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Adhärenz-Sprechstunde bei Patienten mit einer HIV-Therapie
Jatros
Autor:
Leonie Meemken
Klinische Pharmazeutin und Interaktionsexpertin<br> E-Mail: info@meettheexperts.at
30
Min. Lesezeit
05.04.2018
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<p class="article-intro">Die HIV-Therapie hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Durch die Single-Tablet-Regime reduzierten sich Einnahmefrequenzen und Tablettenzahlen. Die Interaktionsprofile der Integrasehemmer fordern eine andere Art von Beratung durch den Apotheker.</p>
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<p class="article-content"><h2>Evaluation von Adhärenz und Komedikation</h2> <p>Eigentlich ist das Leben mit einer HIVInfektion sehr viel einfacher geworden. Um den Beratungsbedarf der Patienten mit einer HIV-Infektion zu evaluieren, wurden am Kaiser-Franz-Josef-Spital und am AKH Wien im Rahmen der Adhärenz- Sprechstunde, die von einer HIV-spezialisierten Apothekerin durchgeführt wird, im Zeitraum von Juli bis Dezember 2017 85 Beratungsgespräche analysiert. 64 Patienten (13 Frauen und 51 Männer) füllten einen Fragebogen zur aktuellen Medikation, zu Begleitmedikamenten, Nahrungsergänzungsmitteln und zum Einsatz von Drogen aus. Tivicay<sup>®</sup>, Descovy<sup>®</sup>, gefolgt von Triumeq<sup>®</sup> und Odefsey<sup>®</sup>, zählten zu den meistverschriebenen Therapieregimen. In der Komedikation standen mit 23 verschiedenen Medikamentenklassen Antidepressiva, Analgetika und Antihypertensiva an der Spitze der Verschreibungen (Tab. 1). Bei den neun verschiedenen Nahrungsergänzungsmittelgruppen, die 30 der befragten Patienten angaben, ging es vor allem um Vitamine, Protein-Shakes und Mineralien (Tab. 2). Ein Interaktionscheck wurde bei allen Patienten durchgeführt. Drei klinisch relevante Interaktionen wurden mit Triazolam, Quetiapin und Fluticason in Kombination mit einer geboosteten HIV-Therapie beschrieben. Im Gegensatz zu den verschreibungspflichtigen Medikamenten traten bei Nahrungsergänzungsmitteln Interaktionen mit Integrasehemmern auf, die klinische Auswirkungen hatten. In vier Fällen wurde der Anstieg der Viruslast durch die Einnahme von Mineralien in Kombination mit Integrasehemmern + 2 NRTI bzw. Rilpivirin + 2 NRTI mit einem Protein-Shake assoziiert. Einer dieser Fälle wird im Folgenden beschrieben.<br /><br /><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Infekt_1801_Weblinks_s22_tab1.jpg" alt="" width="1419" height="1346" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Infekt_1801_Weblinks_s22_tab2.jpg" alt="" width="1419" height="618" /></p> <h2>Kasuistik 1: Bodybuilder erreicht keine ausreichende Virussuppression</h2> <p>Bei einem 37-jährigen Kenianer schwankte die Viruslast um die 200 Kopien/ml. Die Viruslast ließ sich nicht unter die Nachweisgrenze bringen. Der Bodybuilder wiegt 120kg und nimmt morgens TAF/FTC/Rilpivirin mit einem hoch dosierten Proteinpräparat ein. Auf Mineralien verzichtet er, weil er gehört hat, dass es damit zu Interaktionen mit der HIV-Therapie kommen kann. Da es sich hier aber um keinen Integrasehemmer handelt, ist diese Angst unbegründet. Weiter ist für ihn die tägliche Einnahme von Vitamin C und Vitamin D wichtig. Was könnte die Ursache für die erhöhte Viruslast sein?<br /> In der Literatur gibt es eine Studie, in der die Rilpivirin-Spiegel bei gleichzeitiger Einnahme von Rilpivirin mit einem proteinreichen Drink gemessen wurden. Zu unserem Erstaunen sanken die Rilpivirin- Spiegel unter einer Proteineinnahme um 50 % . Ein fetthaltiges Frühstück hingegen verbessert die Arzneistoffauflösung und verlangsamt die Magenentleerung.</p> <h2>Interaktion von Integrasehemmern und Mineralien</h2> <p>Bei den Nahrungsergänzungsmitteln spielen weiter die Interaktionen zwischen Integrasehemmern und Mineralien eine Rolle. Mineralien kommen in der Sportlerernährung oder in Multivitaminpräparaten vor. Einzelne Mineralien, wie z.B. Magnesium, werden bei Muskelschmerzen oder Herzbeschwerden bzw. hoch dosiertes Kalzium bei Allergien oder Osteoporose eingesetzt.