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Die Libido der Frau
DAM
Autor:
Dr. Elia Bragagna
Allgemeinmedizinerin und Sexualtherapeutin<br> E-Mail: praxis@eliabragagna.at
30
Min. Lesezeit
25.05.2017
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<p class="article-intro">Je nachdem, was Frauen ab dem Augenblick ihrer Geburt, oder eventuell schon vorher, an Erfahrungen im Umgang mit ihrer körperlichen und seelischen Integrität, ihren emotionalen und sozialen Bedürfnissen erleben durften, werden im ZNS Erinnerungen abgespeichert, die in ihnen Wohlgefühl oder Unbehagen bei sexuellen Begegnungen auslösen.</p>
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<p class="article-content"><p>Frauen tragen aber auch eine geschichtliche Last mit sich, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. In unserer christlichen Kultur galt „der eheliche Akt“ als „Verderben der Unversehrtheit, Abscheu, Entartung und Krankheit“.<sup>1</sup> Der Zweck der Ehe waren Kinderzeugung und Vermeidung von Unzucht. Frauen hatten „die eheliche Copula selbst unter Lebensgefahr zu leisten. Eher muss die Frau zugeben, dass sie getötet wird, als dass ihr Mann sündigt“ (sich selbst befriedigt).<sup>1</sup> Noch im Jahr 1940 wurden unehrbare Körperteile definiert, die man meiden sollte (Geschlechtsteile und Partien, die ihnen sehr nahe sind), genauso wie die weniger ehrbaren Körperteile (Brust, Rücken, Arme, Schenkel).<sup>2</sup><br /> Klitoridektomie bei jungen Mädchen, die sich sichtbar selbst befriedigten, galt bis Sigmund Freud noch als probate Heilmethode.<sup>1</sup> Noch 1975 erklärte Papst Paul VI „zu einigen Fragen der Sexualethik“, dass „Masturbierende der Liebe Gottes verlustig“ gehen.<sup>1</sup> Das und vieles mehr hat Konsequenzen. Weibliche Genitalien haben sehr oft keine Bezeichnung.<sup>3</sup> Noch immer gelten gesellschaftliche „double standards“ für die prägenden Phasen der Sexualentwicklung beider Geschlechter. Während es für Buben eine heterosexuell permissive Kultur gibt, ist sie für Mädchen eher restriktiv.<sup>4</sup> Mädchen lernen dabei, ihren Fokus auf Bindungsaspekte und die emotionale Ebene zu legen, und Buben auf die genitale Ebene. Diese Fertigkeiten können für sie im Erwachsenenleben einerseits zu ihrer Stärke, andererseits auch zu ihrer Schwäche werden. Typische Themen ergeben sich dazu in sexualmedizinischen Beratungsgesprächen von Frauen, die ihren Partnern erklären, dass sie nur Sex haben können, wenn emotional und sozial zwischen ihnen alles „passt“, und von Männern, die ihren Partnerinnen erklären, dass sie zärtlicher und emotional zugewandter wären, wenn sie öfters Sex hätten.</p> <h2>Folgen der historischen Last</h2> <p>Noch orientieren sich die meisten Frauen an der „männlichen“ Sexualität, mit zum Teil verheerenden Folgen. Eine Befragung junger Studentinnen ergab, dass jede Dritte von ihnen Schmerzen beim Geschlechtsverkehr hat. Jede Zweite davon schläft trotzdem weiterhin mit ihrem Partner. Jede Dritte sagt ihm davon nichts und jede Fünfte spielt Freude vor. Warum? Sie wollen ihm den Sex nicht verderben, ihn nicht verletzen. Seine Freude geht vor.<sup>5</sup> Eine Studie aus dem Jahr 2016 beschreibt, dass Frauen mit sich selbst und ihrem Körper weniger zufrieden sind und sie sich den Männern unterlegen fühlen.<sup>6</sup> Das wiederum führt zu einem negativen Einfluss auf die sexuelle Begegnung und auf die sexuelle Zufriedenheit der Frauen.<sup>7</sup><br /> Laut einer Studie mit 31 581 befragten Frauen ist jede zehnte Frau lustlos und leidet darunter. Frauen zwischen 30 und 39 sind davon genauso häufig betroffen wie Frauen zwischen 60 und 70.<sup>8</sup> Ist das alles nur eine Erfindung der Pharmaindustrie, wie kritische Sexualforscher anmerken?<sup>9</sup> Weisen die Kritiker zu Recht darauf hin, dass das Thema weibliche Sexualität erst in der Öffentlichkeit präsent ist, seitdem die Industrie versucht, Präparate gegen weibliche Sexualprobleme auf den Markt zu bringen? Ebenso, dass genitale Schönheitsoperationen so stark im Zunehmen sind, seitdem Intimität mit neuen Schönheitsnormen als Markt entdeckt wurde? Ein Großteil der Frauen mit dem Verlangen nach kosmetischen Genitaloperationen gibt keine operationswürdigen Gründe an, eher psychosoziale, wie zum Beispiel kosmetische Gründe (53 % ), Selbstbewusstsein verbessern (33 % ) oder sich normaler fühlen wollen (31 % ). Trotzdem wird auf der Körperebene operativ interveniert.