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Ein Plädoyer für die Vorhaut
Urologik
Autor:
Prim. Univ.-Doz. Dr. Michael Rauchenwald
Vorstand der Abteilung für Urologie und Andrologie, Donauspital, Wien
30
Min. Lesezeit
15.05.2005
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<p class="article-intro">Etwa jeder sechste Mann weltweit ist zirkumzidiert. Auch in Österreich ist die Operation bei Phimose/Paraphimose mit fast 9.400 Eingriffen pro Jahr wahrscheinlich die häufigste chirurgische Intervention. 70 % der Eingriffe finden vor dem 19. Lebensjahr statt, fast ein Drittel in den ersten 4 Lebensjahren. Zieht man die knapp 40.000 männlichen Geburten pro Jahr in Betracht, so ergibt sich eine Rate von Vorhautoperationen von etwa 7 % in den ersten 4 und etwa 13 % innerhalb der ersten 9 Lebensjahre.</p>
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<p class="article-content"><p>Diese Zahlen erscheinen als eindeutig zu viel. Trotzdem wird die Indikation meist nur wenig hinterfragt, der Eingriff selbst wird häufig als banale Operation abgetan und dem chirurgischen „Schüler“ überlassen. Eine fehlerhaft durchgeführte radikale Zirkumzision hat jedoch mitunter lebenslange funktionelle, kosmetische und psychosoziale Folgen für den jeweils betroffenen Patienten.</p> <h2>Die Seife ist oft sinnvoller als das Skalpell</h2> <p>Weltweit wird die Beschneidung aus medizinischen, religiösen und sozial-kulturellen Gründen durchgeführt, wobei die Häufigkeit regional sehr unterschiedlich ist. Besonders in den USA gibt es eine immer stärkere Diskussion um die nach wie vor bei etwa 65 % der Neugeborenen durchgeführte Routinezirkumzision.<br /> Die Befürworter argumentieren mit einer niedrigeren Rate an frühkindlichen Harnwegsinfektionen, einer geringeren Gefahr der Übertragung von Geschlechtskrankheiten und einem niedrigeren Peniskarzinomrisiko. Der Literatur zu diesem Thema entsprechend müssten 100–400 Neugeborene zirkumzidiert werden, um einen Harnwegsinfekt im Säuglingsalter verhindern zu können. Die Inzidenz des Peniskarzinoms ist insgesamt so niedrig, dass diesbezügliche Zahlen noch viel drastischer ausfallen würden. Zum Risiko der Übertragung von sexuell übertragbaren Krankheiten gibt es sehr widersprüchliche Meinungen. Die Devise kann also nur lauten: Waschen statt amputieren.</p> <h2>Möglicherweise besserer Sex ohne Eingriff</h2> <p>Die anatomische Struktur des Präputiums ist bei Primaten seit etwa 65 Millionen Jahren vorhanden. Es ist also nicht anzunehmen, dass die Natur diese mukokutane Struktur sinnlos und ohne funktionellen Nutzen geschaffen hat. Die menschliche Vorhaut ist in ihrem Aufbau einzigartig. Sie weist fünf Gewebsschichten mit einer ausgesprochen hohen Dichte an Nervenzellen auf und hat eine spezielle Funktion im Fortpflanzungsprozess.<br /> Im Rahmen der derzeitigen sehr lebhaften Diskussion um die Sexualität und die positive Beeinflussung derselben durch Hormone und erektionsfördernde Mittel sollten auch Überlegungen zur Funktionalität der beteiligten anatomischen Strukturen angestellt werden. Die Vorhaut ermöglicht einen speziellen Gleitmechanismus im Rahmen des Geschlechtsverkehrs. Bei einer Zirkumzision werden 30–50 % der Penishaut entfernt. Dadurch kommt es bei der Erektion zu einer Spannung der Penishaut und bei vaginaler Penetration zu einer erhöhten Reibung an der Scheidenwand. Dies kann, wie Untersuchungen zeigen, zu unangenehmen Sensationen bei beiden Sexualpartnern führen.<br /> Der Gleitmechanismus der Vorhaut, insbesondere die Konstruktion des Frenulums und dessen Verbindung mit der restlichen Präputialhaut sorgen für wichtige erogene Stimuli während des Koitus, vor allem aber im Rahmen des Vorspiels. Bei beschnittenen Männern kommt es zu einer verstärkten Keratinisierung der Glans und dadurch mitunter zu einer verminderten Sensibilität, welche wiederum Einfluss auf die geübten Sexualpraktiken haben kann. Diese Erkenntnisse erscheinen mir als wichtiges Argument für eine Vorhauterhaltung bei Therapie einer Phimose.