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Starke Auswirkungen des Lebensstils
Urologik
Autor:
OA Dr. Florian Wimpissinger, FEBU, MBA
Urologische Abteilung<br> KA Rudolfstiftung Wien<br> E-Mail: florian.wimpissinger@gmx.at
30
Min. Lesezeit
30.03.2017
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<p class="article-intro">Die Frage, inwieweit sich unser Lebensstil auf Körper und Gesundheit auswirkt, ist eines der zentralen Themen in fast allen Bereichen der Medizin – sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der Laienpresse. Gerade im Bereich der männlichen Sub- und Infertilität wird der Einfluss von Lebensstilfaktoren seit Jahrzehnten untersucht und von Betroffenen in der andrologischen Sprechstunde wird danach gefragt.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Bereits der Lebensstil der Mutter beeinflusst die Hodenentwicklung männlicher Embryos.</li> <li>Hodentumoren und In- bzw. Subfertilität sind enger miteinander verbunden als bisher angenommen.</li> <li>Übergewicht, Rauchen und Umweltgifte gehören zu den auslösenden Faktoren.</li> <li>Eine dauerhaft gering erhöhte Temperatur des Skrotums, etwa bei sitzender Tätigkeit am Arbeitsplatz, hat deutlich negative Folgen.</li> </ul> </div> <p>Sämtliche Gewebe und Organe des menschlichen Körpers unterliegen einer ständigen Regeneration mit der täglichen Bildung neuer Zellen. Im gesunden Hoden sind dies rund 100 Millionen Spermatozoen pro Tag. Damit wird klar, dass externe Einflüsse wie der Lebensstil gravierende Folgen haben können.<br /> Bei Keimzelltumoren des Hodens sind Einflüsse des Lebensstils auf die Genese weit seltener diskutiert. Erste Hinweise auf die Auswirkung externer Faktoren auf die Entstehung dieser häufigsten malignen Erkrankung des jungen Mannes ergaben sich aus longitudinalen Populationsstudien. Allein im Zeitraum 1950 bis 1980 ist die Inzidenz von Hodentumorerkrankungen in einigen Ländern um den Faktor 10 angestiegen. Derartige rasante und – im Vergleich zur Evolution des Menschen – kurzfristige Anstiege sprechen eindeutig gegen rein genetische Ursachen. Sie können nur Folge externer Faktoren sein, was in Migrationsstudien weiter erhärtet werden konnte.</p> <h2>Testicular Dysgenesis Syndrome</h2> <p>Analog haben sich Spermiendichte und -morphologie in den letzten Jahrzehnten zunehmend verschlechtert. Tatsächlich stehen Fertilität und Hodentumorerkrankung enger in Zusammenhang als häufig vermutet. Skakkebæk beschrieb 2001 erstmals das Testicular Dysgenesis Syndrome (TDS) und den Einfluss von Umweltfaktoren auf diese „Entwicklungsstörung“ des Hodens (Abb. 1). Das TDS beinhaltet Störungen der Sertoli- und Leydigzellfunktion mit gehäuftem Auftreten von Sub- und Infertilität, Hodentumor, Hypospadie und/oder Kryptorchismus. Externe Einflüsse sowohl während der Embryonalentwicklung als auch post partum scheinen für die Entwicklung des TDS maßgeblich zu sein.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s16_abb1.jpg" alt="" width="1419" height="735" /><br /><br /><strong>Zeitpunkt der Einwirkung externer Faktoren</strong><br /> Gerade während der späten fetalen Entwicklung sowie in den ersten Monaten post partum scheinen externe Faktoren für die Entwicklung des TDS verantwortlich zu sein. Gegen Ende der fetalen Entwicklung wird die Zahl der Sertolizellen durch Proliferation im Hoden determiniert. Die zu dieser Zeit definierte Zahl der Sertolizellen bestimmt später das Ausmaß der Spermatogenese (ab Pubertät) und beeinflusst darüber hinaus die Funktion der Leydigzellen. Zahlreiche, dem Lebensstil zuzurechnende Toxine wirken über die Mutter auf Fetus und Neugeborenen. Gerade hormonell aktive Substanzen akkumulieren im Fettgewebe und werden so auch über die Muttermilch weitergegeben.