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Stress induziert neurologische Störungen bis in die nächste Generation
Jatros
30
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13.12.2018
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<p class="article-intro">Depressionen, Stress und Resilienz sind in unserer schnelllebigen Zeit zu einem wichtigen Thema geworden. Etwa 20 % der Europäer leiden unter einer Major Depression und die Hälfte dieser Menschen unter einer ängstlichen Depression. Dass Kindheitserlebnisse bei der Entwicklung einer Depression eine Rolle spielen können, ist bekannt. In welchem Ausmaß Stresssituationen zu Veränderungen im Gehirn führen und sogar den Nachwuchs betreffen können, wird zunehmend erforscht. Beim 31. Kongress des European College of Neuropsychopharmacology wurden interessante Erkenntnisse zu dem Thema präsentiert.</p>
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<p class="article-content"><p>Wird über die Widerstandskraft gegen Stress (Resilienz) diskutiert, so besteht das erste Problem bereits in der Begriffsfindung, erklärte Nic van der Wee vom Leiden University Medical Center. Probleme mache, dass die Resilienz per se kein festzulegender Punkt sei, sondern heute eher als Übergang oder als Prozess verstanden werde. Ausgangspunkt ist, dass ein akuter oder chronisch bestehender Stress zu einer Reaktion führt, der eine Phase der Erholung folgt, bis eine Phase des langfristigen Ergebnisses und schließlich ein endgültiges Ergebnis erreicht wird. Im dynamischen Prozess der Traumaverarbeitung bei resilienten Personen wird eine Phase der direkten Heilung nach Stressaussetzung als automatischer psychologischer und biologischer Prozess beschrieben. Dem folgt in einer längerfristigen Phase ein mentaler Prozess, der bis hin zu einer Sinnfindung in dem Erlebten und einer Veränderung des Lebensziels führen kann. Von Resistenz würde man sprechen, wenn es keine Schädigung während oder nach der Stressaussetzung gäbe, bemerkte van der Wee. <br />Die Ansätze zur Erklärung der psychologischen und psychosozialen Faktoren sind vielfältig. Neurologische Veränderungen im Gehirn von Personen mit hoher Stressresilienz scheinen die rechte anteriore Insula und den anterioren cingulären Kortex (ACC) zu betreffen.<sup>1</sup> Dass ein spezielles Training zur Achtsamkeit vor Stressaussetzung positive Veränderungen hervorrufen kann, zeigte eine Studie mit 281 angehenden Soldaten.<sup>2</sup> Nach dem Achtsamkeitstraining wurden geringere Neuropeptid-γ-Plasmakonzen trationen und weniger Blutoxygenspiegel-abhängige Signale in der rechten Insula und dem ACC beobachtet.</p> <h2>Kindheitserfahrungen und Resilienz brauchen individuelle Modelle</h2> <p>Es sei erstaunlich, dass in Millionen von Jahren der menschlichen Evolution Stress immer allgegenwärtig war, aber der Mensch so wenige Mechanismen entwickelt habe, um damit umzugehen, konstatierte Mathias V. Schmidt, Max-Planck-Institut, München. Es seien multiple epigenetische und molekulare Adaptionen aufgrund von Stress in frühen Lebensphasen bekannt, die lebenslange Konsequenzen auf die Psyche und das Verhalten des Individuums haben.<sup>3</sup> So ist die Stressaussetzung konsistent und signifikant mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Depression assoziiert.<sup>4</sup> Da das Risiko für eine psychiatrische Störung laut epidemiologischen Studien durch frühe Stressaussetzung erhöht ist, sollten molekulare Anpassungen als Folge der frühen Stressaussetzung weniger gut vererbbar sein, erklärte Schmidt. Allerdings seien die stressinduzierten Adaptionen gut erhalten und sehr spezifisch.