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Mit Tiefenhirnstimulation zunehmen
Leading Opinions
Autor:
Dr. med. Felicitas Witte
30
Min. Lesezeit
31.08.2017
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<p class="article-intro">In einer Studie aus Toronto nahmen Frauen mit Anorexie mithilfe von tiefer Hirnstimulation zu und hatten weniger Angstgefühle. Noch ist es aber zu früh, dies als Standardtherapie zu empfehlen, denn die Studie hat einige Schwächen. Wir sprachen mit zwei Anorexiespezialisten darüber, ob die invasive Therapie eine Zukunft hat.</p>
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<p class="article-content"><p>Anorexia nervosa ist eine der am schwierigsten zu behandelnden Krankheiten. Sofern die Betroffenen überhaupt einsehen, dass sie eine Krankheit haben, bekommen viele trotz Psychotherapie einen Rückfall, und die Krankheit ist mit einer hohen Mortalität verbunden. «Zwar kann man eine leichte Anorexie mit viel Einsatz und Motivation erfolgreich behandeln und die Betroffenen essen wieder halbwegs normal», sagt Prof. Dr. med. Gregor Hasler, Chefarzt an der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD) Bern, «aber einige schaffen es trotzdem nicht. Das ist total frustrierend für sie selbst, aber auch für uns Ärzte und die Angehörigen.» Magersüchtige leiden zudem oft zusätzlich an Ängsten oder Depressionen, was die Behandlung nochmals erschwert.<br /> Ärzte von der Universität Toronto probierten jetzt tiefe Hirnstimulation (DBS).<sup>1</sup> Stimuliert wurde dabei der subgenuale cinguläre Gyrus, der vorderste Abschnitt des Gyrus cinguli und sein einziger Abschnitt, der sich unterhalb des Corpus callosum befindet («subcallosal cingulate»). Er gehört zum limbischen System, das Emotionen verarbeitet.<br /> Zwischen September 2011 und Januar 2014 wurden bei 16 Frauen in einer stereotaktischen Operation beidseitig Sonden in den «subcallosal cingulate» vorgeschoben und mit einem Steuergerät verbunden, das Impulse von zunächst 2,5V, später bis zu 6V in einer Frequenz von 130 aussendet. Die Teilnehmerinnen im Alter von 21 bis 57 Jahren hatten einen Body-Mass-Index (BMI) von im Schnitt 13,83kg/m<sup>2</sup>, also extremes Untergewicht (Tab. 1). Sie litten zwischen 9 und 29 Jahren an Magersucht und hatten schon mehrfache erfolglose Behandlungen und Spitalaufenthalte hinter sich. Zunächst besserten sich Depressionen und Angstgefühle, dann nahmen die Frauen zu. Nach einem Jahr betrug der BMI im Schnitt 17,34kg/m<sup>2</sup> – ab 18,5 spricht man von Normalgewicht. Der BMI hatte über den Studienzeitraum zugenommen, gleichzeitig besserten sich die Beschwerden der Patientinnen (Abb. 1). Studienautor Prof. Andres Lozano ist zufrieden: «Anorexie bleibt die psychiatrische Krankheit mit der höchsten Mortalitätsrate», sagt er. «Es müssen unbedingt sichere, effektive, evidenzbasierte Behandlungen entwickelt werden, die auf unserem wachsenden Verständnis der Kreisläufe im Hirn beruhen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1704_Weblinks_s28_1.jpg" alt="" width="1417" height="1604" /><br /> Die Implantation der Sonden, die bei der Behandlung anderer Erkrankungen wie Parkinson oder Depressionen angewendet wird, verlief weitgehend komplikationsfrei. Bei fünf Patientinnen hielten die postoperativen Schmerzen länger an als die üblichen drei bis vier Tage nach einer Operation. Bei einer Patientin kam es zu einer lokalen Infektion. Die Elektroden mussten entfernt werden, konnten später aber wieder implantiert werden. Zwei weitere Teilnehmerinnen baten darum, dass die Elektroden entfernt oder das Gerät abgeschaltet wird. Schwere Komplikationen wie intrakranielle Blutungen oder sogar Todesfälle sind nicht aufgetreten.<br /> «Die Nebenwirkungen sind nicht ohne», gibt Hasler zu bedenken. «Infektion, tagelange Schmerzen, zwei Frauen wollten die Sonden vorzeitig entfernen lassen und zwei erlitten Krampfanfälle – solche Risiken sind nur dann gerechtfertigt, wenn die Krankheit mit keinen anderen Mitteln behandelbar ist.» Die Werte der «Hamilton Depression Rating»-Skala sanken im Median von 19,40 auf 8,79 Punkte nach 12 Monaten, beim «Beck Anxiety Inventory»-Wert kam es zu einem Rückgang von 38,00 auf 27,14 Punkte. Der «Dysfunction in Emotional Regulation Scale»-Wert ging von 131,80 auf 104,36 Punkte zurück, auch dies bedeutete eine Verbesserung. Auf Positronenemissionstomografie-Aufnahmen des Hirns beobachteten die Forscher einen erhöhten Glukoseverbrauch im Übergang vom temporalen und parietalen Lappen und dem Gyrus fusiformis, die eher die soziale Wahrnehmung und das Verhalten steuern als die Nahrungsaufnahme (Abb. 2). «Dies spricht dafür, dass Anorexie eine komplizierte Krankheit ist, bei der nicht nur das Essen eine Rolle spielt», so Hasler.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1704_Weblinks_s28_2.jpg" alt="" width="1417" height="1372" /><br /> Man dürfe sich keine falschen Hoffnungen machen, warnt Prof. Dr. med. Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee, einer Fachklinik für Essstörungen. «Wir wissen nicht, ob die Gewichtszunahme wirklich auf die Tiefenhirnstimulation zurückzuführen ist», sagt er. So haben fünf Patientinnen trotz DBS nicht zugenommen. «Durch so eine international beachtete Studie bekamen die Probandinnen eine enorme Aufmerksamkeit», sagt Voderholzer. «Viele Studienteilnehmer profitieren schon allein dadurch, dass man sich in ganz besonderer Weise und sehr intensiv um sie kümmert.» Ausserdem sei nicht klar, ob die Therapie bei den Patientinnen wirklich ausgereizt worden sei, zum Beispiel, ob sie in Spezial­kliniken für Essstörungen behandelt wurden. «Ob DBS wirklich wirkt, kann man letztlich nur beweisen, indem man eine Gruppe von Patientinnen mit einer Placebo-DBS behandelt.»<br /> Doch bewährt sich die Technik, könne Tiefenhirnstimulation bei Anorexie in Zukunft eine gute Option sein, so Hasler: «Viele werfen schwer Magersüchtigen vor, sie würden sich zu wenig bemühen, das ist stigmatisierend. DBS könnte dazu beitragen, schwer Magersüchtige von diesem Stigma zu befreien.»</p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Lipsman N et al.: Lancet Psychiatry 2017; online 23. 2. 2017 <strong>2</strong> American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition DSM-5. Washington DC: American Psychiatric Publishing, 2013. 338-45</p>
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