© Getty Images

Hodentumoren und Subfertilität

Starke Auswirkungen des Lebensstils

<p class="article-intro">Die Frage, inwieweit sich unser Lebensstil auf Körper und Gesundheit auswirkt, ist eines der zentralen Themen in fast allen Bereichen der Medizin – sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der Laienpresse. Gerade im Bereich der männlichen Sub- und Infertilität wird der Einfluss von Lebensstilfaktoren seit Jahrzehnten untersucht und von Betroffenen in der andrologischen Sprechstunde wird danach gefragt.</p> <p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Bereits der Lebensstil der Mutter beeinflusst die Hodenentwicklung m&auml;nnlicher Embryos.</li> <li>Hodentumoren und In- bzw. Subfertilit&auml;t sind enger miteinander verbunden als bisher angenommen.</li> <li>&Uuml;bergewicht, Rauchen und Umweltgifte geh&ouml;ren zu den ausl&ouml;senden Faktoren.</li> <li>Eine dauerhaft gering erh&ouml;hte Temperatur des Skrotums, etwa bei sitzender T&auml;tigkeit am Arbeitsplatz, hat deutlich negative Folgen.</li> </ul> </div> <p>S&auml;mtliche Gewebe und Organe des menschlichen K&ouml;rpers unterliegen einer st&auml;ndigen Regeneration mit der t&auml;glichen Bildung neuer Zellen. Im gesunden Hoden sind dies rund 100 Millionen Spermatozoen pro Tag. Damit wird klar, dass externe Einfl&uuml;sse wie der Lebensstil gravierende Folgen haben k&ouml;nnen.<br /> Bei Keimzelltumoren des Hodens sind Einfl&uuml;sse des Lebensstils auf die Genese weit seltener diskutiert. Erste Hinweise auf die Auswirkung externer Faktoren auf die Entstehung dieser h&auml;ufigsten malignen Erkrankung des jungen Mannes ergaben sich aus longitudinalen Populationsstudien. Allein im Zeitraum 1950 bis 1980 ist die Inzidenz von Hodentumorerkrankungen in einigen L&auml;ndern um den Faktor 10 angestiegen. Derartige rasante und &ndash; im Vergleich zur Evolution des Menschen &ndash; kurzfristige Anstiege sprechen eindeutig gegen rein genetische Ursachen. Sie k&ouml;nnen nur Folge externer Faktoren sein, was in Migrationsstudien weiter erh&auml;rtet werden konnte.</p> <h2>Testicular Dysgenesis Syndrome</h2> <p>Analog haben sich Spermiendichte und -morphologie in den letzten Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Tats&auml;chlich stehen Fertilit&auml;t und Hodentumorerkrankung enger in Zusammenhang als h&auml;ufig vermutet. Skakkeb&aelig;k beschrieb 2001 erstmals das Testicular Dysgenesis Syndrome (TDS) und den Einfluss von Umweltfaktoren auf diese &bdquo;Entwicklungsst&ouml;rung&ldquo; des Hodens (Abb. 1). Das TDS beinhaltet St&ouml;rungen der Sertoli- und Leydigzellfunktion mit geh&auml;uftem Auftreten von Sub- und Infertilit&auml;t, Hodentumor, Hypospadie und/oder Kryptorchismus. Externe Einfl&uuml;sse sowohl w&auml;hrend der Embryonalentwicklung als auch post partum scheinen f&uuml;r die Entwicklung des TDS ma&szlig;geblich zu sein.