</p> <h2>Oft lösen sich Probleme bis zum Ende der Pubertät</h2> <p>Der Begriff Phimose wird im klinischen Alltag sehr großzügig verwendet. Man muss zwischen der physiologischen und der pathologischen Phimose unterscheiden. Eine physiologische Phimose, welche besser als nicht retrahierbare Vorhaut bezeichnet wird, findet sich laut Gairdner (1949) bei 96 % der Neugeborenen. Bei 42 % konnte nicht einmal die Spitze der Glans eingesehen werden. Nach 6 Monaten war die Vorhaut bei 80 % weiterhin nicht zurückziehbar, nach 1 Jahr bei 50 % und nach 3 Jahren nur mehr bei 10 % . Eine longitudinale Beobachtung von Øster (1968) an fast 2.000 männlichen Schülern im Alter zwischen 6–17 Jahren zeigte eine spontane kontinuierliche Resolution der Phimose auf 6 % mit 10–11 bzw. auf 3 % mit 12–13 Jahren. Im Alter von 17 Jahren fand sich eine verengte Vorhaut nur mehr bei 1 % der jungen Männer.</p> <p>Auch die Lösung der Synechien zwischen Vorhaut und Glans ist ein kontinuierlicher physiologischer Prozess mit weitgehend vollständiger Resolution bis zum Ende der Pubertät. Frühzeitige gewaltsame Versuche die Vorhaut zu mobilisieren führen zu Verletzungen und reaktiven Vernarbungsprozessen und in weiterer Folge zu einer pathologischen Phimose. Das klinische Bild einer physiologischen Phimose beim vorsichtigen Versuch einer Retraktion könnte man mit dem Öffnen einer Blume („flowering“) vergleichen, während eine pathologische Phimose als weißlich-narbiger, starrer enger Ring imponiert. Letzteres wäre eine Indikation für eine Zirkumzision im Sinne einer Resektion des veränderten Hautanteiles. Absolute Indikationen für eine Vorhautresektion sind die Balanitis xerotica obliterans, welche in 0,8–1,5 % , und die rezidivierende Balanoposthitis, welche in etwa 1 % der Knaben beobachtet werden kann. Somit ergibt sich für etwa 2–4 % eine tatsächliche Operationsindikation. Die Ballonierung der Vorhaut im Rahmen der Miktion ohne Schmerzen und ohne begleitende Pathologie des Harntraktes ist keine Indikation zur Zirkumzision.</p> <h2>Primär konservativer therapeutischer Ansatz</h2> <p>Deshalb muss in Erinnerung gerufen werden, dass eine enge Vorhautöffnung bis zum Ende des 3. Lebensjahres absolut normal ist und sich die Indikation für ein therapeutisches Prozedere, abgesehen von den vorgenannten Indikationen, erst bei bestehender Enge ab dem 6. Lebensjahr ergibt. Hier wiederum sollte der erste therapeutische Schritt ein konservativer Behandlungsversuch mit einer Kortison- oder Hormonsalbe darstellen. Die Erfolgsraten liegen nach eigenen Erfahrungen und der Literatur entsprechend bei etwa 80 % .</p> <p>Bei gegebener Operationsindikation muss den Eltern neben der radikalen Zirkumzision je nach Situs auch eine geeignete vorhauterhaltende Technik in Form einer Vorhautplastik (z.B. nach Föderl, 1908; Abb. 1+2) oder einer Tripelinzision (Fischer-Klein, 2003; Abb. 3), welche ausgezeichnete und, wie wir nachweisen konnten, zufrieden stellende funktionelle und kosmetische Ergebnisse liefern, angeboten werden. Die männliche Vorhaut muss als integrierender normaler Bestandteil des äußeren Genitales betrachtet und respektiert werden. Sie gehört zur Glans wie das Lid www.universimed.com 38 zum Auge. Es kann nicht sein, dass im Zeitalter der minimalinvasiven Chirurgie und der organerhaltenden Operationstechniken in der Onkologie ein gesunder oder nur teilweise erkrankter Körperteil meist ohne direkte Zustimmung des Betroffenen einfach entfernt wird.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_uro_05_2005_abb1+2_vorhaut_rauchenwald.jpg" alt="" width="352" height="611" /></p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Urologik_Uro_1701_Weblinks_uro_05_2005_abb3_vorhaut_rauchenwald.jpg" alt="" width="541" height="284" /></p> <h2>Der Psychologie breiteren Raum geben</h2> <p>Im Rahmen des chirurgischen Managements von Kindern wird psychologischen Aspekten im Hinblick auf mögliche Traumatisierungen viel Diskussion und Aufmerksamkeit gewidmet.<br /> Diese kritische Einstellung sollte auch für die nur scheinbar banale und oft nicht einmal als Krankheit zu bezeichnende Erscheinung der Phimose und deren Behandlungsmodalitäten gelten.</p></p>