</p> <h2>Lebensstil im Laufe der Zeit</h2> <p>Wirtschafts- und sozialgeschichtlich fallen die gravierendsten Veränderungen, die mit einer erhöhten Belastung des menschlichen Körpers durch Toxine einhergingen, in den Zeitraum der letzten 100 Jahre, in dem auch die Inzidenz von Hodentumoren und Fertilitätsstörungen rasant zunahm. Arbeitswelt, Verkehr, Industrie und Verhalten der Menschen in der Freizeit führten zu dem, was wir als negativen Einfluss des Lebensstils auf Hodentumorerkrankungen und Fertilität definieren können. <br /><br /><strong>Temperatur</strong><br /> Die Spermatogenese des Mannes erfordert Temperaturen von 2 bis 3°C unter der Körperkerntemperatur. Daher befinden sich die Hoden – wie bei den meisten Säugetieren – im Skrotum außerhalb des Körpers, wo sie nicht zuletzt auch durch ein ausgeklügeltes Gefäßsystem kühl gehalten werden. Dass hohe Temperaturen einen negativen Effekt auf die Spermiogenese haben können, ist weithin bekannt. Leider existieren ebenso viele Mythen wie echte Fakten zu diesem Thema.<br /> Studien zeigten negative Einflüsse von hoher Skrotaltemperatur auf Spermiendichte, Motilität und Morphologie. Sogar als Kontrazeptivum wurde Wärme untersucht. Doch wie viel ist zu viel? Welche Art der Temperaturerhöhung ist schädlich?<br /> Die üblichen Verdächtigen – heiße Vollbäder und Saunagänge – können durch das Skrotum in der Regel gut kompensiert werden, und eine „normale“ Exposition führt zu keiner Einschränkung der Fertilität. Ein Vollbad in 40°C heißem Wasser über 30 Minuten oder mehr hat jedoch bereits negative Effekte auf das Spermiogramm exponierter Männer.<br /> Schädlicher ist dagegen eine geringe Temperaturerhöhung (ca. 2,5°C) über deutlich längere Perioden. Genau dies ist jedoch die häufigste Art der Exposition, welcher das Skrotum heutzutage ausgesetzt ist! Am Arbeitsplatz sind viele Männer derartigen Situationen chronisch ausgesetzt (Tab. 1). Nicht zuletzt trifft die Situation einer chronischen Wärmeexposition des Skrotums auf Männer mit Adipositas und einem vorwiegend sitzenden Lebensstil zu. Eine Extremsituation – das Leben von Männern im Rollstuhl – führte in einer Studie zur massiven Einschränkung der Spermiogrammparameter.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_s16_tab1.jpg" alt="" width="684" height="591" /><br /><br /><strong>Übergewicht</strong><br /> In Österreich sind bereits 41 % der Bevölkerung übergewichtig (BMI >25). Übergewicht und Fettleibigkeit (BMI >30, in Österreich 11 % ) wurden in den letzten Jahrzehnten zum Volksproblem und sind für zahlreiche Erkrankungen mitverantwortlich. Speziell die männliche Fertilität wird durch den Formenkreis Adipositas und metabolisches Syndrom negativ beeinflusst. Bei einem BMI von 25 kommt es zu einer Reduktion der Spermiendichte um 25 % . Neben den Faktoren erhöhte Skrotaltemperatur und verminderte körperliche Aktivität kommt es auch zu Veränderungen im Hormonhaushalt, welche maßgeblich an der Subfertilität beteiligt sind. Adipöse Männer weisen meist ein Ungleichgewicht zwischen Testosteron und Östrogen – zugunsten des durch Aromatasen im Fettgewebe verstärkt gebildeten Östrogens – auf. Die Zahl der Sertoliund Leydigzellen ist vermindert und die für die Spermiogenese essenzielle Testosteronkonzentration im Hodenparenchym ist deutlich geringer, als dies Serumspiegel vermuten lassen würden. Interessanterweise kommt es zusätzlich zu einer Störung der Hypothalamus-Hypophysen- Hoden-Achse, sodass wir bei übergewichtigen Männern meist auch reduzierte LHund FSH-Spiegel vorfinden. Darüber hinaus akkumulieren die meisten für die Spermiogenese toxischen Substanzen (meist endokrine Disruptoren) im Fettgewebe und wirken so vermehrt und chronisch auf die Spermiogenese.<br /> Gerade die Zahl übergewichtiger Kinder nimmt in den letzten Jahren rapide zu. Auf die Wertigkeit schädigender Einflüsse auf die Fertilität in jungen Jahren wurde bereits hingewiesen, und die Zahl subfertiler Männer wird wohl weiter steigen. <br /><br /><strong>Endokrine Disruptoren</strong><br /> Schädliche Substanzen, denen der menschliche Körper von extern ausgesetzt ist und welche die Fertilität beeinträchtigen, sind meist endokrin aktiv (sogenannte endokrine Disruptoren). In der Regel handelt es sich dabei um antiandrogen wirksame Toxine – im häufigen Fall einer östrogenen Wirkung sprechen wir von Xenoestrogenen, also von außen (xeno = fremd) zugeführten Östrogen-Analoga.