<br /> In diversen Modellen wird versucht, der Auswirkung von früher Stressaussetzung auf spätere Stressresilienz oder -vulnerabilität Rechnung zu tragen. Das kumulative Modell erwartet mehr stressbedingte Erkrankungen, wenn der Stress kumuliert. Die Mismatch-Hypothese zielt hingegen darauf ab, dass eine genetische Prädisposition sowie bestimmte Situationen im Erwachsenenalter zusammenkommen müssen, um eine stressbedingte Erkrankung auszulösen.<sup>5</sup> Die individuelle Prädisposition würde demnach eher dem kumulativen Modell entsprechen, wenn wenig Stress in frühen Lebensphasen bestand, oder dem Mismatch-Modell, wenn Personen einem starken programmierenden Effekt ausgesetzt waren. Dies konnte – zumindest im Tiermodell – bestätigt werden.<sup>6</sup> Moderater Stress in frühen Lebensphasen erhöhte die Stressresilienz der Mäuse. Dabei wurden diverse Genexpressionen in verschiedenen Hirnregionen identifiziert, die sich als prädiktiv für die individuelle Stressvulnerabilität erwiesen.<sup>7</sup></p> <h2>Auf Kindesmissbrauch folgt stärkere biochemische Stressantwort</h2> <p>Bei ängstlichen Depressionen aufgrund eines Kindheitstraumas verändern sich häufig die molekularen Strukturen im Gehirn und Standardmedikamente werden ineffektiv, so neue Erkenntnisse, die beim ECNP präsentiert wurden.<sup>8</sup> Bei Patienten mit Major Depression und Angststörungen ist die Erkrankung meistens schwerer Natur, es wird ein schlechtes Therapieergebnis erreicht und das Selbstmordrisiko ist gegenüber einer „normalen“ Depression erhöht. Wissenschaftler haben nun festgestellt, dass die Biochemie der Patienten mit ängstlicher Depression sich von anderen Depressionen unterscheidet und daher eine andere Behandlung erwogen werden sollte. Zudem weisen Patienten, die als Kinder sexuell missbraucht worden sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit eine veränderte Biochemie auf. <br />Es wurden 144 Patienten mit Major Depression untersucht, von denen bei 78 Patienten eine ängstliche Depression festgestellt wurde. 30 % der Patienten mit ängstlicher Depression versus 16 % mit anderen Depressionen waren als Kind sexuell missbraucht worden und 76 % versus 58 % erlitten eine emotionale Vernachlässigung. Es wurde auch ein Unterschied beider Gruppen im Umgang mit Stresshormonen beobachtet: Patienten mit ängstlicher Depression reagierten mit erhöhter Sensitivität der HPA(Hypothalamus-Hypophysen- Nebennierenrinden)-Achse, während Patienten mit anderer Depression häufiger eine reduzierte Sensitivität zeigten. Patienten, die als Kinder sexuell missbraucht worden waren, wiesen ein reaktiveres Immunsystem auf, nicht so aber Patienten mit ängstlicher Depression, die nicht missbraucht woden waren. Demnach hat das frühe Trauma im Leben der Patienten möglicherweise zu einer Konditionierung des Immunsystems und damit zu einer anderen Art auf Stress zu reagieren geführt. Da ein schlechterer Behandlungserfolg gesehen wird, sollte bei Patienten mit ängstlicher Depression und Kindheitstrauma möglicherweise eine differenzierte Behandlung erwogen werden.</p> <h2>Schnellere DNA-Alterung nach Kindheitstrauma</h2> <p>Es verdichten sich auch die Hinweise darauf, dass schwere Depressionen und Traumata mit einer kürzeren Überlebenszeit assoziiert sind. Nun konnte ein internationales Wissenschaftlerteam zeigen, dass eine Major Depression messbare Veränderungen der DNA-Methylierung bedingt, die mit den Werten älterer Menschen ohne Depression korrespondieren.