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Präzisionschirurgie – auf dem Weg von der Forschung in die Praxis

„Die Grenzen des Tumors erkennbar machen“

Präzisionschirurgie soll unter anderem dafür sorgen, dass die Grenzen von Tumoren im Rahmen von Operationen in Echtzeit erkannt und daraus klinische Schlüsse gezogen werden können. Welche der beforschten Verfahren sind aber tatsächlich auf dem Weg in die Klinik? Dazu sprachen wir im Rahmen des Central European Urology Meetings 2022 mit Prof. Dr. med. Dr. h.c. Arnulf Stenzl, dem Ärztlichen Direktor der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Tübingen.

Herr Professor Stenzl, was versteht man in der Urologie unter Präzisionschirurgie?

A. Stenzl: Man versucht, bei chirurgischen Eingriffen immer genauer zu werden. Die Urologie hat einen konservativen und einen chirurgischen Aspekt, wobei die Chirurgie, etwa in der Tumorchirurgie, durchaus extensiv sein kann. Präzision bedeutet auf der einen Seite, dass man in der Tumorchirurgie versucht, den Tumor wirklich restlos zu entfernen und damit kurative Ziele zu erreichen. Man muss also möglichst präzise zwischen Tumor und gesundem Gewebe unterscheiden können. Andererseits geht es aber auch darum, möglichst wenig Schaden anzurichten, also möglichst genau zwischen Bindegewebe und beispielsweise Nerven zu differenzieren. Also im Gesunden operieren und dabei Lebensqualität erhalten.

Welche Möglichkeiten hat man derzeit, während einer Operation zu erkennen, ob man sich in gesundem Gewebe bewegt?

A. Stenzl: Das Einzige, was wir aktuell haben, ist der Schnellschnitt. Diesen kann man natürlich nicht jede Minute machen. Man bekommt also keine Information in Echtzeit, sondern entnimmt das Gewebe und erhält einen Befund in einer halben Stunde – wenn alles gut geht. Was wir aber brauchen, ist Real-Time-Information.

Und wie soll diese Situation verbessert werden?

A. Stenzl: Wir haben, gemeinsam mit der Technischen Universität Stuttgart, innerhalb der deutschen Forschungsgemeinschaft das einzige geförderte Graduiertenkolleg im Fachgebiet der Urologie. Das heißt, über viereinhalb Jahre sind alle Dissertationen auf ein bestimmtes Thema hin ausgerichtet – nämlich Gewebeinformationen bei minimal invasiven onkologischen Operationen. Dabei arbeiten Urologie und Ingenieurswissenschaften eng zusammen. Die Vision dahinter ist, dass wir während der Operation und unabhängig von der Bildgebung die Präzision des entfernten Gewebes verbessern möchten.

Und wie soll das gelingen?

A. Stenzl: Es geht darum, über Eigenschaften des Gewebes in Echtzeit Information zu generieren. Das können mechanische, optische oder auch elektrische Eigenschaften sein. An mechanischen Eigenschaften eignet sich zum Beispiel die Elastizität. Diese Informationen müssen dreidimensional verortet werden, damit man sie in der Klinik nützen kann.

Das heißt, man will die Grenzen des Tumors sichtbar machen?

A. Stenzl: Erkennbar machen. Dazu müssen die Grenzen nicht unbedingt sichtbar sein. Die Raman-Spektroskopie zum Beispiel macht nichts sichtbar, aber sie liefert eine Kurve, aus der man Schlüsse ziehen kann – und zwar noch im OP. Optische Informationen erhält man mit optischen Methoden, wie der optischen Kohärenztomografie oder der Infrarotspektroskopie. Dabei geht es insgesamt um optische Information und nicht nur um Informationen über die Oberfläche, sondern auch um Informationen über tiefer liegende Schichten. Die Elastografie ist heute schon so weit, dass die mechanischen Eigenschaften einzelner Zellen bestimmt werden können, indem man diese Zellen durch immer kleiner werdende Pipetten schickt und dabei den Druck misst, den man benötigt, um die Zelle durch das enge Rohr zu zwängen.

Wird diese Information im Patienten gewonnen oder an entnommenen Proben?

