
Andere Symptome als bei Erwachsenen – kindgerechte Therapie nötig
Leading Opinions
30
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09.03.2017
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<p class="article-intro">Auch Kinder und Jugendliche können an Depressionen erkranken – bis zu 6 % sind davon betroffen. Die Symptome sind oft anders als bei Erwachsenen, die Diagnose ist mitunter schwierig. Man muss daher altersspezifisch vorgehen und das Umfeld miteinbeziehen. Wir haben zwei Kinderpsychiater gefragt, wie man in der Praxis vorgeht und wie sich die Therapie von der von Erwachsenen unterscheidet.</p>
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<p class="article-content"><p>Jeder Psychiater sieht sie fast täglich: Patienten mit Depressionen. Die junge Mutter mit der postpartalen Depression, den 50-Jährigen nach Suizidversuch, die 42-Jährige mit regelmässigen depressiven Schüben. Aber Kinder? «Depressionen sind nicht nur im Erwachsenenalter eine ernste Krankheit, sondern auch bei Kindern», sagt Prof. Dr. med. Alain Di Gallo, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Uniklinik in Basel. «Lange Zeit wurde das viel zu wenig beachtet.» Die Angaben zur Prävalenz von schweren depressiven Episoden reichen bei Kindern von 1 bis 3 % , bei Jugendlichen von 1 bis 6 % .<sup>1</sup><br /><br /> Bis in die 1970er-Jahre wurden Depressionen im Kindes- und Jugendalter kaum diagnostiziert. Heute gelten dieselben Kriterien wie für Erwachsene. ICD-10 unterscheidet zwischen depressiven Episoden und dysthymen Störungen. Um die Kriterien für eine depressive Episode zu erfüllen, muss der Betroffene während mindestens zwei Wochen an bestimmten Symptomen leiden (Tab. 1). Die Dysthymie entspricht einer chronischen, jahrelang dauernden depressiven Verstimmung, bei der der Patient aber nicht die Kriterien einer rezidivierenden depressiven Störung erfüllt.<br /><br /> Rund die Hälfte der Kinder und Jugendlichen leidet gleichzeitig unter anderen psychiatrischen Problemen: Sie haben Angst- oder Zwangsstörungen, sind hyperaktiv oder nehmen Drogen. So wie der 15-jährige Sandro (Name von der Redaktion geändert), der fast täglich Marihuana konsumiert. «Er glaubt, damit würde er wieder mehr Sinn im Leben spüren», erzählt Di Gallo. Er wolle Schluss machen, hatte Sandro seinem Lehrer weinend erzählt, er sehe keinen Sinn mehr im Leben. Besorgt riet der Lehrer der Mutter, noch am selben Tag mit Sandro in die psychiatrische Universitätskinderklinik in Basel zu gehen. Di Gallo erinnert sich noch gut an den Teenager. «Sandro wirkte lustlos», sagt er. «Er hatte keine Ahnung, was er nach dem Schulabschluss machen sollte, und keine Kraft, sich darum zu kümmern. » Er sei am liebsten mit seinen Freunden zusammen, erzählte Sandro dem Arzt, aber in der letzten Zeit habe er das Gefühl, sie würden ihn nicht mehr mögen. Bereits zweimal hat er sich in seine Unterarme geschnitten.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s34_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="811" /></p> <h2>Keine Lust zu spielen</h2> <p>«Kinder und Jugendliche mit Depressionen haben einen hohen Leidensdruck», sagt Susanne Walitza, Direktorin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zürich. «Das kann sie enorm in ihrer normalen Entwicklung beeinträchtigen. » Bei der Diagnose müsse man jedoch genau schauen, ob das Kind wirklich depressiv sei oder aus irgendeinem anderen Grunde niedergeschlagen.<br /><br /> «Es ist völlig normal, dass Kinder traurig werden, wenn sich die Eltern trennen, oder dass Jugendliche einmal ‹schlecht drauf› sind – gerade in der Pubertät», sagt sie. «Bei bestimmten Zeichen sollte man aber hellhörig werden.» Etwa wenn ein Kind plötzlich grundlos über längere Zeit traurig wirkt, in der Schule nachlässt oder ständig gereizt reagiert.<br /><br /> Die Neigung zur Depression kann vererbt werden. Zum Ausbruch kommt sie aber in der Regel durch ein Wechselspiel mit zusätzlichen Faktoren, etwa wenn das Kind durch eine Situation überfordert ist, sich die Eltern trennen, das Kind misshandelt, ständig überfordert oder gemobbt wird. Während sich bei Jugendlichen die Depression eher mit ähnlichen Zeichen äussert wie bei Erwachsenen, versteckt sie sich bei kleineren Kindern oft hinter anderen Beschwerden (Tab. 2). «Die Kleinen haben keine Lust mehr zu spielen, klagen über Bauchweh oder wollen nicht allein sein», sagt Di Gallo. So wie bei der 4-jährigen Tina (Name von der Redaktion geändert): Spielsachen interessieren Tina nicht, sie sitzt oft still auf einem Stuhl, lutscht am Daumen und hängt manchmal wie eine Klette an den Betreuern in der Spielgruppe.