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„Am Anfang war es furchtbar hart“
DAM
30
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23.11.2017
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<p class="article-intro">Frau Lina Radan kam 1999 nach Österreich, um 24-Stunden-Pflege zu leisten. Im Gespräch erzählen sie und ihre Tochter Snejana von entbehrungsreichen Zeiten, großen Erwartungen und neuen Perspektiven.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p><strong>Als Sie 1999 als Betreuerin einer 89-jährigen Dame nach Trausdorf kamen, waren Sie die erste Pflegerin aus Osteuropa in dem burgenlandkroatischen Ort. Wie kam es dazu?<br /> L. Radan:</strong> Meine Tante war und ist in Österreich verheiratet. Sie wusste um mein belastendes Leben in Rumänien und verschaffte mir diese Stelle.<br /><br /> <strong>Sie mussten Ihre Tochter zurücklassen. Ich darf annehmen, das war keine leichte Entscheidung.<br /> L. Radan:</strong> Ja, es war furchtbar hart. Aber mir blieb die Hoffnung, meine Probleme aus eigener Kraft lösen zu können. Ich gehöre einer kroatisch sprechenden Minderheit in Rumänien an, es war üblich, nicht aus Liebe, sondern aus gesellschaftlich-familiärem Zwang zu heiraten. Diese lieblosen Paarbeziehungen und das Gefangensein in Perspektiven- und Hoffnungslosigkeit sind auch heute noch ein starkes Motiv für rumänische Frauen, ins Ausland arbeiten zu gehen. Viele tun das natürlich in dem Bestreben, ihren Kindern bessere Lebensumstände zu bieten.<br /><br /> <strong>Haben sich diese Erwartungen bei Ihnen erfüllt?<br /> L. Radan:</strong> Ich bin so stolz auf meine Tochter! Wir haben beide viel geweint, ein Meer von Tränen vergossen, doch jetzt haben wir unser Ziel erreicht.<br /> <strong>Snejana:</strong> Ich war zehn Jahre alt, als meine Mutter nach Österreich ging. Mein Vater hat gearbeitet und war oft auch über Nacht nicht zu Hause. Deshalb hat sich eine Nachbarin um mich gekümmert.<br /> <strong>L. Radan:</strong> Anna ist mit einem Bild von Papa und Mama in der Hand ins Bett gegangen.<br /><br /> <strong>Warum nennen Sie Ihre Tochter „Anna“?<br /> Snejana:</strong> In Österreich bin ich Anna, für alle – Snejana ist zu kompliziert.<br /> <strong>L. Radan:</strong> Ich war 700 Kilometer von Anna entfernt, ein Zweiwochenrhythmus Betreuungsarbeit/Heimaturlaub war unmöglich. Ich war die ersten Jahre höchstens einen Monat pro Jahr zu Hause. Damals gab es auch noch keine Smartphones.<br /><br /> <strong>Wie ging es Ihnen mit der Sprachbarriere?<br /> L. Radan: </strong>Zunächst musste ich mein Kroatisch dem Burgenlandkroatisch anpassen, was gar nicht so einfach war. Mittlerweile spreche ich Burgenlandkroatisch besser als meine Muttersprache. Meine erste Klientin habe ich fünf Jahre betreut, ihre ganze Familie hat mir sehr geholfen. Die alte Dame war in ihrer Mobilität behindert, geistig jedoch aufmerksam und rege. Sie war eine gute und engagierte Deutschlehrerin. Als sie mit 95 Jahren verstarb, konnte ich mich sicher und uneingeschränkt auf Deutsch verständigen. Auch wurde meine Arbeit geschätzt. Nicht nur in ihrer Familie, sondern mit der Zeit im ganzen Dorf. In meinem vierten Jahr in Österreich vermittelte ich bereits meine Schwester an eine Familie, die ebenfalls Betreuungsbedarf hatte.<br /><br /><strong> War dies also der Beginn Ihrer jetzigen Tätigkeit, der Vermittlung von Betreuungspersonen?<br /> L. Radan:</strong> Ja, das ging aber erst 2006 so richtig los, als das Beschäftigungsverhältnis von 24-Stunden-Pflegepersonal gesetzlich geregelt wurde. Eine Bekannte aus meiner Zeit in Trausdorf war in der Landesregierung beschäftigt. Sie war geübt im Umgang mit Ämtern und half mir sehr viel. Dank der zwei lediglich körperlich eingeschränkten Frauen, die ich betreute, lernte ich mit der Zeit auch ganz gut, auf Deutsch schreiben. Ich begann meine Schwestern, Cousinen und gute Bekannte zu vermitteln, immer nur Personen, die ich persönlich kenne.<br /><br /><strong> Wie viele Frauen haben Sie derzeit unter Vertrag?<br /> L. Radan:</strong> Um die Hundert, in Wien, Niederösterreich, im Burgenland und in der Steiermark.<br /><br /> <strong>Wie sind deren Arbeitsbedingungen? Und wie viel müssen sie für die Vermittlung bezahlen?<br /> L. Radan:</strong> Der Verdienst richtet sich nach dem Aufwand der Betreuung. Ist etwa ein Ehepaar zu betreuen, ist auch der Verdienst höher. Dieser liegt etwa bei 1400 bis 1800 Euro pro Monat.