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Verschiedene individuell angepasste Therapiebausteine
Leading Opinions
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01.09.2016
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<p class="article-intro">Die pathologischen Veränderungen im Gehirn bei Demenz sind sehr komplex, weshalb es schwierig ist, Therapien zu entwickeln. An der Frühjahrstagung der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin in Basel erklärte Prof. Dr. med. Egemen Savaskan, wie eine leitliniengerechte Therapie aussieht. Dabei gilt es zwei grosse Schwierigkeiten zu beachten: die Multimorbidität und die Polypharmazie. In erster Linie werden nicht medikamentöse Massnahmen angewendet. Reichen diese nicht aus oder liegt aufgrund der akuten Symptome eine Gefährdung vor, kommen Medikamente zum Einsatz.</p>
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<p class="article-content"><p>Je früher wir mit der Therapie einsetzen, desto besser – damit kann das Fortschreiten der Demenz gebremst werden», sagte Prof. Dr. med. Egemen Savaskan, Chefarzt der Klinik für Alterspsychiatrie an der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Mehr als 120 000 Menschen leiden in der Schweiz zurzeit an Demenz. «Bis 2050 verdreifacht sich die Zahl vermutlich, wenn wir bis dahin keine kausale Therapie haben», so Savaskan. Die Betreuung zu Hause kostet mehr als 55 000 Franken pro Person und Jahr, die Betreuung im Heim mehr als 68 000 Franken.<sup>1</sup> Die Kosten zu Hause werden zu einem grossen Teil von den Angehörigen getragen.<br /> Als man in den 1980er-Jahren feststellte, dass es bei den Alzheimerpatienten zu einem Mangel an Acetylcholin im Gehirn kommt, vor allem im Nucleus basalis Meynert, wurden Acetylcholinesterase-Hemmer entwickelt. «Damals dachte man, das Problem sei damit gelöst. Aber es kommt auch zum Verlust anderer Neurotransmitter, was die Therapie schwierig macht.» So geht die Konzentration von Noradrenalin im Nucleus coeruleus um 50–70 % zurück und diejenige von Serotonin in den Raphekernen um 20–40 % .<sup>2</sup> Die Abnahme dieser Neurotransmitter erklärt die neuropsychiatrischen Symptome, auch als behaviorale und psychologische Symptome der Demenz bezeichnet (BPSD). Unter neuropsychiatrischen Beschwerden, zum Beispiel Depression, Angst, Wahn oder Aggressivität, leiden viele Patienten (Tab. 1). «Diese Symptome erschweren die Betreuung oft mehr als die kognitiven Probleme und belasten die Angehörigen enorm», berichtete Savaskan. Die Hälfte der Patienten leidet von Anfang an unter einer Depression. Oft ist sie der Grund, weshalb die Betroffenen einen Arzt aufsuchen. Neuropsychiatrische Symptome belasten nicht nur Patient und Angehörige, die Betroffenen müssen auch früher in ein Heim, ihre kognitiven Fähigkeiten bauen schneller ab, die Lebensqualität sinkt, und sie haben eine schlechtere Prognose.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1604_Weblinks_Seite15.jpg" alt="" width="812" height="570" /></p> <h2>Nicht medikamentöse Massnahmen</h2> <p>Wegen der Symptomvielfalt besteht die Behandlung aus verschiedenen Therapiebausteinen, die individuell zusammengestellt werden (Abb. 1). Savaskan hat gemeinsam mit Experten verschiedener Schweizer Fachgesellschaften 2014 Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der BPSD erarbeitet.<sup>3</sup> In der Behandlung der Demenz werden in erster Linie nicht medikamentöse Interventionen und psychosoziale Massnahmen angewendet. Medikamente kommen zum Einsatz, wenn diese Massnahmen nicht ausreichen oder wenn aufgrund der akuten Symptome eine Gefährdung vorliegt. Eine grosse Herausforderung stellt die Tatsache dar, dass Demenzpatienten häufig multimorbid sind und viele Medikamente einnehmen müssen. «Oft erreicht man schon viel, indem man die Indikation dieser Medikamente prüft und die nicht mehr notwendigen absetzt», sagte Savaskan. «Wir versuchen das gleich am Anfang der Behandlung. Das hilft oft schon, die Symptome zu lindern, die durch Nebenwirkungen der Medikamente verursacht sind.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Leading Opinions_Innere_1604_Weblinks_Seite16.jpg" alt="" width="803" height="494" /> Die nicht medikamentösen Massnahmen, die auch präventive und symptomlindernde Wirkungen haben können, sind viel wichtiger als die Medikamente. Studien haben positive Effekte gezeigt für kreative Aktivität, körperliche Bewegung, ausgewogene Ernährung mit viel Gemüse und Obst, ein aktives soziales Leben und die Behandlung der vaskulären Risikofaktoren wie Hypertonie.