
Geriatrische Aspekte in der Urologie – welche Instrumente sind hilfreich?
Autor:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Marcus Köller
Abteilung für Akutgeriatrie
Wiener Gesundheitsverbund
Klinik Favoriten, Wien
Das demografische Altern der Bevölkerung lässt auch in der Urologie die Fragestellung aufkommen, wie v.a. mit der steigenden Anzahl an geriatrischen Patienten zukünftig umgegangen werden muss. Einerseits stehen Ärzte vor der Herausforderung, den Grad an Gebrechlichkeit („frailty“) zu evaluieren, andererseits stellt sich die Frage, welche Maßnahmen vor Operationen von gebrechlichen und sarkopenen Patienten gesetzt werden können, um das Komplikationsrisiko gering zu halten.
Keypoints
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Der Anteil älterer Patienten mit geriatrischen Syndromen nimmt demografisch bedingt auch besonders in der Urologie zu.
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Gebrechlichkeit („frailty“) ist mit höherer Mortalität, vermehrten Komplikationen und insbesondere auch urologischen Problemen assoziiert.
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Die Erfassung und die Graduierung von „frailty“ sind insbesondere auch vor urologischen Interventionen sinnvoll, um entsprechend ein interdisziplinäres Vorgehen zu planen.
Demografie und Charakteristika des geriatrischen Patienten
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) markiert das Lebensalter zwischen 60 und 65 Jahren als den Übergang ins „Alter“. Circa 20% der Bevölkerung in Mitteleuropa fallen in diese Alterskategorie. In den nächsten 40 Jahren wird dieser Anteil auf 30% anwachsen und der Anteil der über 80-Jährigen sich dabei verdoppeln. Der geriatrische Patient zeichnet sich durch 3 wesentliche Merkmale aus:1
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höheres Lebensalter (über 70 Jahre)
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geriatrietypische Multimorbidität
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Gebrechlichkeit („frailty“)
Das, was der Volksmund als gebrechlich ansieht oder bezeichnet, hat auch durchaus seinen medizinischen Hintergrund. Fried et al. beschrieben erstmals vor 20 Jahren den Phänotyp von Gebrechlichkeit („frailty“). Diese Definition umfasst Menschen, die ungewollt Körpergewicht verlieren, eine langsame Gehgeschwindigkeit aufweisen, subjektiv rasch erschöpft und wenig körperlich aktiv sind und bei der Messung per Handkraft deutlich erniedrigte Werte zeigen. Beim Vorliegen von mindestens 3 dieser 5 Aspekte kann ein Patient als „frail“ bezeichnet werden.2
Gebrechlichkeit geht mit reduzierter Lebenserwartung einher, der Grad an „frailty“ bestimmt natürlich auch die statistische Überlebenskurve. Mittlerweile haben sich zahlreiche Scores und Skalen zur Graduierung der „frailty“ etabliert. In der klinischen Praxis hat sich beispielsweise die klinische „Frailty“-Skala nach Rockwood sehr gut bewährt, die auch in einer deutschen Version verfügbar ist.3, 4
10% der über 65-Jährigen sind als gebrechlich einzustufen, die Prävalenz nimmt aber mit steigendem Alter sprunghaft zu. Bei näherer Betrachtung verschiedener „Frailty“-Indizes ist zu erkennen, dass diese die Kernkomponenten der Kraft und Ausdauer umfassen, denen die sogenannte Sarkopenie, der altersbedingte Muskelmasseverlust, zugrunde liegt.
Sarkopenie
Ab dem 50. Lebensjahr beginnt unser Organismus stetig an Muskelmasse zu verlieren. Der Verlust pro Zeiteinheit nimmt mit steigendem Alter zu und ab dem 70. Lebensjahr verliert man ca. 15% an Muskelmasse pro Lebensdekade. Die Muskulatur ist jenes Organ, das unsere Funktionalität vorrangig bestimmt, insbesondere im Hinblick auf die Mobilität. 55% der Skelettmuskulatur sitzen in den Beinen, die Muskulatur enthält rund 50% des Gesamtkörpereiweißes. Sind es noch 10% der 65-Jährigen, die an Sarkopenie leiden, so steigt dieser Anteil bei den über 80-Jährigen auf mehr als die Hälfte der Personen.5 Die Genese der Sarkopenie ist multifaktoriell: Neben altersspezifischen degenerativen Veränderungen (Neuronenabbau, verringerte Durchblutung) und den hormonellen Umstellungen im Alter sind es vor allem Vitamin-D-Mangel, Eiweißmangel und chronische entzündliche Zustände, welche den Muskelmasseverlust vorantreiben. Die proinflammatorischen Zytokine Interleukin 6 und Tumor-Nekrose-Faktor α (TNF-α) gelten hier als Haupttrigger, die den Muskelabbau vorantreiben. Letztlich führt der Abbau an Muskelmasse zum Verlust von Kraft und Funktionalität. Dem Konsensus der europäischen Arbeitsgruppe für Sarkopenie folgend wurde ein Fragebogen – der SARC-F – entwickelt, um Sarkopenie rechtzeitig zu erkennen und entsprechende Maßnahmen einzuleiten. Die Hauptsäule dabei ist der Muskelaufbau durch Training, und hier stellt klassisches Krafttraining nach wie vor die effektivste Form dar. Muskelaufbau kann aber nur erfolgen, wenn der Eiweißbedarf entsprechend gedeckt wird. Die Empfehlung für ältere Personen liegt bei täglich 1,0 bis 1,2g Protein pro Kilogramm Körpergewicht. Bei Krankheit kann sich dieser tägliche Bedarf auf 1,5g pro Kilogramm Körpergewicht erhöhen.6 Daneben ist auch eine adäquate Vitamin-D-Substitution unerlässlich, Vitamin D vermindert nicht nur das Risiko für Frakturen, sondern auch jenes für Stürze um bis zu 20%. Kraft und Funktionalität werden durch Vitamin-D-Substitution ebenso verbessert.7
