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Europäisches Forum Alpbach: Gesundheitsgespräche 2016

„Neue Aufklärung“ oder Gesundheit 2.0?

<p class="article-intro">Das Forum Alpbach und mit ihm die Alpbacher Gesundheitsgespräche, 21.–23. August 2016, standen heuer unter dem Generalthema „Neue Aufklärung“. Die Ideale der Aufklärung, das Vertrauen in die Kraft der Vernunft und den Fortschritt im Gesundheitswesen, wurden dabei jedoch zu einer Frage nach der besseren Technik umgedeutet.</p> <hr /> <p class="article-content"><h2>&bdquo;Leih mir deine Augen &hellip;&ldquo;</h2> <p>H&ouml;rt man Christian Erfurt, den jungen CEO des d&auml;nischen Start-ups &bdquo;Be My Eyes&ldquo;, von der Idee erz&auml;hlen, die den Impuls zur Gr&uuml;ndung des innovativen Unternehmens gab, l&auml;sst man sich gerne von seiner Begeisterung anstecken: Die Smartphone-App, die Erfurt mit seinen Kollegen entwickelt hat, erm&ouml;glicht es blinden und sehbehinderten Menschen, mit freiwilligen Helfern in Kontakt zu treten, die ihnen ihre Augen leihen &ndash; ganz einfach, indem sie ihnen mitteilen, was sie durch die Handykamera der Anwender sehen &ndash;, und das rund um die Uhr und in jeder Zeitzone der Welt. &bdquo;Innerhalb eines Jahres haben wir damit weltweit &uuml;ber 29.000 sehbehinderte Menschen erreicht, denen mehr als 350.000 Freiwillige im wahrsten Sinne des Wortes ihr Augenlicht zur Verf&uuml;gung stellten&ldquo;, so Erfurt.<br /> Als Entwickler seien sie selbst &uuml;berrascht gewesen, zu welchen Zwecken die Anwender die App nutzten: &bdquo;Eine Mutter lie&szlig; etwa das Basketballspiel ihres Sohnes in Echtzeit kommentieren, eine junge Frau wollte das Ergebnis eines handels&uuml;blichen Schwangerschaftstests erfahren, ohne dass es jemand aus ihrem Umfeld kennen sollte.&ldquo; Einige User verwendeten die App auch dazu, sich etwas vorlesen zu lassen, nicht alle waren sehbehindert, einige auch Analphabeten, manche vielleicht einsam oder hilfsbed&uuml;rftig. Das oberste Prinzip von &bdquo;Be My Eyes&ldquo; sollte es Erfurt zufolge aber sein, den Service allen Anwendern f&uuml;r ihre eigenen Zwecke kostenlos zur Verf&uuml;gung zu stellen. Nach und nach realisierten die Betreiber, was sie da geschaffen hatten: eine Plattform zur Vermittlung freiwilliger Arbeit in globalem Ma&szlig;stab.</p> <h2>Freiwillige vor!</h2> <p>Mit Blick auf das heimische Gesundheitswesen kann man sich nur mehr Ideen und Initiativen wie &bdquo;Be My Eyes&ldquo; w&uuml;nschen, frei nach John F. Kennedy: &bdquo;Frage nicht, was dein Gesundheitssystem f&uuml;r dich tun kann, sondern was du f&uuml;r dein Gesundheitssystem tun kannst.&ldquo; Es erscheint daher nur konsequent, dass das Unternehmen eingeladen wurde, sich im Rahmen der Gesundheitsgespr&auml;che gemeinsam mit anderen &bdquo;digitalen Pionieren im Gesundheitsbereich&ldquo; vorzustellen. Immerhin k&ouml;nnte der Service, den es anbietet, mit kleinen Adaptionen auch f&uuml;r die medizinische Betreuung pflegebed&uuml;rftiger Menschen oder von Fl&uuml;chtlingen und Menschen ohne Deutschkenntnisse verwendet werden.