
©
Getty Images
Gestörte Blasenfunktion bei Parkinson
Leading Opinions
Autor:
Prof. Karl-Dietrich Sievert
Adjunct Professor an der Universitätsklinik für Urologie<br>Medizinische Universität Wien <br>E-Mail: kd_sievert@hotmail.com
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
Weiterempfehlen
<p class="article-intro">Die Parkinson-Krankheit ist eine häufige neurodegenerative Erkrankung (Mann : Frau = 2 : 1), von der in Österreich rund 16 000 Menschen (jährliche Neuerkrankungen: 200), in Grossbritannien über 120 000 Menschen, in den USA über 1 Mio. und weltweit ca. 10 Mio. Menschen betroffen sind. Studien haben gezeigt, dass Blasenfunktionsstörungen die Lebensqualität (QoL), die frühe Institutionalisierung und die Gesundheitsökonomie wesentlich beeinflussen.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Blasenfunktionsstörungen bei Parkinsonpatienten resultieren aus der Degeneration der dopaminergen Neurotransmission.</li> <li>Am häufigsten kommt es zu einer Detrusorüberaktivität während der Urinsammelphase und zu gestörter Detrusorkontraktilität beim Harn­lassen.</li> <li>Der Effekt von Levodopa auf LUTD muss noch weiter erforscht werden.</li> <li>Die Detrusorüberaktivität kann mit Antimuskarinika behandelt werden, eine Stressinkontinenz-Operation ist nicht indiziert.</li> <li>Bei signifikanten Restharnvolumina sollte der Patient das Selbstkatheterisieren erlernen.</li> <li>OnabotulinumtoxinA kann in niedriger Dosierung (100IU) eingesetzt werden.</li> <li>Operative Eingriffe sind eine Option, wobei das Vorliegen einer MSA unbedingt ausgeschlossen werden muss.</li> </ul> </div> <p>Am bekanntesten sind sicherlich die klinischen Symptome der Parkinson-Krankheit (PD) mit einer Veränderung der Sprache und des Bewegungsapparates. Es werden fünf verschiedene Stufen unterschieden. Im Stadium I finden sich Tremor und bestimmte motorische Veränderungen. Diese schränken den Patienten kaum ein, sodass er am Alltagsleben teilhaben kann. Im Stadium V dagegen braucht der Patient zumeist eine 24-Stunden-Pflege und ist durch seine Bewegungseinschränkungen auf den Rollstuhl angewiesen bzw. sogar bettlägerig.<br />Parkinsonpatienten haben zu 40–80 % mehr oder weniger ausgeprägte Symptome des unteren Harntrakts («lower urinary tract dysfunction», LUTD).<sup>1</sup> Die Patienten werden durch erhöhte Miktionsfrequenz bzw. Dranginkontinenz aufgrund der Harnblasenüberaktivität (DOA) und nächtliches Wasserlassen (Nykturie) gepeinigt. Die Nykturie kann durch die nächtliche Polyurie bedingt sein und führt zur Unterbrechung des Schlafs. Zusätzlich finden sich natürlich die Einschränkungen der kognitiven Situation mit eingeschränkter Mobilität und anderen Komorbiditäten.<br />Zu differenzieren ist die PD von der multiplen Systematrophie (MSA). Parkinson tritt 10-mal häufiger als MSA auf. Die entsprechende Unterscheidung ist notwendig und für viele therapeutische Ansätze wichtig, da sie bei Parkinson indiziert, bei MSA kontraindiziert sein können. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium der MSA stellen die frühzeitig auftretende erektile Dysfunktion und die Differenzierung anhand des Sphinkter-EMG dar (Tab. 1).<sup>2–4</sup><br />Bestimmte urologische Aspekte können dem Arzt Hinweise darauf geben, dass zusätzlich aus der PD resultierende urologische Probleme vorliegen: <br />1) signifikanter ungewollter Urinverlust; <br />2) Unfähigkeit, bei voller Blase willkürlich Wasser zu lassen; <br />3) ungewöhnlich hohe Miktionsfrequenz; <br />4) mit der Miktion verbundene Schmerzen;<br />5) Schwächung der Muskulatur auch im unteren Harntrakt, wodurch es zur Restharnbildung (RH) kommen kann («post-void residual volume» [PVR] ist in der PD minimal und tritt signifikant häufiger bei MSA-Patienten auf).