
©
Getty Images/iStockphoto
Europäischer Kopfschmerz- und Migränetag: Experten fordern bessere Versorgung
Jatros
30
Min. Lesezeit
01.11.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Am 12. September begingen zahlreiche Organisationen in ganz Europa den Europäischen Kopfschmerzund Migränetag, um Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger auf diese besonders häufige und dennoch unterschätzte Gruppe von neurologischen Erkrankungen aufmerksam zu machen. Auch die Österreichische Gesellschaft für Neurologie und die Österreichische Kopfschmerzgesellschaft nutzten diesen Anlass, um über die Bedeutung von akkurater Diagnostik und effektiver Therapie aufzuklären und auf Defizite in der Versorgung Betroffener hinzuweisen.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Weit verbreitet, häufig unterschätzt</h2> <p>Daten der WHO zufolge sind Spannungskopfschmerz und Migräne die weltweit zweit- und dritthäufigsten Erkrankungen überhaupt. Die „Global Burden of Disease“-Studie<sup>1</sup> liefert wichtige Informationen zur Dimension des Problems. Neurologische Erkrankungen insgesamt sind etwa für ein Zehntel der von Menschen in Krankheit und mit Einschränkungen und Beschwerden verbrachten und verlorenen Lebensjahre (DALY) verantwortlich. „Innerhalb dieser Gruppe wiederum nehmen Kopfschmerzen und Migräne die Spitzenplätze ein – noch vor Demenzerkrankungen. Spannungskopfschmerz als häufigste Kopfschmerzform belastet 1,5 Milliarden Menschen, an wiederkehrenden Migräneattacken leiden rund 986 Millionen Menschen weltweit. 58,5 Millionen Menschen haben Schmerzmittel-bedingte Kopfschmerzen, häufig aufgrund lang andauernder Selbstmedikation“, sagt Prim. Univ.-Prof. Dr. Mag. Eugen Trinka, FRCP, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) und Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie an der Christian-Doppler-Universitätsklinik Salzburg.<br /><br /> Auch österreichische Daten zeigen, welches Problem chronische Kopfschmerzen darstellen:<sup>2</sup> So litten der Studie von Zebenholzer et al. zufolge etwa 56,4 % der befragten Patienten an episodischen Kopfschmerzattacken, 38,3 % an chronischen Beschwerden. Mit einem Anteil von 45,5 % stellten Migränepatienten die größte Gruppe von Betroffenen dar.</p> <h2>Versorgungsnetz mit Lücken</h2> <p>Als problematisch bezeichnet Prof. Trinka die Versorgungssituation in Österreich: „Was wir für diese große Zahl an Betroffenen brauchen, ist eine abgestufte und koordiniert funktionierende Versorgung der Kopfschmerz- und Migränepatienten, die von den Hausärzten als den zumeist ersten Ansprechpartnern der Betroffenen über niedergelassene Neurologen bis hin zu einer ausreichenden Zahl spezialisierter Zentren reicht – wovon derzeit in Österreich allerdings nicht die Rede sein kann.“ <br /><br />Auffällig sei auch das verbreitete Auseinanderklaffen zwischen Expertenempfehlungen und der Praxis. So hat eine Erhebung in acht österreichischen Kopfschmerzzentren3 gezeigt, dass viele Patienten vor der Überweisung in ein spezialisiertes Zentrum keine ausreichende Therapie erhalten haben. Triptane als spezifische Mittel zur Akuttherapie wurden nicht mehr als 6 % der Erwachsenen mit Migräne verordnet.</p> <h2>Durchbruch in der Migräneprophylaxe: Antikörper gegen Attacken</h2> <p>In den vergangenen Jahren wurden vier monoklonale Antikörper zur Behandlung der chronischen oder episodischen Migräne entwickelt und in klinischen Studien untersucht, und zwar Erenumab, Galcanezumab, Fremanezumab und Eptinezumab.