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Einige Bemerkungen zu Johann Lucas Schönlein (1793–1864)
Urologik
Autor:
Univ.-Doz. Dr. Peter Paul Figdor
Archivar der ÖGU<br> Urologisches Archiv Wien<br> E-Mail: ppfigdor.uroarchiv@gmx.at
30
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18.05.2017
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<p class="article-intro">Nachdem wir im letzten Heft einiges von Schönleins Werdegang erfahren haben, wollen wir uns nun mit einigen wichtigen Begegnungen befassen, die er machte. Wir lernen Personen kennen, die ihn beeinflusst haben oder die von seiner Arbeit beeinflusst worden sind.</p>
<hr />
<p class="article-content"><p>Die erste Frage, die sich stellt, ist: In welcher medizinischen Zeitspanne arbeitete Schönlein? Wenn wir uns an die „Gedächtnisrede von Virchow auf seinen Lehrer Schönlein“ (vom 23. Jänner 1865) halten, scheint es uns sicher, dass es sich bei der „Schönlein’schen Zeitspanne“ auch um die „moderne, kausale Medizin“ handelt. Hören wir noch einmal Virchow: <em>„1811 bezog Schönlein die Universität Landshut; diese war damals eine der frischesten Universitäten in Deutschland; in allen Facultäten lehrten berühmte Männer; die medizinische namentlich stand mitten in der Bewegung. Man kämpfte um die Grundlage der Wissenschaft, nicht bloss um die Prinzipien der Doctrin von Leben und Krankheit, sondern sogar um die Methode. Es war der Wendepunkt zwischen alter (der classischen Medizin, mehr als zweitausend Jahre alt!) oder (und) der neuen Medizin in Deutschland gekommen; es sollte sich entscheiden, ob Medizin durch Beobachtung oder durch Spekulation, ob sie naturwissenschaftlich oder philosophisch aufzubauen sei. – Lassen Sie uns bei diesen für alle Zeit Epoche machenden Vorgängen einen Augenblick verweilen.“</em><br /> Es geht um die Streitigkeiten des Animalisten Georg Ernst Stahl (1659–1734), der zum Leben eine Seele brauchte, mit dem ruhigen, klinisch beobachtenden Friedrich Hoffmann (1660–1742), den Boerhaave (1668–1738), der große Meister in Leiden in den Niederlanden, so unterstützte. Man sprach damals auch viel von Andreas Roeschlaub (1768–1835), Arzt und Pathologe zunächst in Bamberg, dann in Landshut und schließlich in München, der einer der wichtigsten Brownerianer in Deutschland war. Der Brownianismus, eine medizinische Reformbewegung basierend auf dem neurophysiologischen Körper- und Krankheitskonzept des schottischen Arztes John Brown (1735–1788), hatte in Deutschland gut Fuß gefasst. So schreibt Virchow: <em>„Aber in Landshut fand Roeschlaub seine Meister. Da war Tiedemann, der große vergleichende Anatom, nachmals so berühmt als experimentirender Physiolog; da war vor Allen Baron Philipp Franz von Walther (1782–1849). Sein Einfluss auf Deutschland ward entscheidend. Durch seine beiden berühmteren Schüler: in Landshut Schönlein und ein Decennium später in Bonn Johannes Müller, ist er der Urheber der Wissenschaft geworden. Er ist es, der von der Medizin verlangte, dass sie Naturwissenschaft werde; er hat die Forderung aufgestellt, dass sie alle Hülfsmittel der objectiven Beobachtung heranziehe. ‚Die Medicin kann‘, sagte er, ‚wahre Fortschritte nur dadurch machen, dass sie ganze Physik, Chemie und alle Naturwissenschaft auf sie anwendet.“</em> Hier übertreibt der Autor, denn der wissenschaftliche Fortschritt verlief damals so rasant, dass es ausreichte, nur die jeweils modernsten Methoden anzuwenden.