Urologische Aspekte von Gebrechlichkeit und Sarkopenie
Eine retrospektive Studie mit rund 150 Patienten, die an einer urologischen Abteilung aufgenommen wurden, zeigte klar, dass der stärkste Vorhersagewert für die 1-Jahres-Sterblichkeit die Kategorisierung nach dem Grad der „frailty“ war.8 Eine rezente große Studie mit mehr als 50 000 Frauen ergab ebenso eindeutig, dass nach einer Schlingenoperation die postoperativen Komplikationen sowie Infekte innerhalb der ersten 30 Tage deutlich mit dem Ausmaß der Gebrechlichkeit korrelierten.9 Eine Untersuchung an mehr als 500 Patienten mit Blasenüberaktivität zeigte, dass diese mehr mit dem Grad der Gebrechlichkeit und weniger mit dem Alter assoziiert ist.10 Rezidivierende Harnwegsinfekte treten im Alter häufiger bei gebrechlichen Patienten auf.11 Die Wahrscheinlichkeit von postoperativen Komplikationen wird ebenso vom Ausmaß der „frailty“ bestimmt. Daher empfehlen schon viele Autoren und auch urologische Fachgesellschaften, entsprechende Assessments mit älteren Patienten durchzuführen, um Gebrechlichkeit und Funktionalität im physischen und psychischen Bereich zu erfassen. Als einfaches Screening-Werkzeug haben sich in der urologischen Fachliteratur beispielsweise der sogenannte „5-item-Frailty-Index“ (5-iFI) oder aber auch der sogenannte G8-Fragebogen („Geriatric 8 screening tool“) sehr bewährt.12, 13 Letzterer umfasst körperliches Assessment (Komorbiditäten, Polypharmazie, Ernährungsstatus) wie auch funktionelle Aspekte und neurokognitive Kapazität (Tab. 1) Bei einem Score ≤14 ist eine nähere interdisziplinäre geriatrische Evaluierung sinnvoll.13 Im 5-iFI werden neben der Pflegebedürftigkeit 4 Komorbiditäten erfasst (Tab. 2).14 Bei einem zunehmenden Patientenkollektiv höheren Alters werden wir letztlich in vielen Fachbereichen – chirurgisch wie auch konservativ – immer mehr die geriatrischen Aspekte und Komponenten erfassen und in unserem therapeutischen Planen und Handeln berücksichtigen müssen. Bei entsprechenden älteren Risikopatienten sind eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und auch geriatrische Evaluierung und Vorbereitung vor operativen Eingriffen nicht nur empfehlenswert, sondern auch als erforderlich zu betrachten.
Literatur:
1 Sieber CC: The elderly patient-who is that? Internist 2007; 48(11): 1190, 1192-4 2 Fried LP et al.: Frailty in older adults: evidence for a phenotype. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2001; 56(3): 146-56 3 Rockwood K et al.: A global clinical measure of fitness and frailty in elderly people. CMAJ 2005; 173(5): 489-95 4 Deutsche Gesellschaft für Geriatrie e.V.: Klinische Frailty Skala. https://www.dggeriatrie.de/images/Bilder/PosterDownload/200331_DGG_Plakat_A4_Clinical_Frailty_Scale_CFS.pdf ; zuletzt aufgerufen am 1.9.2022 5 von Haehling S et al.: An overview of sarcopenia: facts and numbers on prevalence and clinical impact. J Cachexia Sarcopenia Muscle 2010; 1(2): 129-33 6 Köller M: Sarcopenia-a geriatric pandemic: a narrative review. Wien Med Wochenschr 2022; doi: 10.1007/s10354-022-00927-0 7 Bischoff-Ferrari HA et al.: Effects of vitamin D, omega-3 fatty acids, and a simple home strength exercise program on fall prevention: the DO-HEALTH randomized clinical trial. Am J Clin Nutr 2022; 115(5): 1311-21 8 Eredics K et al.: The future of urology: nonagenarians admitted to a urological ward. World J Urol 2021; 39(9): 3671-6 9 Van Kuiken ME et al.: Frailty is associated with an increased risk of complications and need for repeat procedures after sling surgery in older adults. J Urol 2022; 207(6): 1276-84 10 Song S et al.: The association between frailty and detrusor overactivity in older adults. Neurourol Urodyn 2020; 39(5): 1584-91 11 Tang M et al.: Recurrent urinary tract infections are associated with frailty in older adults. Urology 2019; 123: 24-7 12 Shahait M et al.: A 5-item frailty index for predicting morbidity and mortality after radical prostatectomy: an analysis of the American College of Surgeons National Surgical Quality Improvement Program Database. J Endourol 2021; 35(4): 483-9 13 Rassam Y et al.: [The G8 questionnaire as a geriatric screening tool in urooncology]. Aktuelle Urol 2020; 51(1): 36-41 14 Subramaniam S et al.: New 5-factor modified frailty index using American College of Surgeons NSQIP data. J Am Coll Surg 2018; 226(2): 173-81