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Bedeutung und Qualität der Harnsteinanalyse in Europa
Leading Opinions
Autor:
Prof. Dr. Roswitha Siener
Universitäres Steinzentrum<br> Klinik und Poliklinik für Urologie, Universität Bonn<br> E-Mail: Roswitha.Siener@ukbonn.de
30
Min. Lesezeit
04.05.2017
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<p class="article-intro">In den vergangenen Jahrzehnten stieg die Häufigkeit des Harnsteinleidens in den Industrieländern deutlich an. Nach einer repräsentativen Erhebung liegt die Prävalenz der Urolithiasis in Deutschland derzeit bei 5 % und die jährliche Inzidenz bei 1,5 % , sodass mit circa 1,2 Millionen Behandlungsfällen pro Jahr gerechnet werden muss.<sup>1</sup></p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Keypoints</h2> <ul> <li>Die Zusammensetzung des Harnsteins ist die Grundlage der metabolischen Diagnostik und steinartspezifischen Rezidivprävention.</li> <li>Nur Infrarotspektroskopie und Röntgendiffraktion genügen den Anfor­derungen an eine exakte Harnstein­analyse.</li> <li>Zur Qualitätskontrolle der Harnsteinanalyse ist die Teilnahme der Laboratorien an regelmässigen Ringversuchen unerlässlich.</li> </ul> </div> <p>Je nach Steinart beträgt die Rezidivrate bis zu 50 % .<sup>1–3</sup> Gemäss den Leitlinien zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis sollte prinzipiell bei jedem Harnsteinpatienten eine Steinanalyse durchgeführt werden.<sup>4, 5</sup> Da sich die Steinart im Verlauf der Erkrankung ändern kann, sollte eine Harnsteinanalyse bei jeder neuen Steinepisode durchgeführt werden.</p> <h2>Harnsteinarten</h2> <p>Die wichtigsten Harnsteinarten sind in Tabelle 1 angeführt. Die häufigste Steinsubstanz ist Kalziumoxalat (Whewellit und Weddellit), gefolgt von Harnsäure. Weitere Steinarten sind unter anderem Brushit, Karbonatapatit, Struvit, Urate, Cystin sowie medikamentös induzierte Steine, z.B. durch das bei HIV eingesetzte Medikament Indinavir.<sup>6</sup> Nur etwa ein Drittel aller Steine besteht ausschliesslich aus einer Substanz. Bei der Rezidivprävention müssen auch die Mischpartner beachtet werden.<br />Patienten mit Brushit-, Karbonatapatit-, Harnsäure-, Urat- und Infektsteinen, genetisch bedingten Harnsteinen, wie Cystin, 2,8-Dihydroxyadenin und Xanthin, aber auch medikamentös induzierten Steinen haben ein besonders hohes Rezidiv­risiko.<sup>4–6</sup> In Abhängigkeit von den Risikofaktoren ist auch die Kalziumoxalat-Steinbildung durch eine hohe Rezidivrate charakterisiert. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass Whewellit (Kalziumoxalatmonohydrat), Brushit und Cystin aufgrund ihrer Härte schlecht auf eine Desintegration durch die extrakorporale Stosswellenlithotripsie (ESWL) ansprechen.<sup>4, 5, 7</sup> Grossen Statistiken zufolge handelt es sich zudem bei ca. 1 % aller Analysen um Artefakte wie beispielsweise Kieselsteine, Gips oder Samenkörner.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Uro_1701_Weblinks_s13.jpg" alt="" width="1417" height="1006" /></p> <h2>Steinartspezifische Rezidivprävention</h2> <p>Die Steinzusammensetzung ist die Grundlage der metabolischen Diagnostik und steinartspezifischen Rezidivprävention.