</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Uro_1701_Weblinks_s19kp.jpg" alt="" width="1417" height="1093" /></p> <h2>Urologische Evaluation notwendig</h2> <p>Hieraus leiten sich die verschiedenen urologischen Behandlungsmodalitäten ab. An erster Stelle steht natürlich die Behandlung der Dopanminmangels aufgrund der verringerten Dopaminproduktion. Dies verstärkt ggf. Probleme des unteren Harntrakts. In der Regel wird durch Levodopa die Aktivierung der D2-Rezeptoren erzielt, die zu einer verschlechterten Blasenfunktion führen kann.<sup>5–8</sup> Dem gegenüber stehen die Dopaminagonisten, die zu einer Verringerung der Nykturie und einer Vergrösserung der Blasenkapazität führen.<sup>9, 10</sup><br />Wegen dieser notwendigen Medikation ist die urologische Evaluation wichtig.<sup>11 </sup>Anhand dieser können dann Medikamente für den Miktionsdrang bzw. die -frequenz verordnet werden. Für den Fall des Harnverhalts sollte der Patient den Selbstkatheterismus erlernen. Dazu gehören natürlich auch alle verschiedenen Formen der Inkontinenzhilfen wie Vorlagen, Kondom­urinal und andere Hilfsmittel.<br />Aufgrund der Frequenz- und Drang­symptomatik empfehlen sich die verschiedenen Anticholinergika, die auf dem Markt eingeführt sind. Es ist zu bedenken, dass einige von diesen auch eine entsprechende Blut-Liquor-Schranke-Durchgängigkeit aufweisen und daraus resultierend die kog­nitive Funktion weiter einschränken können.<sup>12</sup> In den letzten Jahren sind die Optionen der Behandlung mit Beta-3-Adrenozeptoragonisten ergänzt worden, die ein besseres Nebenwirkungsprofil haben. <br />Seit 2011 ist für die schwer zu behandelnde neurogene Harnblasenentleerungs-störung auch OnabotulinumtoxinA zur Injektion in die Harnblasenwand zugelassen, welche auch im ambulanten Setting durchgeführt werden kann. Empfohlen wird hier die niedrige Dosierung von 100IU, um die Wahrscheinlichkeit des Harnverhalts zu reduzieren, weshalb die Injektion ca. alle 6 Monate wiederholt werden muss.<sup>13–15</sup></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Uro_1701_Weblinks_s20.jpg" alt="" width="1871" height="1330" /></p> <h2>Option der Hirn- oder Nervenstimulation</h2> <p>Eine weitere Möglichkeit stellt die Tiefenhirnstimulation («deep brain stimulation», DBS) dar, die für PD etabliert ist. Anhand von Studien konnte belegt werden, dass es zu einer signifikanten Verbesserung der Nykturie und einer Reduzierung der OAB-Symptome kommt.<sup>16</sup> Die Effektivität ist vergleichbar mit der durch eine Apomorphinpumpe.<sup>17</sup><br />In diesem Rahmen kann auch die perkutane Stimulation des Nervus tibialis (PTNS) ausprobiert werden. Durch dieses Therapieverfahren kann die Detrusor­überaktivität reduziert werden. Dies verbessert die Blasenkapazität, was sich sogar urodynamisch belegen lässt.<sup>18–20 </sup>Dennoch ist die Evidenz der Studienlandschaft zur Behandlung der neurogenen LUTD bisher sehr gering.<sup>21</sup> In jüngster Zeit wurde auch die Möglichkeit der chronischen tibialen Nervenmodulation (CTNM) überprüft. Es gibt erste Anhaltspunkte dafür, dass dadurch für diese Patienten eine deutliche Befundverbesserung erzielt werden kann.<sup>22</sup> Mit einem Dauerimplantat kann der Patient die CTNM zu Hause selbst durchführen und wird unabhängiger. Dies trägt ganz wesentlich zur Steigerung der Lebensqualität bei.<sup>22</sup> <br />Da es nur wenige Patienten gibt, bei denen die sakrale Neuromodulation (SNM) angewendet worden ist, reicht die Datenlage nicht aus, um eine entsprechende Aussage treffen zu können.</p> <h2>Erkrankungen der Prostata</h2> <p>Bei prostataspezifischen Erkrankungen des Mannes (benigne Prostatahyperplasie, BPH) können Alphablocker eingesetzt werden. Der Einsatz von Onabotulinumto­xinA ist nach aktueller Datenlage nicht indiziert, da nicht effektiv.<sup>23</sup><br />Die transurethrale Prostataresektion (TURP) und verwandte Verfahren sind heute nicht mehr kontraindiziert. Es ist darauf hinzuweisen, dass vor einem Eingriff die MSA ausgeschlossen werden soll, da ansonsten die Gefahr einer nach­folgenden Harninkontinenz deutlich steigt.