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s16_abb1.jpg" alt="" width="1419" height="735" /><br /><br /><strong>Zeitpunkt der Einwirkung externer Faktoren</strong><br /> Gerade w&auml;hrend der sp&auml;ten fetalen Entwicklung sowie in den ersten Monaten post partum scheinen externe Faktoren f&uuml;r die Entwicklung des TDS verantwortlich zu sein. Gegen Ende der fetalen Entwicklung wird die Zahl der Sertolizellen durch Proliferation im Hoden determiniert. Die zu dieser Zeit definierte Zahl der Sertolizellen bestimmt sp&auml;ter das Ausma&szlig; der Spermatogenese (ab Pubert&auml;t) und beeinflusst dar&uuml;ber hinaus die Funktion der Leydigzellen. Zahlreiche, dem Lebensstil zuzurechnende Toxine wirken &uuml;ber die Mutter auf Fetus und Neugeborenen. Gerade hormonell aktive Substanzen akkumulieren im Fettgewebe und werden so auch &uuml;ber die Muttermilch weitergegeben.</p> <h2>Lebensstil im Laufe der Zeit</h2> <p>Wirtschafts- und sozialgeschichtlich fallen die gravierendsten Ver&auml;nderungen, die mit einer erh&ouml;hten Belastung des menschlichen K&ouml;rpers durch Toxine einhergingen, in den Zeitraum der letzten 100 Jahre, in dem auch die Inzidenz von Hodentumoren und Fertilit&auml;tsst&ouml;rungen rasant zunahm. Arbeitswelt, Verkehr, Industrie und Verhalten der Menschen in der Freizeit f&uuml;hrten zu dem, was wir als negativen Einfluss des Lebensstils auf Hodentumorerkrankungen und Fertilit&auml;t definieren k&ouml;nnen. <br /><br /><strong>Temperatur</strong><br /> Die Spermatogenese des Mannes erfordert Temperaturen von 2 bis 3&deg;C unter der K&ouml;rperkerntemperatur. Daher befinden sich die Hoden &ndash; wie bei den meisten S&auml;ugetieren &ndash; im Skrotum au&szlig;erhalb des K&ouml;rpers, wo sie nicht zuletzt auch durch ein ausgekl&uuml;geltes Gef&auml;&szlig;system k&uuml;hl gehalten werden. Dass hohe Temperaturen einen negativen Effekt auf die Spermiogenese haben k&ouml;nnen, ist weithin bekannt. Leider existieren ebenso viele Mythen wie echte Fakten zu diesem Thema.<br /> Studien zeigten negative Einfl&uuml;sse von hoher Skrotaltemperatur auf Spermiendichte, Motilit&auml;t und Morphologie. Sogar als Kontrazeptivum wurde W&auml;rme untersucht. Doch wie viel ist zu viel? Welche Art der Temperaturerh&ouml;hung ist sch&auml;dlich?<br /> Die &uuml;blichen Verd&auml;chtigen &ndash; hei&szlig;e Vollb&auml;der und Saunag&auml;nge &ndash; k&ouml;nnen durch das Skrotum in der Regel gut kompensiert werden, und eine &bdquo;normale&ldquo; Exposition f&uuml;hrt zu keiner Einschr&auml;nkung der Fertilit&auml;t. Ein Vollbad in 40&deg;C hei&szlig;em Wasser &uuml;ber 30 Minuten oder mehr hat jedoch bereits negative Effekte auf das Spermiogramm exponierter M&auml;nner.<br /> Sch&auml;dlicher ist dagegen eine geringe Temperaturerh&ouml;hung (ca. 2,5&deg;C) &uuml;ber deutlich l&auml;ngere Perioden. Genau dies ist jedoch die h&auml;ufigste Art der Exposition, welcher das Skrotum heutzutage ausgesetzt ist! Am Arbeitsplatz sind viele M&auml;nner derartigen Situationen chronisch ausgesetzt (Tab. 1). Nicht zuletzt trifft die Situation einer chronischen W&auml;rmeexposition des Skrotums auf M&auml;nner mit Adipositas und einem vorwiegend sitzenden Lebensstil zu. Eine Extremsituation &ndash; das Leben von M&auml;nnern im Rollstuhl &ndash; f&uuml;hrte in einer Studie zur massiven Einschr&auml;nkung der Spermiogrammparameter.