<br /> In den Augen all jener, die auf die Leistungen des bestehenden Systems als Patienten angewiesen sind oder die bereits darin arbeiten und sich teilweise an seinen Arbeitsbedingungen aufreiben, k&ouml;nnte die implizite Aufforderung zu mehr Eigeninitiative mittels Technik jedoch mitunter wie ein zynischer Kommentar erscheinen.</p> <h2>Pferdefu&szlig; der Aufkl&auml;rung</h2> <p>Tats&auml;chlich konzentrierten sich Fortschrittsglaube und Zukunftshoffnung der &bdquo;Neuen Aufkl&auml;rung&ldquo; nahezu ausschlie&szlig;lich auf den Nutzen der rasant voranschreitenden Digitalisierung f&uuml;r die Entwicklung unserer Gesellschaft. Die Plenarsitzungen und Podiumsdiskussionen im Rahmen der Gesundheitsgespr&auml;che malten hingegen ein d&uuml;steres Bild des bestehenden Gesundheitswesens:<br /> Fortschritte in der Medizin seien mehr als fraglich und vielfach von den kommerziellen Interessen der Pharmaindustrie &uuml;berformt; auch das Feld der hehren Wissenschaft sei nicht davor gefeit, neuen Mythen anheimzufallen; eine fehlgeleitete mediale Berichterstattung &uuml;ber die Bedeutung und den praktischen Wert wissenschaftlicher Erkenntnisse trage zudem nicht zu mehr Aufkl&auml;rung, sondern zur fortgesetzten Vernebelung der &ouml;ffentlichen Meinung bei; nicht zuletzt seien Patienten generell &uuml;bertherapiert und verst&uuml;nden medizinische Versorgung zusehends als Selbstbedienungsladen zur Behandlung j&auml;hrlich wechselnder Modeerkrankungen.<br /> Nachdem sich alle Berufsgruppen des Gesundheitswesens einer derart fundamentalen (Selbst-)Kritik unterzogen hatten, blieb beim Publikum ein Eindruck von Ratlosigkeit zur&uuml;ck: &bdquo;Gibt es denn noch ernsthaft kranke Menschen in unserem Land, denen die Medizin auf anderem Wege helfen kann als mittels Smartphone-Apps und Gesundheitsdatenbanken?&ldquo;<br /> Nat&uuml;rlich wohnt den neuen Digitaltechnologien ein ungeheures Potenzial zur Verbesserung unseres Gesundheitssystems inne. Letztendlich stellen viele der Neuerungen, die sie erm&ouml;glichen, die praktische Implementierung dessen dar, was wir unter Schlagworten wie &bdquo;individualisierte Therapie&ldquo;, &bdquo;m&uuml;ndiger Patient&ldquo; und &bdquo;Medizin auf Augenh&ouml;he&ldquo; kennen.<br /> Es bleibt aber zu fragen, ob aus der Sicht der neuen Aufkl&auml;rer der elektronisch vermittelte Patientenkontakt eine angemessene Entsch&auml;digung f&uuml;r das pers&ouml;nliche Vertrauensverh&auml;ltnis zwischen Arzt und Patient sein kann, das er vielfach ersetzen soll. Ob die Entscheidungsfindung mittels anonymisierter Gesundheitsdaten die Wahl der richtigen Therapie nicht gerade der Verantwortung eines selbstkritisch aufgekl&auml;rten Berufsstandes entzieht und in die H&auml;nde einer &ouml;konomisch kalkulierenden Gesundheitsb&uuml;rokratie legt. Und ob eine Kritik an den Idealen der Aufkl&auml;rung, selbst wenn sie als Selbstkritik formuliert ist, sich nicht gelegentlich Naivit&auml;t oder gar Zynismus vorwerfen lassen muss, wenn sie die Verhei&szlig;ungen der Technik als das zentrale L&ouml;sungsangebot f&uuml;r dringliche gesellschaftliche Probleme zu verkaufen versucht.</p></p>
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