</p> <h2>Kasuistik 2: Anstieg der Viruslast unter Magnesium-Supplementation</h2> <p>Ein 46-jähriger deutscher Patient entwickelte unter einer Therapie mit Epivir<sup>®</sup>, Tivicay<sup>®</sup>, Prezista<sup>®</sup> und Norvir<sup>®</sup> erhöhte Cholesterinwerte. Diese wurden mit Atorvastatin 40mg therapiert. Die dabei aufgetretenen Muskelschmerzen sollen mit Magnesium-Tabletten aus der Apotheke gelindert werden. Die Viruslast stieg auf 700 Kopien/ml an.<br /> Die Fachinformation besagt, dass die Atorvastatin-Dosis unter Ritonavir maximal 10mg betragen soll. Weiter ist anzumerken, dass alle Integrasehemmer mit Kationen wie Magnesium Komplexe bilden und im Magen-Darm-Trakt ausfallen können. Verringerte Dolutegravir-Spiegel werden mit einer erhöhten Viruslast assoziiert. Die Statin-assoziierten Muskelschmerzen wurden mit einer Dosisreduktion des Atorvastatins und mit Vitamin D behandelt und die Therapie weitergeführt.</p> <h2>Häufigste Themen der Beratungsgespräche</h2> <p>Neben dem Interaktionscheck als einem der Module in der Adhärenz-Sprechstunde werden weitere Gesprächsthemen wie „Generelle Informationen zu Beginn der HIV-Therapie“, „Adhärenzprobleme“, „Einstellung zur Therapie bzw. zum Leben mit HIV“, „Schwangerschaft“ und „ChemSex“ erstellt und angeboten.<br /> 41 % der Beratungsgespräche behandelten das Thema „Polymedikation bzw. Interaktion“, gefolgt von den Themen „Einstellung“ (25 % ), „Drogen – ChemSex“ (19 % ), „Generelle Information zu HIV“ (8 % ), „Schwangerschaft, Adoption“ (2 % ) und „Adhärenz“ (2 % ) (Tab. 3).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Jatros_Infekt_1801_Weblinks_s22_tab3.jpg" alt="" width="1419" height="424" /></p> <h2>Drogenkonsum</h2> <p>19 % der Patienten konsumierten Drogen (8 GBL/GHB, 8 Mephedron, 4 Kokain, 4 Ecstasy, 2 Crystal Methamphetamin, 1 Morphin, 1 Ketamin). Diese Patienten, die offen dafür waren, in die Sprechstunde zu kommen, hatten alle die Bereitschaft, etwas in ihrem Leben zu verändern bzw. den Substanzkonsum zu reduzieren, das intravenöse Spritzen von Drogen (sog. „Slammen“) aufzugeben bzw. den Substanzkonsum ganz zu stoppen. Diesen Patienten wurde nahegelegt, das ChemSex-Beratungstool, das David Stuart für diese Patienten entwickelt hat, zu nutzen. Es steht Patienten kostenlos auf der Webseite www.patinka.at deutschsprachig zur Verfügung.<br /> Mithilfe des Tools legt der Patient fest, wie lange er pausieren möchte. Er stellt sich seinen Triggern, die letztendlich den Substanzgebrauch auslösen, und arbeitet Strategien aus, um zu lernen, mit diesen Triggern besser umzugehen. Bei dem Wunsch nach Abstinenz sind auch Symptome einer Koabhängigkeit zu berücksichtigen. Hier gibt es entsprechende Beratungsangebote, die auf www.patinka.at bzw. bei den entsprechenden Patinka-Beratern eingeholt werden können.<br /> Durch den bewertungsfreien Raum, der in dieser Sprechstunde entsteht und im täglichen Alltag meist nicht zu finden ist, stellen diese Patienten oft fest, welche außergewöhnlichen hochsensiblen Fähigkeiten sie besitzen. Sie fühlen sich minderwertig und wollen sich gesellschaftlich anpassen. Um diese Fähigkeiten, verschüttete Ideen und Visionen wieder zu entwickeln und zu stärken, ist angedacht, eine geschlossene Facebook-Gruppe mit dem Namen „Traummännerfabrik“ zu erstellen. Sie soll diesen Menschen einen geschützten Raum für sich selbst und für ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten geben.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> Zusammenfassend ist zu sagen, dass die pharmazeutische Tätigkeit in der Sprechstunde im Fokus steht. Neben dem Interaktionscheck, der sich zurzeit auf die Kombinierbarkeit von antiretroviralen Substanzen mit Nahrungsergänzungsmitteln verschiebt, wird außerdem die Nierengängigkeit/ Dialysierbarkeit von Substanzen geprüft und die Genetik in besonderen Fällen hinterfragt. Grundlage eines jeden Gespräches ist, die Patienten dabei zu unterstützen, ihr Leben wieder so zu gestalten, wie sie es sich vor der Infektion gewünscht haben. Sobald die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt (U=U, steht für „undetectable is untransmissible“), sollen Visionen und Lebenskonzepte wieder angegangen werden. Dazu gehören u.a. Schwangerschaft, Adoption, Fernreisen, Hochleistungssport und Sex. Entscheidend für eine erfolgreiche Therapie ist eine positive Lebenseinstellung. Die ChemSex-Beratung ist noch weiter auszubauen.</div></p>