<sup>10</sup><br /> All das Genannte beeinflusst natürlich auch die Sexualität der jungen Frauen und Männer (unterschiedlich). Unter 25-Jährige wurden gefragt, ob sie Sex immer genießen. 42 % der Männer sagten Ja, während nur 25 % der Frauen dies bejahten.<sup>11</sup> Es liegt ein Ungleichgewicht vor und das kann man nicht beheben, indem man die Sexualität der Frauen jener der Männer anpasst.</p> <h2>Nicht nach überholtem Wissen handeln</h2> <p>Bei der Behandlung weiblicher Sexualstörungen ist es wichtig, nicht nach überholtem Wissen zu handeln. Wenn Frauen keine Lust haben, heißt es noch lange nicht, dass sie lustlos sind. Was dämpft ihr sexuelles Interesse?<br /> Spontane Lust und Erregung, die noch bei Masters & Johnson<sup>12</sup> oder Kaplan<sup>13</sup> in ihren Modellen aufscheinen, empfinden nur 50 % der Frauen. Ein Teil der Frauen in längeren Beziehungen empfindet zwar selten, aber doch diese spontane Lust. Meist haben sie aber Sex aus vielen anderen Gründen, die eher auf der emotionalen Ebene liegen. Sie wollen zum Beispiel ihrem Partner emotional nah sein, fühlen sich dann von ihm verstanden, sorgen durch Sex für familiären Frieden und vieles mehr.<sup>14</sup> Ihr Fokus liegt noch dort, wo ihn Generationen von Frauen schon hatten, auf der emotionalen/sozialen Ebene. Das erklärt, warum ihr System vor allem auf emotionale Signale des Partners anspricht und nicht auf explizit sexuelle.<br /> Wenn wir in unserer täglichen Praxisarbeit mit Frauen, die unter vermindertem sexuellem Interesse leiden, alle organischen Ursachen ausgeschlossen haben, sollte die Exploration auf die psychosoziale Ebene verlegt werden. Dazu gehört zu erfragen, ob ihre Lebensumstände (berufliche und private) lustfördernd sind, genauso wie die momentane (sexuelle) Beziehung.<br /> Sexuell verunsicherte Patientinnen brauchen sexualmedizinisch sichere Ansprechpartner. Eine Befragung von sexualmedizinisch interessierten österreichischen Ärzten ergab, dass die Hälfte nicht nach der sexuellen Gesundheit ihrer Patienten fragt, weil sie über zu wenig sexualmedizinisches Wissen und Zeit verfügt. Sexualmedizin ist aber mit entsprechendem Basiswissen gut in den Arbeitsalltag integrierbar.<br /> Die Österreichische Akademie der Ärzte bietet heuer wieder im Rahmen der „Sexualmedizinischen Woche“ in Wien die Gelegenheit, sich in vier Tagen dieses Basiswissen anzueignen. Nähere Information unter: www.arztakademie.at/basismodulsexualmedizin.</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Ranke-Heinemann U: Eunuchen für ein Himmelreich. München: Verlag Heyne, 1988 <strong>2</strong> Jone H: Katholische Moraltheologie. 12. Auflage. Paderborn: Schöningh, 1940 <strong>3</strong> Richardson J, Schuster MA: Everything you never wanted your kids to know about sex (but were afraid they'd ask). New York: Three Rivers Press, 2003 <strong>4</strong> Petersen JL, Hyde JS: A meta-analytic review of research on gender differences in sexuality, 1993–2007. Psychol Bull 2010; 136: 21-38 <strong>5</strong> Elmerstig E et al: Prioritizing the partner's enjoyment. J Psychosom Obstet Gynaecol 2013; 34(2): 82-9 <strong>6</strong> Elmerstig E et al: Being "good in bed"-body concerns, selfperceptions, and gender expectations among Swedish heterosexual female and male senior high-school students. J Sex Marital Ther 2016; 9: 1-17 <strong>7</strong> Pujols Y et al: The association between sexual satisfaction and body image in women. J Sex Med 2010; 7(2 Pt 2): 905-16 <strong>8</strong> Shifren JL et al: Sexual problems and distress in United States women: prevalence and correlates. Obstet Gynecol 2008; 112: 970-8 <strong>9</strong> Meixel A et al: Hypoactive sexual desire disorder: inventing a disease to sell low libido. J Med Ethics 2015; 41(10): 859-62 <strong>10</strong> Goodman MP et al: A large multicenter outcome study of female genital plastic surgery. J Sex Med 2010; 7(4 Pt 1): 1565-77 <strong>11</strong> De Graaf H et al: Seks onder je 25e: seksuele gezondheid van jongeren in Nederland anno 2012 [Sex under the age of 25: sexual health among youth in the Netherlands in 2012]. Delft: Eburon, 2012 <strong>12</strong> Masters W, Johnson V: Die sexuelle Reaktion. Frankfurt am Main: Akademische Verlagsges., 1967 <strong>13</strong> Kaplan H: Disorders of sexual desire. New York: Brunner/Mazel, 1979 <strong>14</strong> Basson R: Using a different model for female sexual response to address women's problematic low sexual desire. J Sex Marital Ther 2001; 27(5): 395-403</p>
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