</p> <h2>Die „moderne, kausale Medizin“ in Deutschland</h2> <p>Nachdem jetzt in Deutschland bereits die „moderne, kausale Medizin“ erreicht war, interessierten natürlich andere Erklärungen bezüglich der Entstehung von Krankheiten nicht mehr. Das Gleiche gilt für die Suche nach weiteren Therapieverfahren, nachdem man in der relativ kurzen Zeit von zwei- bis dreihundert Jahren so großen Erfolg hatte verglichen mit mehr als zweitausend Jahren klassischer Therapie. Und so begreife ich auch nicht, warum in der „modernen, kausalen Medizin“ Therapeuten immer wieder darauf hinweisen, dass sie sicher nicht beispielsweise auf Hippokrates verzichten werden. Auch ich verehre Hippokrates für das, was er unter sicher schwierigen Bedingungen für uns sammeln konnte. Unser Wissen in der heutigen Medizin ist wesentlich größer und wir haben Medikamente, die glücklicherweise ganz spezifisch auf erkrankte Zellen oder sogar nur auf spezielle Teile einer Zelle wirken. Dies ist eine Situation, von der Thomas Sydenham (1624–1689) nur träumen konnte!<br /> Wie Deutschland in die „moderne, kausale Medizin“ eingestiegen ist, ist von Virchow sehr schön dargestellt worden. Es stellt vielleicht auch klar, wieso Schönlein vieles durch seine bessere Diagnostik oder vielleicht das genauere Beobachten von Veränderungen am menschlichen Körper erkannte. Dazu gehören etwa Ikterus bei Lebererkrankungen, Blaufärbung an den Enden der Extremitäten oder des Gesichts durch Sauerstoffmangel oder Extrasystolen bei Herzkrankheiten. Die Obduktion hingegen ist für den Kliniker nicht direkt von Bedeutung, denn sein Ziel muss die Rettung des Patienten sein und nicht nur die genauere Diagnose durch die Obduktion. So haben die frühen Meister der „modernen, kausalen Medizin“ mit dem reichen Sammeln von Krankengeschichten versucht, auch ohne Obduktion zu einigermaßen exakten Diagnosen beim Patienten zu gelangen. Offensichtlich erwarb Schönlein relativ rasch auf diese Weise große Erfahrung in der Diagnose und dem Erkennen des Krankheitsstatus (wie weit die Erkrankung bereits fortgeschritten war). Ihm lag viel daran, diese Kunst auch an seine Studenten weiterzugeben. Wie wir von Virchow erfahren haben, war man damals bezüglich des Erlernens der „modernen, kausalen Medizin“ an der Universität in Landshut auf einem sehr guten Weg.<br /> 1813 wechselte Schönlein von Landshut ins Juliusspital nach Würzburg, eines der größten Spitäler in Deutschland, wo Carl Caspar von Siebold Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe lehrte. Für Letztere interessierte sich besonders sein jüngster Sohn Adam Elias, der deshalb auch 1800 Lukas Johann Boer in der Josephinischen Akademie in Wien besuchte. Adam Elias wurde 1805 ordentlicher Professor für Geburtsheilkunde in Würzburg und 1817 wurde er nach Berlin berufen. Dort sollte er eine geburtshilfliche Poliklinik und eine Klinik für Frauen einrichten. Als Urologe muss ich auch deshalb den jüngsten Sohn von Caspar von Siebold erwähnen, weil dieser einer der wenigen war, der die Verwendung des ersten Endoskops (des Bozzini’schen Lichtleiters) für die Geburtsheilkunde empfahl. Er ging damit einen neuen Weg, auf den man nicht mehr verzichten kann.<br /> Zusammenfassend könnte man sagen, dass Deutschland in Europa die „moderne, kausale Medizin“ relativ spät einführte. Für Schönlein war es von Vorteil, dass er von der Universität in Landshut kam, die (nach Virchow) eine der Wiegen der „modernen, kausalen Medizin“ in Deutschland war.<br /> Derzeit nimmt man beispielsweise an, dass der Beginn der Bakteriologie bereits in den 1850er-Jahren festzulegen ist. 1867 veröffentlichte Joseph Lister (1827– 1912) die Behandlungsergebnisse bei der Anwendung seiner antiseptischen Wundbehandlung, und seit 1891 gibt es das Institut für Infektionskrankheiten, das später „Robert-Koch-Institut“ hieß. Man sieht, wie erfolgreich die „neue Medizin“ (nach Virchow) war und wie rasch man bereits damit behandeln und arbeiten konnte.