<br /> <strong>Snejana:</strong> Der Durchschnittslohn in Rumänien ist 400 bis 500 Euro, auch bei guter Ausbildung.<br /> <strong>L. Radan:</strong> Ich, also die Agentur, bekomme 3,33 Euro pro Tag, also genau 100 Euro pro Monat. Das ist die Pauschale für Vermittlung und Betreuung an der Arbeitsstelle – Einführen in die Familie, Erledigung der gesetzeskonformen Amtswege, Vermittlung zwischen Familie und Pflegerin; wenn nötig, Organisation der An- und Abreise. Von der Familie der zu betreuenden Person bekomme ich nichts. Meine Frauen bleiben alle länger, mehrere Monate, bevor sie wieder für bis zu zwei Monate nach Hause fahren. Ich kenne jede Stelle, weiß, wie gut die Sprachkenntnisse sein müssen, wie groß die Belastbarkeit. Ich wähle gewissenhaft aus, schließlich muss ich selbst die auftretenden Probleme lösen.<br /><br /> <strong>Sind Sie oft mit Problemen konfrontiert?<br /> L. Radan:</strong> Am meisten belastet es mich, wenn ich auf ausländerfeindliche Vorurteile stoße.<br /><br /> <strong>Kommt es oft vor, dass Sie auf Vorurteile stoßen?<br /> L. Radan:</strong> Leider, viel zu oft. Bis die Betreuerin und die zu pflegende Person sowie ihre Familie einander kennen und sich eine Alltagsroutine eingestellt hat, ist mein Engagement recht gefragt. Wenn dann diese Stelle mit zwei oder drei einander abwechselnden Frauen besetzt ist, funktioniert die Betreuung meistens reibungslos.<br /><br /><strong> Erinnern Sie sich auch an das eine oder andere außergewöhnliche Vorkommnis?<br /> L. Radan:</strong> Da gibt es genug: von respektloser Behandlung bis hin zu sexueller Belästigung durch aufblühende Betreute oder zudringliche Angehörige. Das kann in seltenen Fällen bis zur Auflösung des Betreuungsvertrages führen. Das bisher Schlimmste war der Schlaganfall einer Pflegerin. Nach mehr als zwei Tagen wurden die betreute Person und die Pflegerin in einem furchtbaren Zustand angetroffen. Es ging alles gut aus, hat mich aber sehr gefordert.<br /><br /> <strong>Um über Ihre große Freude zu sprechen: Vor fünf Jahren kam Ihre Tochter zu Ihnen nach Österreich. Wie geht es Ihnen beiden seitdem?<br /> Lina und Snejana:</strong> Es ist wunderbar.<br /> <strong>Snejana:</strong> Ich habe es natürlich um vieles leichter, als es meine Mutter hatte, aber es ist auch für mich ein Neuanfang. Ich habe in Rumänien ein Masterstudium in Ökonomie abgeschlossen, spreche fünf Sprachen, habe mehr als hundert Bewerbungen geschrieben, jedoch keine Arbeit gefunden. Das habe ich mir leichter vorgestellt.<br /><br /><strong> Hätten Sie in Rumänien Arbeit gefunden?<br /> Snejana:</strong> Das habe ich erst gar nicht probiert, ich hatte in all den schweren Jahren Österreich als Ziel.<br /><br /> <strong>Hat sich nun das Ziel als Neustart entpuppt?<br /> Snejana:</strong> Sozusagen. Ich habe jede Arbeit angenommen – Putzen, stundenweise Personenbetreuung – und habe im WIFI die Ausbildung zur Pflegehelferin gemacht.<br /> Ich arbeite jetzt 20 Stunden in der Hauskrankenpflege bei der Volkshilfe. Dort habe ich auch die Möglichkeit, berufsbegleitend das Krankenpflegediplom zu machen. Eine Chance, die ich nützen werde.<br /> <strong>L. Radan:</strong> Alte Menschen betreuen ist eine sehr schöne Tätigkeit, ich selbst hatte immer fünf Klienten, auch jetzt noch. Eine geregelte Arbeitszeit mit Raum für Freizeit, Urlaub etc. – das ist ganz wichtig. Das wünsche ich mir für Anna.<br /><br /> <strong>Snejana, Sie sind mit Ihrem Gatten nach Österreich gekommen, stimmt das?<br /> Snejana:</strong> Ja, das hat mir alles leichter gemacht. Ich habe ihn gern, er hat Arbeit und ich bin sehr froh und zuversichtlich, was unsere Zukunft betrifft.<br /><br /> <strong>Gibt es auch in Rumänien ausländische Pflegekräfte?<br /> L. Radan:</strong> Rumänien ist ein armes Land. Nur wenige können sich eine Pflegekraft, zum Beispiel aus der Ukraine, leisten. Das ist wenigen Wohlhabenden vorbehalten. Auch hier wird das unterschiedliche Lohnniveau ausgenützt.<br /><br /> <strong>Sind Sie eigentlich schon österreichische Staatsbürgerin?<br /> L. Radan:</strong> Ja, seit 2014. Ich fühle mich hier wirklich zu Hause, und seit Anna bei mir ist, gibt es überhaupt kein Heimweh mehr.<br /><br /> <strong>Sie haben Ihre Chancen erkannt und genützt. Ich kann Sie nur bewundern und mich mit Ihnen freuen. Danke für das Gespräch!</strong></p></p>
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