<sup>4</sup> «Würden alle so leben, könnten wir vermutlich viele Demenzkrankheiten, viel Leid und auch viele Kosten sparen», sagte Savaskan. «Man muss mit einem gesunden, aktiven Lebensstil aber schon sehr früh anfangen.»</p> <h2>Medikamentöse Behandlung</h2> <p>Helfen nicht medikamentöse Massnahmen nicht, sollten zuerst Antidementiva eingesetzt werden. Diese wirken nicht nur gegen kognitive Störungen, sondern auch gegen BPSD und sie verursachen weniger Nebenwirkungen als zum Beispiel Neuroleptika. Die World Federation of Societies of Biological Psychiatry empfiehlt bei beginnender kognitiver Störung, die nicht den Schweregrad einer Demenz erreicht, keine Antidementiva, weil es dafür keine ausreichende Evidenz gibt.<sup>5</sup> Für die folgenden Substanzen gibt es gute Evidenz für deren Wirksamkeit bei Alzheimerdemenz: Acetylcholinesterase-Hemmer (Donepezil, Galantamin, Rivastigmin), Memantin und Ginkgo biloba. Alle zeigen einen moderaten, aber signifikanten Effekt. Symptome werden gelindert, aber die Krankheit an sich kann nicht rückgängig gemacht werden.<br /> <br /><strong> Ginkgo biloba</strong><br /> Der standardisierte Ginkgo-biloba-Extrakt wirkt ebenfalls auf kognitive Symptome und auf BPSD, vor allem bei Angst, Reizbarkeit, Apathie und Depression.<sup>6–8</sup> «Das Problem sind aber die oft geringe Therapieadhärenz und die kurze Einnahmedauer», sagte Savaskan. «Man muss mit Ginkgo biloba früh im Krankheitsprozess anfangen und es regelmässig nehmen.» Viele Patienten seien dem Präparat gegenüber sehr offen, erzählte der Psychiater, weil es ein pflanzliches Mittel ist. «Aber dann führen sie die Behandlung nicht kontinuierlich fort.»<br /> <br /><strong> Acetylcholinesterase-Hemmer</strong><br /> Acetylcholinesterase-Hemmer wirken bei leichter bis mittelschwerer Demenz. Es soll die höchste verträgliche Dosis angestrebt werden, aber man steigt zunächst mit geringen Dosen ein. Die Auswahl des Acetylcholinesterase-Hemmers orientiert sich gemäss S3-Leitlinie<sup>9</sup> primär am Nebenwirkungsprofil, da es bisher keine ausreichenden Hinweise gibt, dass eine dieser Substanzen besser wirken würde als die anderen. Acetylcholinesterase-Hemmer lindern sowohl die kognitiven Symptome, als auch die BPSD, vor allem Depression, Angst und Apathie.<br /> <br /><strong> Memantin</strong><br /> Der nicht kompetitive NMDA-Rezeptor-antagonist Memantin wird bei mittelschwerer bis schwerer Demenz empfohlen. Er wirkt vor allem auf Agitation, Aggressivität und psychotische Symptome. Es gibt Hinweise darauf, dass Patienten von der Kombination von Memantin mit einem Acetylcholinesterase-Hemmer mehr profitieren als von der Einzeltherapie.<sup>10</sup><br /> <br /><strong> Antidepressiva</strong><br /> Viele Demenzpatienten leiden, oft von Anfang an, unter einer Depression. «Mit einer effektiven antidepressiven Therapie können wir auch die anderen Symptome positiv beeinflussen», so Savaskan. Die Depression verschlechtert Kognition und Alltagsfunktionen zusätzlich. Es gibt wenige kontrollierte Studien über Antidepressiva bei älteren Menschen. Trizyklische Antidepressiva werden wegen der anticholinergen Nebenwirkungen nicht empfohlen. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer können die Depression bei korrekter Indikationsstellung bessern.<br /> <br /><strong> Schlafmittel</strong><br /> Benzodiazepine waren lange Zeit die am häufigsten verordneten Medikamente gegen Schlafstörungen. «Sie sind aber sehr problematisch wegen der Nebenwirkungen – unter anderem Stürze und Atemdepression – und wegen des Abhängigkeits- potenzials», warnte Savaskan. «Sie sollten nur im Notfall, zeitlich limitiert und in niedrigster Dosierung eingesetzt werden. Grundsätzlich sollten Demenzpatienten möglichst keine Benzodiazepine erhalten.» Benzodiazepin-Analoga verursachen etwas weniger Nebenwirkungen, es gibt aber kaum Studien zur Wirksamkeit. Auch Melatonin in Kombination mit einer Lichttherapie kann versucht werden, aber auch dazu gibt es nur ungenügende Daten. «Viel wichtiger als Medikamente ist eine gute Schlafhygiene», betonte Savaskan, «also eine geordnete Tagesstruktur mit physischer Aktivität, regelmässige Essenszeiten, keine Stimulanzien wie Kaffee oder Alkohol ab dem Nachmittag und geringe Reizüberflutung mit ruhiger Umgebung. Das hilft