<br /><br /> Bereits bei Säuglingen und Kleinkindern kann es bei einschneidenden Verlusterlebnissen, vor allem bei einer längeren Trennung von den Eltern ohne entsprechenden Ersatz durch eine vertraute Bezugsperson, zu einer sogenannten anaklitischen Depression kommen. «Fehlt die emotionale und körperliche Zuwendung, ziehen sich diese Kinder nach anfänglichem Protest und anhaltendem Weinen immer mehr von ihrer Umwelt zurück», sagt Di Gallo. Das geht meist mit Schlafstörungen und schliesslich apathischem Verhalten einher. «Stellt man die Beziehung zu einer Bezugsperson rechtzeitig wieder her, erholen sich die Kinder meist wieder vollständig. Bleibt aber die Trennungssituation bestehen und fehlt die emotionale Unterstützung, dann drohen bleibende schwere Entwicklungsund Beziehungsstörungen.»</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Neuro_1701_Weblinks_s34_tab2_korr.jpg" alt="" width="1417" height="1683" /></p> <h2>Kindgerecht fragen</h2> <p>Manchmal sei die Diagnose nicht einfach, gibt Di Gallo zu. «Insbesondere kleinen Kindern fällt es natürlich schwer, mit Worten zu beschreiben, wie sie sich fühlen. » Oder sie schämen sich gar für ihr Verhalten. Projektive Testmethoden wie Zeichnungen oder Geschichtenergänzungsverfahren seien in der Diagnostik deshalb unerlässlich. «Bei kleinen Kindern lässt sich viel am Spielverhalten erkennen», sagt Di Gallo. «Hat das Kind keine Lust zu spielen, ist es schnell entmutigt oder zeigt es dysphorische Abwehrreaktionen? Mäkelt es ständig am Essen herum, hat keinen oder einen gesteigerten Appetit, schläft es nicht mehr gut durch, wacht früh auf oder hat Alpträume, können das ebenfalls zusätzliche Hinweise sein.» Bei älteren Kindern beurteilen die Kinderpsychiater das Leistungsverhalten, eventuell zusätzlich mittels testpsychologischer Verfahren. Mit einer sorgfältigen körperlich-neurologischen Untersuchung schliesst man organische Ursachen aus. «Wichtig ist auch, das Umfeld des Kindes miteinzubeziehen», sagt Di Gallo. Bezugspersonen können beispielsweise Angaben machen zu einer möglichen hereditären Belastung, zu psychosozialen Einflussfaktoren wie Migration, Armut, chronischen Krankheiten der Eltern oder Interaktions- und Beziehungsstörungen in der Familie wie frühkindlicher Deprivation, inkonsistenter oder abwertender Erziehung, Schuldzuweisungen, häufig wechselnde Bezugspersonen oder Trennungstraumata. Kindergärtner und Lehrer können erzählen, ob das Kind in der Schule nachgelassen hat, sich mehr von Gruppenaktivitäten zurückzieht oder von Gleichaltrigen gemobbt wird.<br /><br /> Nach der Diagnose seien Kind und Eltern oft erleichtert, erzählt Walitza. «Die quälenden Beschwerden haben jetzt einen Namen, und das Kind hat nicht mehr das Gefühl, es müsse sich einfach nur zusammenreissen, damit es ihm besser geht.» Eltern fragen die Psychiaterin oft, ob sie etwas falsch gemacht hätten. «Ich versuche, ihnen die Schuldgefühle zu nehmen, und erkläre ihnen, dass sie eine besonders wichtige Rolle bei der Therapie spielen.»</p> <h2>Familie in die Therapie einbeziehen</h2> <p>Leichte und mittelschwere Depressionen werden mit Psychotherapie behandelt. Hier lernt das Kind, welche Auslöser zur Depression beigetragen haben, wie es selbstbewusster werden kann und was für Aktivitäten ihm wieder Freude machen könnten. «Wir Therapeuten müssen ein altersspezifisches Gesprächsklima schaffen, mit dem das Kind aus seinem inneren Rückzug herausfindet und uns gegenüber positiv eingestellt ist», sagt Di Gallo. Eltern fühlen sich durch das Verhalten ihres Kindes überlastet, wissen nicht mehr, wie sie mit ihm umgehen sollen, und sind wütend, wenn es abweisend reagiert. Das wiederum gibt dem Kind das Gefühl, nicht geliebt und nicht erwünscht zu sein – was das Selbstwertgefühl noch mehr verringert. In einer Familientherapie können Eltern, Geschwister und das betroffene Kind lernen, dass das Kind nicht aus Bösartigkeit so reagiert, sondern weil es eine Depression hat. Das zu erkennen, hilft Eltern und Geschwistern oft schon sehr dabei, dem Kind wieder mit mehr Respekt und Verständnis zu begegnen. Antidepressiva setzen die Kinderpsychiater in schweren Fällen ein, meist nur bei Jugendlichen, denn die Medikamente haben nicht unerhebliche Nebenwirkungen.<br /><br /> «Obwohl wir aufmerksamer geworden sind und offener über Depressionen sprechen, haftet psychischen Krankheiten immer noch ein grosses Tabu an», sagt Di Gallo. «Sie wecken Unsicherheit und Ängste in uns, die wir lieber an den Rand schieben.»<br /> Je eher man behandelt und Eltern und Kinder aufklärt, wie sich das Kind vor einem erneuten Schub schützen kann, desto seltener kommt es dazu. Tina hatte nach der Therapie wieder Lust zu spielen und Sandro bestand kürzlich die Aufnahmeprüfung für eine Kunstschule.</p></p>
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<p><strong>1</strong> Di Gallo A, Weber M: Schweiz Med Forum 2005; 5: 925-30</p>
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