<sup>9</sup> In die Untersuchung wurden 811 Patienten mit Depression und 319 Kontrollpersonen eingeschlossen. Laut Blutuntersuchungen waren Patienten des gleichen chronologischen Alters bei Vorliegen einer Depression um durchschnittlich 8 Monate älter als die nicht depressiven Kontrollen. In wenigen Fällen mit extrem schwerer Depression wurde ein um 10–15 Jahre höheres biologisches als chronologisches Alter festgestellt. Eine Hirnuntersuchung post mortem an 74 depressiven und 64 nicht depressiven Patienten bestätigte diese Ergebnisse auch für das Hirngewebe. Patienten, die angaben, in einem Alter unter 16 Jahren emotionale Vernachlässigung, sexuellen oder psychischen Missbrauch erlebt zu haben, zeigten eine um 1,06 Jahre vorgestellte Lebensuhr. Damit weist diese Studie auf die Notwendigkeit hin, Kindheitstraumen präventiv zu begegnen sowie Traumata früh zu behandeln, um depressiven Störungen, aber auch epigenetischen Veränderungen vorzubeugen.</p> <h2>Vom Vater auf seine Nachkommen vererbter Stress</h2> <p>Ob stressbedingte Erkrankungen vererbbar sind, damit beschäftigt sich Tracy L. Bale, School of Medicine, Baltimore, USA. In einer Keynote-Lecture präsentierte sie beim ECNP in Barcelona Ergebnisse zum Einfluss von pränatalen Stresssituationen des Vaters auf die nachfolgende Generation. Dazu setzte sie männliche Mäuse Stresssituationen aus, gab die Mäuse zur Paarung mit den Muttertieren zusammen und untersuchte schließlich den Nachwuchs auf Veränderungen der Keimbahnzellen und Einflüsse auf die Gehirnentwicklung. Im Ergebnis konnten bei der Tochtergeneration Dysregulationen der HPA-Achse festgestellt werden. <br />Der väterliche Samen wurde zudem auf Veränderungen der miRNA untersucht und geänderte Expressionsmuster wurden sowohl in extrazellulären Vesikeln (EV) der Samen als auch im Sperma der gestressten Mäuse identifiziert. Wurde die miRNA der gestressten Väter in die Zygoten der Mütter injiziert, zeigte sich in der Tochtergeneration ein Stressphänotyp. Ebenso scheint die Sperma-miRNA die gespeicherte mRNA der Muttertiere zu beeinflussen. Die Wissenschaftler gehen daher davon aus, dass miRNA-haltige EV der Nebenhodenepithelzellen für die „Stress-Programmierung“ bei der Befruchtung der Eizelle verantwortlich ist. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass die Erlebnisse der Eltern eine epigenetische Programmierung der Keimzellen induzieren können und die neurologische Entwicklung der Nachkommen beeinflussen.</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: 31<sup>st</sup> ECNP Congress, 6.–9. Oktober 2018, Barcelona
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<p><strong>1</strong> Haase L et al.: Mindfulness-based training attenuates insula response to an aversive interoceptive challenge. Soc Cogn Affect Neurosci 2016; 11: 182-90 <strong>2</strong> Johnson DC et al.: Modifying resilience mechanisms in at-risk individuals: A controlled study of mindfulness training in marines preparing for deployment. Am J Psychiatry 2014; 171: 844-53 <strong>3</strong> De Kloet ER et al.: Stress and the brain: From adaptation to disease. Nat Rev Neurosci 2005; 6: 463-75 <strong>4</strong> Culverhouse RC et al.: Collaborative meta-analysis finds no evidence of a strong interaction between stress and 5-HTTLPR genotype contributing to the development of depression. Mol Psychiatry 2018; 23: 133-42 <strong>5</strong> Nederhof E, Schmidt MV: Mismatch or cumulative stress: Toward an integrated hypothesis of programming effects. Physiol Behav 2012; 106: 691-700 <strong>6</strong> Santarelli S et al.: Evidence supporting the match/mismatch hypothesis of psychiatric disorders. Eur Neuropsychopharmacol 2014; 24: 907-14 <strong>7</strong> Köhler JC et al.: Early-life adversity induces epigenetically regulated changes in hippocampal dopaminergic molecular pathways. Mol Neurobiol 2018, doi:org/10.1007/ s12035-018-1199-1 <strong>8</strong> Lehrieder D et al.: Childhood trauma dependent anxious depression sensitizes HPA axis function. ECNP 2018, Poster #555 <strong>9</strong> Han L et al.: Epigenetic aging in major depressive disorder. ECNP 2018, Abstr. #S14.08</p>
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