review on the current long-term, limited lead electroencephalograms. Epilepsy Behav 2024; 150: 109557
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