
©
Getty Images/iStockphoto
Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenfunktionsstörung: die EAU-Guideline
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. med. Jürgen Pannek
Chefarzt Neuro-Urologie<br> Schweizer Paraplegiker-Zentrum<br> E-Mail: juergen.pannek@paraplegie.ch
30
Min. Lesezeit
22.03.2018
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Harnwegsinfekte stellen bei Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung ein häufiges und belastendes Problem dar. Dennoch existieren kaum evidenzbasierte Richtlinien zur Diagnostik, Therapie und Prophylaxe. Die EAU-Guideline «Neuro- Urologie» fasst den aktuellen Wissensstand zusammen und gibt entsprechende Empfehlungen für die Praxis.</p>
<hr />
<p class="article-content"><h2>Einleitung</h2> <p>Die bei Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung gehäuft auftretenden Harnwegsinfektionen (HWI) können verschiedene Ursachen haben. Neben einer kompromittierten Speicher- und Entleerungsfunktion werden u.a. die Katheterisierung und Veränderungen im Immunsystem diskutiert. HWI sind die führende Ursache für Septikämien bei querschnittgelähmten Patienten und gehen mit einer signifikant erhöhten Mortalität einher.<sup>1</sup> Darüber hinaus führen HWI zu einer massiven Einschränkung der Lebensqualität der Betroffenen. Da HWI in dieser Patientengruppe oft rezidivieren und die Erreger zunehmend Resistenzen gegen Antibiotika entwickeln,<sup>1, 2</sup> stellen sie eine der grössten Herausforderungen in der urologischen Betreuung Querschnittgelähmter dar. Trotz dieser grossen Bedeutung für Patienten und Therapeuten existieren bis heute weder zur Definition noch zur Therapie und Prophylaxe evidenzbasierte Empfehlungen.<br /> Mit der Guideline «Neuro-Urologie» hat es sich die European Urological Association (EAU) daher zur Aufgabe gemacht, für die Praxis relevante Empfehlungen zu diesen Fragen zu entwickeln. Diese basieren auf extensiven systematischen Literaturrecherchen, welche regelmässig aktualisiert werden, und auf der Diskussion der Experten der Guidelinegruppe. Die jeweils aktuelle Version ist im Internet abrufbar.<sup>3</sup></p> <h2>Definition</h2> <p>Zur Diagnose eines HWI ist die Kombination von Laborbefunden (Bakteriurie, Leukozyturie und positive Urinkultur) und Symptomen obligat. Ein evidenzbasierter Cut-off-Wert für die Laborparameter existiert nicht, als Konsensus wird eine Definition der signifikanten Bakteriurie in Abhängigkeit von der Probengewinnung vorgeschlagen (Tab. 1). Bezüglich der Leukozyturie werden 10 oder mehr Leukozyten pro Gesichtsfeld (400-fache Vergrösserung) als signifikant betrachtet.<br /> Die Symptome eines HWI bei neurogener Blasenfunktionsstörung können sich z.T. deutlich von den Symptomen eines unkomplizierten HWI unterscheiden und sind häufig unspezifisch. Die häufigsten Symptome sind Fieber, neu aufgetretene/verschlechterte Inkontinenz, vermehrte generalisierte Spastik, Schmerzen, Dysurie, Abgeschlagenheit, allgemeines Krankheitsgefühl, autonome Dysregulation oder Flankenschmerzen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1801_Weblinks_s12_tab1.jpg" alt="" width="1417" height="404" /></p> <h2><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2018_Leading Opinions_Uro_1801_Weblinks_s12_tab2.jpg" alt="" width="1417" height="831" /></h2> <h2>Diagnostik</h2> <p>Da für die Diagnose eines HWI die Kombination von Symptomen und Laborbefunden obligat ist, sollte kein Bakteriurie- Screening erfolgen. Goldstandard der Diagnostik sind eine Urinkultur und eine Urinanalyse. Ein Teststreifen ist eher zum Ausschluss denn zum Nachweis eines HWI geeignet. Da sich das Keimspektrum und die Resistenzlage bei Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung von denjenigen bei unkomplizierten HWI unterscheiden, ist eine mikrobiologische Untersuchung obligat.