</p> <h2>Die Begegnung mit Franz Unger</h2> <p>Eine weitere wichtige Begegnung mit Schönlein steht in Zusammenhang mit Professor Franz Unger (1800–1870), der 1840 einen „offenen Brief“ mit dem Titel „Beiträge zur vergleichenden Pathologie“ (in Form eines Buches oder „Sendeschreibens“) an Schönlein schickte. Unger stammte aus der Steiermark und war Professor für Botanik in Graz und Wien. Der Pathologe und Botaniker war in ganz Europa sehr angesehen und kannte aufgrund wissenschaftlicher Reisen viele Botaniker. Er selbst blieb jedoch immer in Österreich. Zunächst wirkte er in Graz, wo er ab 1830 in seinem Garten so etwas wie eine „Pflanzen-Klinik“ betrieb. Mehrmals wollte er die dortige Universität verlassen, doch diese bemühte sich jedes Mal, ihn durch eine Erhöhung des Gehalts in der Steiermark zu halten. Als aber 1847 die Akademie der Wissenschaften in Wien geschaffen wurde, gehörte Unger selbstverständlich zu den Erstberufenen.<br /> Er wandte sich schon damals gegen Tierversuche und riet – unter anderem Schönlein – dazu, mit erkrankten Pflanzen zu arbeiten, da die Pflanzenkörper größer, einfacher und übersichtlicher gebaut waren als tierische. Als er den „offenen (jedem zugänglichen) Brief“ schrieb, hatte Unger bereits zehn Jahre mit erkrankten Pflanzen gearbeitet. Und weil er diese Präparate auch mikroskopisch untersuchte, bedeutet dies, dass Unger histologische Untersuchungen an erkrankten Pflanzenzellen bereits um 1830 in Graz machte – lange vor Virchows Tätigkeit in Berlin.</p> <h2>Europa entdeckt „die Zellen“</h2> <p>Das Thema „Zellen“ wurde zu dieser Zeit in Europa ausgiebig behandelt. Man glaubte, dass alle Zellen recht ähnlich gebaut und die Mutterzellen so ausgestattet seien, dass sie ihre Eigenschaften den Tochterzellen weitergeben können. Unger durfte daher annehmen, dass die Unterschiede der Zellen von Pflanzen und menschlichen Körpern nicht sehr groß waren.<br /> Erinnern wir uns an die Arbeiten der beiden deutschen Wissenschaftler Theodor Ambrose Schwann (1810–1882) und Matthias Jacob Schleiden (1804–1881). Sie kannten einander, waren Freunde und beschäftigten sich mit der gleichen Thematik, nämlich mit den Zellen. Aus dem <em>„Fachlexikon abc: Forscher und Erfinder“</em> erfahren wir von dem 1842 erschienenen wichtigen Buch <em>„Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik nebst einer methodologischen Einleitung als Anleitung zum Studium der Pflanze“</em> von Schleiden (Erster Theil: Methodologische Einleitung. Vegetabilische Stofflehre. Die Lehre von der Pflanzenzelle, Leipzig, Verlag Wilhelm Engelmann, 1842). Es beschrieb die fortgeschrittene Entwicklungslehre, wie aus ganz einfachem Gewebe Organe oder funktionell ganz spezifische Gewebe entstehen. Schwann und Schleiden, beide Mediziner und Naturwissenschaftler, beschäftigten sich sehr eingehend mit den Zellen, den Bausteinen der Pflanzen (Schleiden) und der Tiere (Schwann). Der Begriff „Zelle“ stammt von Robert Hooke, dem sogenannten Kurator der Experimente der damals noch jungen Royal Society in London. Hooke baute selbst Mikroskope und schrieb im Auftrag der Society das erste Buch über die Mikroskopie, die „Micrographia“. Bei seinen Studien fand er unter dem Mikroskop in der Rinde von Korkeichen die kleinen Räume, in denen die Zellen „wohnten“. Er erfand viel Technisches, unter anderem für die Flotte Englands. Und er half auch Newton beim Ausarbeiten der Gravitationstheorie. Newton soll Hooke und andere Helfer in seinen damaligen „Principia“ erwähnt haben. In den späteren Ausgaben wurden alle diese Namen aus seinem Werk entfernt.<br /> In der nächsten Ausgabe der <em>Urologik</em> werden wir uns näher mit Franz Unger und seinem Wirken, aber auch seinem – möglicherweise gewaltsamen – Tod befassen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1702_Weblinks_urologik_uro_1702_foto-j.schoen.jpg" alt="" width="723" height="808" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1702_Weblinks_urologik_uro_1702_foto-f.unger.jpg" alt="" width="723" height="808" /></p> <p><em>Wegen des großen Umfangs des zur Verfügung stehenden Materials konnten hier nur Auszüge wiedergegeben werden. Wer mehr erfahren möchte, kann sich direkt an den Autor wenden.</em></p></p>
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<p>beim Verfasser</p>
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