<sup>24, 25</sup> Zusätzlich bieten sich auch neue minimal invasive Therapiemöglichkeiten an.<sup>26</sup> Ob sich diese auch für MSA-Patienten eignen, muss noch evaluiert werden.<br />Für den Fall der Diagnose eines Prostatakarzinoms (PCa) stellt im Allgemeinen die radikale Prostatektomie eine Option dar, obwohl die Datenlage recht schwach ist. Es ist aber zu bedenken, dass besonders bei dieser Patientengruppe eine Strahlentherapie des PCa zu schwer zu behandelnden Nebenwirkungen führen kann.<sup>27</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Aufgrund des progredienten Dopaminmangels kommt es zu einer chronisch progressiven Veränderung kommt, die sich auch auf den unteren Harntrakt auswirkt. Mit den verschiedenen Therapieoptionen kann eine deutliche Linderung auch der urologischen Symptome erzielt werden. Aufgrund des Dopaminmangels und des dadurch notwendigen medikamentösen Ausgleichs können sich Symptome im Bereich der Harnspeicherung, aber auch der Harnentleerung entwickeln oder verstärken. <br />In vielen Fällen lässt sich die Detrusorüberaktivität mittels Anticholinergika/Beta-3-Adrenozeptoragonisten behandeln. Für den Fall des Harnverhalts sollte der Patient den Selbstkatheterismus erlernt haben. Für Patienten, bei denen Anticholinergika/Beta-3-Adrenozeptoragonisten nicht ausreichend wirken oder Nebenwirkungen hervorrufen, bietet sich die niedrig dosierte OnabotulinumtoxinA-Injektion (100IU) in den Harnblasenmuskel an. <br />Bei einer bestehenden Belastungsinkontinenz muss aufgrund der Detrusorüberaktivität beachtet werden, dass sich diese bei einer operativen Versorgung ggf. verstärken kann. Ansonsten sind die verschiedenen Möglichkeiten der Neuromodulation/Stimulation weitere Optionen. <br />Im Bereich der Prostataversorgung stehen die klassischen transurethralen Verfahren zur Verfügung, aber auch weiter auf dem Vormarsch befindliche minimal invasive Verfahren. Durch optimale Diagnostik und Einschätzung kann für den einzelnen Patienten eine individuell abgestimmte Therapie erfolgen.<sup>11</sup><br />Die Zusammenarbeit von Urologen mit Neurologen ist sehr empfehlenswert, um die blasenassoziierte QoL der Patienten zu maximieren.</p> </div></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> EAU Guidelines, NeuroUrology 2017, <a href="http://uroweb.org/guideline/neuro-urology/">http://uroweb.org/guideline/neuro-urology/</a> <strong>2</strong> Yamamoto T et al: The utility of post-void residual volume versus sphincter electromyography to distinguish between multiple system atrophy and parkinson’s disease. PLoS One 2017; 12: e0169405 (doi: 10.1371/journal.pone.0169405. eCollection 2017 Jan 6) <strong>3</strong> Perez-Lloret S et al: Emerging drugs for autonomic dysfunction in parkinson’s disease. Expert Opin Emerg Drugs 2013; 18: 39-53 <strong>4</strong> Fowler CJ: Update on the neurology of parkinson’s disease. Neurourol Urodyn 2007; 26: 103-9 <strong>5</strong> Uchiyama T et al: Short-term effect of a single levodopa dose on micturition disturbance in parkinson’s disease patients with the wearing-off phenomenon. Mov Disord 2003; 18: 573-8 <strong>6</strong> Seki S et al: Role of dopamine D1 and D2 receptors in the micturition reflex in conscious rats. Neurourol Urodyn 2001; 20: 105-13 <strong>7</strong> Yoshimura N et al: Therapeutic effects of dopamine D1/D2 receptor agonists on detrusor hyperreflexia in 1-methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridine-lesioned parkinsonian cynomolgus monkeys. J Pharmacol Exp Ther 1998; 286: 228-33 <strong>8</strong> Brusa L et al: Central acute D2 stimulation worsens bladder function in patients with mild parkinson’s disease. J Urol 2006; 175: 202-6 (discussion 206-7) <strong>9</strong> Kuno S et al: Effects of pergolide on nocturia in parkinson’s disease: three female cases selected from over 400 patients. Parkinsonism Relat Disord 2004; 10: 181-7 <strong>10</strong> Aranda B, Cramer P: Effects