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s16_tab1.jpg" alt="" width="684" height="591" /><br /><br /><strong>&Uuml;bergewicht</strong><br /> In &Ouml;sterreich sind bereits 41 % der Bev&ouml;lkerung &uuml;bergewichtig (BMI &gt;25). &Uuml;bergewicht und Fettleibigkeit (BMI &gt;30, in &Ouml;sterreich 11 % ) wurden in den letzten Jahrzehnten zum Volksproblem und sind f&uuml;r zahlreiche Erkrankungen mitverantwortlich. Speziell die m&auml;nnliche Fertilit&auml;t wird durch den Formenkreis Adipositas und metabolisches Syndrom negativ beeinflusst. Bei einem BMI von 25 kommt es zu einer Reduktion der Spermiendichte um 25 % . Neben den Faktoren erh&ouml;hte Skrotaltemperatur und verminderte k&ouml;rperliche Aktivit&auml;t kommt es auch zu Ver&auml;nderungen im Hormonhaushalt, welche ma&szlig;geblich an der Subfertilit&auml;t beteiligt sind. Adip&ouml;se M&auml;nner weisen meist ein Ungleichgewicht zwischen Testosteron und &Ouml;strogen &ndash; zugunsten des durch Aromatasen im Fettgewebe verst&auml;rkt gebildeten &Ouml;strogens &ndash; auf. Die Zahl der Sertoliund Leydigzellen ist vermindert und die f&uuml;r die Spermiogenese essenzielle Testosteronkonzentration im Hodenparenchym ist deutlich geringer, als dies Serumspiegel vermuten lassen w&uuml;rden. Interessanterweise kommt es zus&auml;tzlich zu einer St&ouml;rung der Hypothalamus-Hypophysen- Hoden-Achse, sodass wir bei &uuml;bergewichtigen M&auml;nnern meist auch reduzierte LHund FSH-Spiegel vorfinden. Dar&uuml;ber hinaus akkumulieren die meisten f&uuml;r die Spermiogenese toxischen Substanzen (meist endokrine Disruptoren) im Fettgewebe und wirken so vermehrt und chronisch auf die Spermiogenese.<br /> Gerade die Zahl &uuml;bergewichtiger Kinder nimmt in den letzten Jahren rapide zu. Auf die Wertigkeit sch&auml;digender Einfl&uuml;sse auf die Fertilit&auml;t in jungen Jahren wurde bereits hingewiesen, und die Zahl subfertiler M&auml;nner wird wohl weiter steigen. <br /><br /><strong>Endokrine Disruptoren</strong><br /> Sch&auml;dliche Substanzen, denen der menschliche K&ouml;rper von extern ausgesetzt ist und welche die Fertilit&auml;t beeintr&auml;chtigen, sind meist endokrin aktiv (sogenannte endokrine Disruptoren). In der Regel handelt es sich dabei um antiandrogen wirksame Toxine &ndash; im h&auml;ufigen Fall einer &ouml;strogenen Wirkung sprechen wir von Xenoestrogenen, also von au&szlig;en (xeno = fremd) zugef&uuml;hrten &Ouml;strogen-Analoga.<br /> Pestizide werden in der Landwirtschaft gro&szlig;fl&auml;chig angewandt und beinhalten h&auml;ufig endokrine Disruptoren. Eine massive Belastung, wie sie im Falle des heute verbotenen DBCP (1,2-Dibrom-3-chlorpropan) untersucht werden konnte, hat delet&auml;re Auswirkungen auf die Fertilit&auml;t. Heute erfolgt die Belastung durch Pestizide f&uuml;r die meisten Menschen in sehr geringen Dosen. Studien dazu &ndash; zum Beispiel Vergleiche zwischen Landbev&ouml;lkerung und Stadtbev&ouml;lkerung &ndash; brachten widerspr&uuml;chliche Ergebnisse hinsichtlich m&auml;nnlicher Subfertilit&auml;t.<br /> Auch sogenannte Weichmacher, wie sie zum Beispiel f&uuml;r Kunststoffverpackungen (Trinkflaschen) Verwendung finden, sind teilweise endokrin wirksam. Speziell bei von au&szlig;erhalb der EU importierten Produkten sollte daher auf den Hinweis &bdquo;BPA free&ldquo; geachtet werden (BPA, Bisphenol-A).