<br /><br /> Drei wirken als Antagonisten gegen das Protein „calcitonin gene-related peptide“ (CGRP) und einer gegen dessen Rezeptor. CGRP ist ein wichtiger Botenstoff, bestehend aus 37 Aminosäuren, der an der Schmerzweiterleitung beteiligt ist und zu erhöhter Schmerzempfindlichkeit führt. Er kommt während einer Migräneattacke verstärkt in Blut und Speichel vor und spielt eine gut belegte Rolle für das Entstehen der Beschwerden. „Die Wirksamkeit und die Sicherheit der vier monoklonalen Antikörper wurden und werden in vielen Studien untersucht, an einigen davon war auch die Innsbrucker Universitätsklinik für Neurologie beteiligt“, so Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. Gregor Brössner, Präsident der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft (ÖKSG) und Leiter der Ambulanz für Kopf- und Gesichtsschmerzen an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck.<br /><br /> Die STRIVE-Studie<sup>4</sup> attestiert beispielsweise Erenumab eine klare Überlegenheit gegenüber Placebo. Untersucht wurden 955 Patienten, die vor Beginn der Antikörpertherapie durchschnittlich 8,3 Migränetage pro Monat aushalten mussten. Der unter die Haut injizierte Wirkstoff vermochte die Attacken zwar nicht gänzlich zu verhindern, er konnte ihre Zahl jedoch deutlich senken, und zwar um 3,2 pro Monat in der 70mg-Dosierung und um 3,7 pro Monat in der 140mg-Dosierung. Die Placebogruppe verzeichnete einen Rückgang von nur 1,8 Tagen pro Monat. Für den CGRP-Antikörper Fremanezumab liegen Daten aus einer Phase-III-Studie mit 1130 Patienten vor, die unter chronischer Migräne leiden.<sup>5</sup> Diese erhielten 675mg Fremanezumab subkutan vierteljährlich, monatlich oder ein Placebo. Die durchschnittliche Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage betrug bei quartalsweiser Gabe 4,3 Tage, bei monatlicher Gabe 4,6 Tage, bei Placebo 2,5 Tage. Der Wirkstoff Erenumab ist seit September 2018 auf dem österreichischen Markt erhältlich. Fremanezumab dürfte als nächste Substanz aus dieser Gruppe für Patienten verfügbar sein.</p> <h2>Weniger Nebenwirkungen als klassische Migränemedikation</h2> <p>Die CGRP-Antikörper weisen auch ein generell sehr günstiges Nebenwirkungsprofil auf, so Prof. Brössner: „Die neue Medikamentenklasse erspart Patienten jene Belastungen, die bei gängigen Prophylaxemitteln gegen episodische Migräne häufig auftreten, wie Gewichtszunahme, Stimmungsschwankungen, Schwindel, Schläfrigkeit, Erschöpfung, ja sogar geistige Beeinträchtigung. Das wird zukünftig auch im Patientengespräch von großer Bedeutung sein und sich vermutlich positiv auf die Therapietreue auswirken.“</p> <h2>Gefährliche Kopfschmerzen: wenn hinter Migräne ein Schlaganfall steckt</h2> <p>Anlässlich des Europäischen Kopfschmerz- und Migränetages sollte auch ein Bewusstsein für seltene Kopfschmerzformen geschaffen werden, die ein Hinweis für schwere Erkrankungen sein können. „Hellhörig sollte man werden, wenn Menschen plötzlich über massive Kopfschmerzen klagen, die bisher von diesem Problem weitgehend verschont waren, oder wenn sich bei Patienten die bekannten Kopfschmerzen hinsichtlich Charakter, Intensität oder Frequenz verändern. Auch wenn der klinische Verlauf der Beschwerden atypisch wird oder zusätzlich neurologische Auffälligkeiten auftreten, sollte dies nicht auf die leichte Schulter genommen werden“, so Prim. Priv.