gut und verursacht keine Nebenwirkungen.» <br /> <br /><strong> Neuroleptika</strong><br /> Der Einsatz von Neuroleptika bei Demenzpatienten ist sehr problematisch. Einige kontrollierte Studien zeigen, dass sie bei BPSD wirken. «Das macht es schwierig, Neuroleptika nicht zu empfehlen. Aber wegen der schweren Nebenwirkungen sollte man die Indikation alle sechs Wochen überprüfen und versuchen, die Präparate abzusetzen, wenn die Symptome verschwinden.» Eine Behandlung sollte mit der geringstmöglichen Dosis unter engmaschiger Kontrolle und zeitlich limitiert erfolgen. Klassische Neuroleptika wie Haloperidol dürfen nur bei Übergängen zum Delir eingesetzt werden. Alte Substanzen wie Pipamperon kann man unter Berücksichtigung der Nebenwirkungen bei Agitation und Aggressivität verschreiben, aber die Wirksamkeit ist nicht in kontrollierten Studien belegt. Zunehmend werden neuere Substanzen wie atypische Neuroleptika bei BPSD eingesetzt, etwa Risperidon, Aripiprazol, Olanzapin oder Quetiapin. Bis auf Risperidon erfolgt der Einsatz dieser Medikamente «off-label». Atypische Neuroleptika wirken gut bei Aggressivität, Unruhe und psychotischen Symptomen.<br /> Antipsychotika gehen mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko einher, sie verursachen zerebrovaskuläre Ereignisse, Herzrhythmusstörungen, Störungen des Metabolismus wie metabolisches Syndrom und können zu Pneumonien, Beinvenenthrombosen oder Blutbildveränderungen führen. Vor dem Einsatz sollte neben einer klinischen Anamnese genau nach Krankheiten in der Familie gefragt werden, ein EKG muss durchgeführt, die Elektrolyte müssen bestimmt werden und man muss prüfen, ob es Interaktionen mit anderen Medikamenten gibt.<br /> <br /><strong> Schmerzbehandlung</strong><br /> Schmerzen können BPSD verstärken, aber auch auslösen. «Schmerzen müssen bei Demenzkranken gezielt behandelt werden», sagte Savaskan. Dabei muss man aber das delirogene Potenzial der Substanzen beachten. «Eine adäquate Schmerztherapie hilft wahrscheinlich auch, die kognitive Funktion zu verbessern. Es gibt dafür zwar noch keine Evidenz, zurzeit laufen aber gute Studien zu diesem Thema.»</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Schweizerische Alzheimervereinigung, 2012 <br /><strong>2</strong> Lanari A et al: Neurotransmitter deficits in behavioural and psychological symptoms of Alzheimer’s disease. Mech Ageing Dev 2006; 127: 158-65 <br /><strong>3</strong> Savaskan E et al: Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychiatrischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis 2014; 103: 135-48 <br /><strong>4</strong> Plassmann BL et al: Systematic review: factors associated with risk for and possible prevention of cognitive decline in later life. Ann Intern Med 2010; 153: 182-93 <br /><strong>5</strong> Ihl R et al: World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) guidelines for the biological treatment of Alzheimer’s disease and other dementias. World J Biol Psychiatry 2011; 12: 2-32 <br /><strong>6</strong> Napryeyenko O et al: Efficacy and tolerability of Ginkgo biloba extract EGb 761 by type of dementia: analyses of a randomised con-trolled trial. J Neurol Sci 2009; 283: 224-9 <br /><strong>7</strong> Ihl R et al: Baseline neuropsychiatric symptoms are effect modifiers in Ginkgo biloba extract (EGb 761®) treatment of dementia with neuropsychiatric features. Retrospective data analyses of a randomized controlled trial. J Neurol Sci 2010; 299: 184-7 <br /><strong>8</strong> Herrschaft H et al: Ginkgo biloba extract EGb 761® in dementia with neuropsychiatric features: a randomised, placebo-controlled trial to confirm the efficacy and safety of a daily dose of 240 mg. J Psychiatr Res 2012; 46: 716-23 <br /><strong>9</strong> DGPPN: S3-Leitlinie «Demenzen», 1. Revision, August 2015. <a href="https://www.dgppn.de/publikationen/s3-leitlinie-demenzen.html" target="_blank">https://www.dgppn.de/publikationen/s3-leitlinie-demenzen.html</a> <br /><strong>10</strong> Lopez OL et al: Long-term effects of the concomitant use of memantine with cholinesterase inhibition in Alzheimer disease. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2009; 80: 600-7 <br /><strong>11</strong> Steinberg M et al: Point and 5-year period prevalence of neuropsychiatric symptoms in dementia: the Cache County Study. Int J Geriatr Psychiatry 2008; 23: 170-7</p>
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