of apomorphine and L-dopa on the parkinsonian bladder. Neurourol Urodyn 1993; 12: 203-9 <strong>11</strong> Georgopoulos P, Apostolidis A: Neurogenic voiding dysfunction. Current Opinion Urology 2017; [in press] <strong>12</strong> Buser N et al: Efficacy and adverse events of antimuscarinics for treating overactive bladder: network meta-analyses. Eur Urol 2012; 62: 1040-60 <strong>13</strong> Anderson RU et al: OnabotulinumtoxinA office treatment for neurogenic bladder incontinence in parkinson’s disease. Urology 2014; 83: 22-7 <strong>14</strong> Giannantoni A et al: Botulinum toxin type A in patients with parkinson’s disease and refractory overactive bladder. J Urol 2011; 186: 960-4 <strong>15</strong> Wöllner J, Kessler TM: Botulinum toxin injections into the detrusor. BJU Int 2011; 108: 1528-37 <strong>16</strong> Seif C et al: Effect of subthalamic deep brain stimulation on the function of the urinary bladder. Ann Neurol 2004; 55: 118-20 <strong>17</strong> Winge K, Nielsen KK: Bladder dysfunction in advanced parkinson’s disease. Neurourol Urodyn 2012; 31: 1279-83 <strong>18</strong> Kulaksizoglu H, Parman Y: Use of botulinum toxin-A for the treatment of overactive bladder symptoms in patients with parkinsons’s disease. Parkinsonism Relat Disord 2010; 16: 531-4 <strong>19</strong> Kabay SC et al: Acute urodynamic effects of percutaneous posterior tibial nerve stimulation on neurogenic detrusor overactivity in patients with parkinson’s dis­ease. Neurourol Urodyn 2009; 28: 62-7 <strong>20</strong> Perissinotto MC et al: Transcutaneous tibial nerve stimulation in the treatment of lower urinary tract symptoms and its impact on health-related quality of life in patients with Parkinson disease: a randomized controlled trial. J Wound Ostomy Continence Nurs 2015; 42: 94-9 <strong>21</strong> Schneider MP et al: Tibial nerve stimulation for treating neurogenic lower urinary tract dysfunction: a systematic review. Eur Urol 2015; 68: 859-67 <strong>22</strong> Sievert KD et al: #572: Novel chronic tibial neuromodulation (CTNM) treatment option for OAB significantly improves urgency (UI)/urge urinary incontinence (UUI) and normalizes sleep patterns: initial results. European Urology Supplements 2017; 16: e994 <strong>23</strong> Andersson KE. Intraprostatic injections for lower urinary tract symptoms treatment. Curr Opin Urol 2015; 25: 12-18. <strong>24</strong> Defreitas GA et al: Distinguishing neurogenic from non-neurogenic detrusor overactivity: a urodynamic assessment of lower urinary tract symptoms in patients with and wi­thout parkinson’s disease. Urology 2003; 62: 651-5 <strong>25</strong> Roth B et al: Benign prostatic obstruction and parkinson’s disease – should transurethral resection of the prostate be avoided? J Urol 2009; 181: 2209-13 <strong>26</strong> Sievert KD, Kunit T: Emerging techniques in ‘truly’ minimal-invasive treatment options of benign prostatic obstruction. Current Opinion Urology 2017; in press <strong>27</strong> Biers S et al: Overactive bladder syndrome and lower urinary tract symptoms after prostate cancer treatment. Current opinion in Urology 2017; [in press]</p>
</div>
</p>
Das könnte Sie auch interessieren:
Aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse beim Urothelkarzinom
Auf dem diesjährigen Genitourinary Cancers Symposium der American Society of Clinical Oncology (ASCO-GU-Kongress) wurden bedeutende Fortschritte in der Diagnose und Behandlung des ...
Aktuelles aus der 7. Version der S3-Leitlinie: wesentliche Leitlinienänderungen
Im Mai 2024 wurde die Prostatakarzinom-S3-Leitlinie unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU) im Rahmen des Leitlinienprogramms Onkologie in ihrer 7. ...
Neues vom ASCO GU zum Prostatakarzinom
Im Rahmen des ASCO GU 2025 in San Francisco wurden eine Vielfalt von neuen praxisrelevanten Studien zum Prostatakarzinom präsentiert. Mit Spannung wurde unter andem auch auf die finalen ...