-Doz. Dr. Nenad Mitrovic, Leiter der Abteilung für Neurologie am Salzkammergut-Klinikum Vöcklabruck und Vorsitzender der AG für Schmerz in der ÖGN. „All das können Warnsignale für sehr gefährliche Erkrankungen sein, darunter Schlaganfall, Meningitis, strukturelle Gehirnläsionen, wie vaskuläre Malformationen, Glioblastome oder andere Tumoren, die sich hinter veränderten Kopfschmerzen und Migräne mit Aura verbergen können.“<br /><br /> Bei migräneähnlichen Attacken mit untypischem Verlauf ist zudem die Verwechslungsgefahr mit Schlaganfall möglich, denn die Symptome können ähnlich sein. Ein besonders plakatives Beispiel ist die familiäre hemiplegische Migräne, eine seltene, genetisch bedingte Form der Migräne, die mit motorischen Ausfällen und Bewusstseinsstörungen einhergeht und leicht als Schlaganfall interpretiert werden kann. Umgekehrt geht ein akuter Schlaganfall oft mit Kopfschmerzen einher und kann klinisch einer Migräne mit Aura ähneln.<br /><br /> „Insgesamt ist die Beziehung zwischen Kopfschmerz, Migräne und Schlaganfall sehr komplex“, so Prim. Mitrovic. „Sie können gleichzeitig ohne direkten Zusammenhang auftreten, es gibt aber auch zahlreiche Verbindungen zwischen diesen Krankheiten. Laut einer Metaanalyse ist bei Migränepatienten mit begleitender Aurasymptomatik von einem etwa zweifach erhöhten Risiko für ischämische Schlaganfälle auszugehen. Rauchen und die Einnahme der Pille erhöhen dieses Risiko nochmals deutlich.“<sup>6</sup> (red)</p></p>
<p class="article-quelle">Quelle: Presseaussendung der Österreichischen Gesellschaft für
Neurologie und der Österreichischen Kopfschmerzgesellschaft
</p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Global, regional, and national burden of neurological disorders during 1990-2015: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2015. Lancet Neurol 2017; 16(11): 877-97 <strong>2</strong> Zebenholzer K et al.: Prevalence, management and burden of episodic and chronic headaches – a crosssectional multicentre study in eight Austrian headache centres. J Headache Pain 2015; 16: 531 <strong>3</strong> Zebenholzer K et al.: Triptan use and overuse in Austria – a survey based on nationwide sickness healthcare claims data. 18th Congress of the International Headache Society, Vancouver 2017 <strong>4</strong> Goadsby PJ et al.: A controlled trial of erenumab for episodic migraine. N Engl J Med 2017; 377: 2123-32 <strong>5</strong> Silberstein SD et al.: Fremanezumab for the preventive treatment of chronic migraine. N Engl J Med 2017; 377: 2113-22 <strong>6</strong> Kurth T et al.: Migraine and stroke: a complex association with clinical implications. Lancet Neurol 2012; 11: 92-100</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Alzheimer: Was gibt es Neues in der Biomarker-Entwicklung?
Schätzungen zufolge leben in Österreich 115000 bis 130000 Menschen mit einer Form der Demenz. Eine Zahl, die sich bis zum Jahr 2050 verdoppeln wird.1 Antikörper-Wirkstoffe könnten in der ...
Kappa-FLC zur Prognoseabschätzung
Der Kappa-freie-Leichtketten-Index korreliert nicht nur mit der kurzfristigen Krankheitsaktivität bei Multipler Sklerose, sodass er auch als Marker zur Langzeitprognose der ...
Fachperson für neurophysiologische Diagnostik – Zukunftsperspektiven eines (noch) unterschätzten Berufes
Die Aufgaben der Fachperson für neurophysiologische Diagnostik (FND) haben sich in den letzten Jahren verändert. Dies geht zum einen mit den erweiterten Diagnostikmöglichkeiten und zum ...