<br /> Essenziell d&uuml;rfte die Wirkung endokriner Disruptoren bei chronischer Exposition auch niedriger Dosen und deren Speicherung im menschlichen Fettgewebe sein. So werden diese auch von der Mutter auf den Embryo bzw. Fetus und S&auml;ugling (Muttermilch) &uuml;bertragen. <br /><br /><strong>Rauchen</strong><br /> Zigarettenrauchen beeintr&auml;chtigt Motilit&auml;t und Morphologie der Spermatozoen. Urs&auml;chlich ist hier vor allem die Zunahme freier Sauerstoffradikale (ROS) im Hodenparenchym. Inhaltsstoffe und Metaboliten des Tabakrauches wirken im Hoden chemotaktisch und f&uuml;hren so zu entz&uuml;ndlichen Reaktionen. Rauchen schwangere Frauen, ist der negative Einfluss auf die Hodenentwicklung des Embryos ausgepr&auml;gt.<br /> Der Einfluss des Marihuanarauchens (THC) auf die Spermiogenese konnte in Studien nur bedingt untersucht werden. Eine d&auml;nische Arbeitsgruppe konnte 2015 jedoch 1.215 gesunde, junge M&auml;nner hinsichtlich Marihuanakonsum und dessen Auswirkungen auf deren Spermiogramm studieren. Die Spermiendichte war dabei bei den 45,4 % Marihuana konsumierenden M&auml;nnern um durchschnittlich 28 % reduziert. Kamen zus&auml;tzliche Freizeitdrogen dazu (Alkohol, Zigarettenrauchen), kam es sogar zu einer Reduktion der Spermiendichte um 52 % .<br /><br /> <strong>Mobiltelefone</strong><br /> Die von Mobiltelefonen ausgehende &bdquo;Strahlung&ldquo; (Radiofrequenz-, elektromagnetische Wellen, RF-EMW) ist nicht ionisierend. Studien zur Karzinogenese &ndash; vor allem im Gehirn &ndash; konnten bisher keinen Zusammenhang zeigen. Ebenso waren Studien zum Einfluss auf die Spermiogenese &ndash; zum Beispiel beim Tragen des Mobiltelefons in der Hosentasche &ndash; nicht konklusiv. In einer Studie konnte eine Verminderung der Spermienmotilit&auml;t bei Gebrauch des Mobiltelefons von mehr als vier Stunden pro Tag nachgewiesen werden. Inwieweit der Lebensstil von M&auml;nnern, die derartig lange ihr Telefon benutzen, hier eine Rolle spielt, bleibt offen.</p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Die in den letzten hundert Jahren zunehmende Subfertilit&auml;t bei M&auml;nnern und ein Anstieg der Hodentumorinzidenz k&ouml;nnen nur durch den Einfluss von Lebensstil und exogenen Faktoren erkl&auml;rt werden. Eine wesentliche Rolle spielt hier die Exposition durch den Organismus der Mutter und dessen Einfluss auf die Hodenentwicklung des m&auml;nnlichen Embryos und Neugeborenen. Die Einwirkung exogener und m&uuml;tterlicher Faktoren in der perinatalen Periode hat den gr&ouml;&szlig;ten Einfluss auf die zuk&uuml;nftige Fertilit&auml;t des Mannes. Kommt es zu einer Beeintr&auml;chtigung der Hodenentwicklung, sprechen wir heute vom Testicular Dysgenesis Syndrome, in dessen Formenkreis Subfertilit&auml;t und Hodentumor, aber auch Kryptorchismus und Hypospadie fallen.<br /> Eine Beratung sub- oder infertiler M&auml;nner in der urologisch-andrologischen Sprechstunde und Ordination sollte eine Anamnese hinsichtlich exogener Faktoren (besonders Lebensstil und Beruf) beinhalten. Einfluss auf diese Faktoren zu nehmen ist jedoch meist schwierig &ndash; vor allem, wenn der entscheidende Zeitpunkt lange zur&uuml;ckliegt.</p></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p>beim Verfasser</p> </div> </p>
Back to top