A. Stenzl: Sowohl als auch. Die Information im Patienten zu generieren, wäre natürlich wünschenswert, aber das ist schwierig. Die Zell-Elastografie wird an der entnommenen Probe durchgeführt. Es gibt aber auch elastografische Messungen in situ. Dabei geht man mit einem Sensor in das Gewebe, übt dort mit einem Wasserstrahl einen definierten Druck aus und misst die Reaktion des Gewebes bzw. wie tief der Druck in das Gewebe geht. Um die Daten interpretieren zu können, muss man natürlich die dreidimensionale Lage des Sensors genau kennen. Bei allen diesen Methoden muss man allerdings dazusagen, dass es noch dauern wird, bis man genug Daten hat, und es wird Zeit brauchen, bis diese Daten auch validiert sind, um damit in die Klinik gehen zu können. Bei aller Freude an der Innovation muss man auch bei den Erwartungen realistisch und bescheiden bleiben. Das ist kein Sprint, sondern ein Marathon.

Wie nahe ist man mit diesen Verfahren an der Klinik?

A. Stenzl: Das ist ganz unterschiedlich. Die Raman-Spektroskopie wurde schon im Jahr 1929 mit dem Nobelpreis belohnt und es gibt immer noch viele technische Probleme zu lösen. Bei dieser Methode werden Materialien mit einem Laser bestrahlt und aus dem Spektrum des an der Probe gestreuten Lichtes Schlüsse auf die Eigenschaften des Materials gezogen. Dazu waren noch bis vor relativ kurzer Zeit riesige Geräte erforderlich. Mittlerweile passen diese Geräte schon in den OP und die Informationen, die man über Zellen bekommen kann, sind sehr aussagekräftig. Bis zu einem klinischen Einsatz ist allerdings noch viel Arbeit zu leisten. In der optischen Kohärenztomografie und der Infrarotspektroskopie sind wir deutlich weiter. In der optischen Kohärenztomografie arbeiten wir bereits mit einem Gerät, das im Rahmen eines EU-Projekts zur Zulassung gebracht werden soll.

Und was sehen Sie mit diesem Gerät?

A. Stenzl: Histologische Strukturen in der Tiefe. In der Praxis sieht man viele Graustufen, die man auch zu deuten lernen muss.

Arbeiten Sie damit auch schon klinisch?

A. Stenzl: Nein, klinisch noch nicht.

Das heißt, die wesentliche Indikation für die Präzisionschirurgie wird die Tumorchirurgie sein …

A. Stenzl:Ja, aber es wird nicht nur die Tumorchirurgie sein. Man kann zum Beispiel die Farbe des Funkenschlags bei der Koagulation nutzen, um Rückschlüsse auf das Gewebe zu ziehen. Das kann auch bei nicht onkologischen Operationen von Bedeutung sein. Wichtig dabei ist, dass man das Gewebe um die Nerven erkennt. Denn wenn man den Nerv schon beschädigt hat, ist es zu spät. Ideal wäre es, einen Sensor zu haben, der dem Operateur während der Operation mitteilt, wo man nicht hineinschneiden sollte.

Welche Eigenschaften des Gewebes sind denn für die unterschiedliche Färbung des Funkens verantwortlich?

A. Stenzl:Der Widerstand, der vom Flüssigkeitsgehalt und damit vom Zellgehalt abhängig ist, und indirekt die Elastizität. Um diese Methoden einsetzen zu können, benötigt man natürlich zunächst eine Datenbank. Dazu braucht es die Zusammenarbeit mit Pathologen und Informatikern. Anhand dieser Datenbank kann man dann Gewebeigenschaften mit Messergebnissen korrelieren. Daran arbeiten wir gemeinsam mit einer Tübinger Firma.

Wird so viel Technik dann nicht irgendwann unüberblickbar?

A. Stenzl: Diese Entwicklung führt natürlich dazu, dass man während eines Eingriffs häufig die Instrumente wechseln muss, was die Komplexität erhöht. Daher ist eine weitere Entwicklung die Zusammenlegung mehrerer Funktionen in einem Instrument. Also zum Bespiel Scheren, die auch koagulieren können. Diese gibt es bereits. Oder ganz einfach: der Sauger, der zugleich beleuchten kann. Solche Geräte erleichtern die praktische Arbeit ungemein.

Alle diese Methoden liefern doch zum Teil recht abstrakte Daten. Müssen Sie sich direkt an diesen Daten orientieren, oder gibt es bereits Software, die daraus dreidimensionale Simulationen macht?

A. Stenzl: So weit sind wir noch nicht. Man sieht sich aber auch ein CT in der Regel zweidimensional an. Es gibt 3D-Simulationen, aber das sind Spielereien, die in der Klinik eine sehr untergeordnete Rolle spielen. Aus den zweidimensionalen Bildern entsteht dann das dreidimensionale Bild im Kopf des Operateurs. Das erfordert natürlich Erfahrung und Training.

Vielen Dank für das Gespräch und die spannenden Einblicke!

Central European Urology Meeting 2022 (CEM22), 1. – 2. April 2022, Wien

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