</p> <h2>Therapie</h2> <p>Eine Bakteriurie sollte nicht therapiert werden, da eine Behandlung die Entstehung multiresistenter Bakterien fördert, ohne den Verlauf zu verbessern. Ein akuter HWI bei neurogener Blasenfunktionsstörung ist definitionsgemäss ein komplizierter HWI, daher sollte die Behandlungsdauer 5 bis 7 Tage umfassen; sie muss ggf. bei Beteiligung des oberen Harntrakts auf 14 Tage ausgedehnt werden. Generell sollte das Antibiotikum anhand des Resultats der mikrobiologischen Untersuchung ausgewählt werden; sollte aufgrund der Schwere der Infektion eine kalkulierte Antibiose erforderlich sein, sollte sich diese an den lokalen und individuellen Resistenzprofilen orientieren.</p> <h2>Prophylaxe</h2> <p>Bei rezidivierenden (3 oder mehr HWI/Jahr) HWI sollten zunächst morphologische und funktionelle Ursachen ausgeschlossen werden. Daher soll in Bezug auf Fremdkörper, z.B. Steine, therapiert werden, die Blasenfunktion und der Entleerungsmodus sollen überprüft und ggf. optimiert werden und – wenn irgend möglich – Dauerkatheter entfernt werden. Bei Patienten, die den intermittierenden Katheterismus durchführen, waren hydrophil beschichtete Katheter mit einer niedrigeren HWI-Rate assoziiert.<br /> Falls die HWI trotz dieser Massnahmen persistieren, können zusätzliche supportive Therapien evaluiert werden. Blasenspülungen haben keinen nachgewiesenen Effekt. Es existiert eine Vielzahl von medikamentösen Ansätzen zur HWI-Prophylaxe. Hierbei hat sich Methenaminhippurat als nicht effektiv erwiesen. In randomisierten placebokontrollierten Studien konnte auch kein Benefit von Cranberrysaft bei HWI nachgewiesen werden. Die Evidenz für einen Einsatz von L-Methionin zur Harnansäuerung ist zu schwach, um den Einsatz dieser Substanz empfehlen zu können. Es gibt nur eine schwache Evidenz dafür, dass eine orale Immuntherapie die Bakteriurierate reduziert, und keinen Hinweis darauf, dass sie die HWI-Rate senkt. Eine niedrig dosierte Langzeitantibiose kann die HWI-Frequenz nicht reduzieren, führt aber zu einer erhöhten Antibiotikaresistenz und wird daher nicht empfohlen. Ein Applikationsschema mittels wöchentlicher alternierender Gabe von Antibiotika einmal pro Woche («weekly oral cycling antibiotics», WOCA) erbrachte positive Langzeitresultate, die Ergebnisse dieser Studie sollten jedoch durch andere Untersuchungen bestätigt werden, bevor eine allgemeine Empfehlung erfolgen kann. Die Inokulation von apathogenen E.-coli-Keimen in die Blase erbrachte in initialen Studien ermutigende Resultate, kann aber aufgrund der wenigen zur Verfügung stehenden Daten aktuell nicht empfohlen werden.<br /> Zusammenfassend existiert keine HWI-Prophylaxe, die nach den Kriterien der evidenzbasierten Medizin uneingeschränkt empfohlen werden kann. Die HWI-Prophylaxe bei Personen mit neurogener Blasenfunktionsstörung bleibt weiterhin ein wichtiges Problem; da es keinen Ansatz gibt, der den anderen Konzepten eindeutig überlegen ist, sollten bei Betroffenen mit rezidivierenden HWI individualisierte Konzepte auch unter Berücksichtigung von Immunstimulation, Phytotherapie und komplementärmedizinischen Verfahren eingesetzt werden.</p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Biering-Sørensen F et al.: Urinary tract infections in patients with spinal cord lesions: treatment and prevention. Drugs 2001; 61: 1275-87 <strong>2</strong> Hinkel A et al.: Increasing resistance against antibiotics in bacteria isolated from the lower urinary tract of an outpatient population of spinal cord injury patients. Urol Int 2004; 73: 143-8 <strong>3</strong> EAU Guideline Neuro-Urology. https://uroweb.org/guideline/neurourology/ (letzter Zugriff am 24. 1. 2018)</p>
</div>
</p>