<br /> Pestizide werden in der Landwirtschaft großflächig angewandt und beinhalten häufig endokrine Disruptoren. Eine massive Belastung, wie sie im Falle des heute verbotenen DBCP (1,2-Dibrom-3-chlorpropan) untersucht werden konnte, hat deletäre Auswirkungen auf die Fertilität. Heute erfolgt die Belastung durch Pestizide für die meisten Menschen in sehr geringen Dosen. Studien dazu – zum Beispiel Vergleiche zwischen Landbevölkerung und Stadtbevölkerung – brachten widersprüchliche Ergebnisse hinsichtlich männlicher Subfertilität.<br /> Auch sogenannte Weichmacher, wie sie zum Beispiel für Kunststoffverpackungen (Trinkflaschen) Verwendung finden, sind teilweise endokrin wirksam. Speziell bei von außerhalb der EU importierten Produkten sollte daher auf den Hinweis „BPA free“ geachtet werden (BPA, Bisphenol-A).<br /> Essenziell dürfte die Wirkung endokriner Disruptoren bei chronischer Exposition auch niedriger Dosen und deren Speicherung im menschlichen Fettgewebe sein. So werden diese auch von der Mutter auf den Embryo bzw. Fetus und Säugling (Muttermilch) übertragen. <br /><br /><strong>Rauchen</strong><br /> Zigarettenrauchen beeinträchtigt Motilität und Morphologie der Spermatozoen. Ursächlich ist hier vor allem die Zunahme freier Sauerstoffradikale (ROS) im Hodenparenchym. Inhaltsstoffe und Metaboliten des Tabakrauches wirken im Hoden chemotaktisch und führen so zu entzündlichen Reaktionen. Rauchen schwangere Frauen, ist der negative Einfluss auf die Hodenentwicklung des Embryos ausgeprägt.<br /> Der Einfluss des Marihuanarauchens (THC) auf die Spermiogenese konnte in Studien nur bedingt untersucht werden. Eine dänische Arbeitsgruppe konnte 2015 jedoch 1.215 gesunde, junge Männer hinsichtlich Marihuanakonsum und dessen Auswirkungen auf deren Spermiogramm studieren. Die Spermiendichte war dabei bei den 45,4 % Marihuana konsumierenden Männern um durchschnittlich 28 % reduziert. Kamen zusätzliche Freizeitdrogen dazu (Alkohol, Zigarettenrauchen), kam es sogar zu einer Reduktion der Spermiendichte um 52 % .<br /><br /> <strong>Mobiltelefone</strong><br /> Die von Mobiltelefonen ausgehende „Strahlung“ (Radiofrequenz-, elektromagnetische Wellen, RF-EMW) ist nicht ionisierend. Studien zur Karzinogenese – vor allem im Gehirn – konnten bisher keinen Zusammenhang zeigen. Ebenso waren Studien zum Einfluss auf die Spermiogenese – zum Beispiel beim Tragen des Mobiltelefons in der Hosentasche – nicht konklusiv. In einer Studie konnte eine Verminderung der Spermienmotilität bei Gebrauch des Mobiltelefons von mehr als vier Stunden pro Tag nachgewiesen werden. Inwieweit der Lebensstil von Männern, die derartig lange ihr Telefon benutzen, hier eine Rolle spielt, bleibt offen.</p> <h2>Zusammenfassung</h2> <p>Die in den letzten hundert Jahren zunehmende Subfertilität bei Männern und ein Anstieg der Hodentumorinzidenz können nur durch den Einfluss von Lebensstil und exogenen Faktoren erklärt werden. Eine wesentliche Rolle spielt hier die Exposition durch den Organismus der Mutter und dessen Einfluss auf die Hodenentwicklung des männlichen Embryos und Neugeborenen. Die Einwirkung exogener und mütterlicher Faktoren in der perinatalen Periode hat den größten Einfluss auf die zukünftige Fertilität des Mannes. Kommt es zu einer Beeinträchtigung der Hodenentwicklung, sprechen wir heute vom Testicular Dysgenesis Syndrome, in dessen Formenkreis Subfertilität und Hodentumor, aber auch Kryptorchismus und Hypospadie fallen.<br /> Eine Beratung sub- oder infertiler Männer in der urologisch-andrologischen Sprechstunde und Ordination sollte eine Anamnese hinsichtlich exogener Faktoren (besonders Lebensstil und Beruf) beinhalten. Einfluss auf diese Faktoren zu nehmen ist jedoch meist schwierig – vor allem, wenn der entscheidende Zeitpunkt lange zurückliegt.</p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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