<sup>4–6</sup> Genetisch determinierte Harnsteine wie Cystin manifestieren sich bereits im Kindes- und Jugendalter und bedürfen einer lebenslangen Therapie. Das Rezidivrisiko bei genetisch bedingter Steinbildung beträgt 100 % . Voraussetzung für eine effektive Rezidivprävention von Infektsteinen ist eine komplette Steinsanierung. Eine konsequente antibiotische Therapie des Harnwegsinfekts ist dabei unumgänglich. Zusätzlich empfiehlt sich eine Harnsäuerung mit L-Methionin. <br />Etwa 75 % aller Harnsteine bestehen aus Kalziumoxalat. Die Bildung von Kalziumoxalatsteinen wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst, die eine genaue Analyse der relevanten Parameter im 24h-Harn erforderlich machen. Besondere Aufmerksamkeit gilt der Kalzium-, Oxalat-, Harnsäure-, Zitrat- und Magnesiumausscheidung. Rund 10 % aller Steine bestehen aus Harnsäure. Eine hohe Harnsäureausscheidung, ein niedriger Harn-pH-Wert und ein geringes Harnvolumen begünstigen die Bildung von Harnsäuresteinen. <br />Kalziumphosphatsteine treten in verschiedenen Formen auf. Zu den bedeutendsten Kalziumphosphaten zählen Karbonatapatit und Brushit. Obwohl beide Steinarten Kalzium und Phosphat enthalten, sind die Bildungsbedingungen unterschiedlich. Risikofaktoren für eine Kalziumphosphatsteinbildung sind ein geringes Harnvolumen, ein Harn-pH-Wert über 6,5, eine hohe Kalzium- und eine geringe Zitratausscheidung. Häufige Ursachen der Kalziumphosphatsteinbildung sind Hyperparathyreoidismus (HPT) und renal tubuläre Azidose (RTA). <br />Eine Studie an 307 rezidivierenden Harnsteinpatienten hat gezeigt, dass steinartspezifische diagnostische und therapeutische Massnahmen eine rezidivierende Steinbildung erfolgreich verhindern können.<sup>8</sup></p> <h2>Harnsteinanalyse</h2> <p>Nach der Steinentfernung ist daher eine qualitativ und quantitativ sehr genaue Harnsteinanalyse die wichtigste Voraussetzung für eine gezielte Therapie und eine adäquate Rezidivprävention. Die Steinzusammensetzung liefert erste Hinweise auf mögliche Stoffwechselstörungen und bildet gleichzeitig die Grundlage zur Abklärung der für den einzelnen Patienten pathogenetisch relevanten endogenen und exogenen Risikofaktoren der Steinbildung. <br />Eine Qualitätskontrolle der Harnsteinanalyse in Deutschland ergab, dass nahezu 90 % aller Analysen im Jahr 1980 durch chemische Methoden erfolgten.<sup>9</sup> Infrarotspektroskopie und Röntgendiffraktion kamen dagegen nur selten zum Einsatz. Sehr schnell wurde jedoch deutlich, dass die chemischen Methoden zu ungenauen und in hohem Masse falschen Analysen führten. Aufgrund der hohen Fehlerrate sank die Zahl der Laboratorien, die eine chemische Analyse anbieten, schrittweise im Laufe der Zeit. Im Jahr 2001 nutzte nur noch eine kleine Zahl von Laboratorien die chemische Analyse, aber 80 % die Infrarotspektroskopie und rund 9 % die Röntgendiffraktion. Aufgrund der nicht akzeptierbaren hohen Zahl von Falsch­analysen gilt die chemische Analyse als obsolet.<sup>4–6 </sup></p> <h2>Qualität der Harnsteinanalyse</h2> <h2>in Europa</h2> <p>Daten zur Genauigkeit der Harnsteinanalyse in Europa fehlten bisher. In einer Studie an neun Laboratorien in Deutschland, England, Frankreich, der Schweiz, Dänemark, Portugal, Italien und der Türkei wurde die Qualität der Steinanalyse in Europa untersucht.<sup>10</sup> Die Laboratorien nahmen an sechs Ringversuchen zur Harnsteinanalyse mit insgesamt 24 Proben teil. Testsubstanzen, die im Rahmen der Studie untersucht wurden, waren zum Beispiel Reinsubstanzen wie 100 % Whitlockit oder 100 % Kristallzucker, Zweikomponentengemische wie 60 % Brushit und 40 % Apatit oder 70 % Harnsäure und 30 % Whewellit sowie Dreikomponentengemische wie beispielsweise 50 % Struvit, 30 % Apatit und 20 % Whewellit.<br />Die Auswertung der Ergebnisse am Beispiel dieser fünf von 24 Proben ergab, dass nur ein Laboratorium 100 % Whitlockit korrekt nachweisen konnte. Drei Laboratorien konnten das Artefakt Kristallzucker, das gelegentlich in Harnsteinanalyselaboratorien vorkommt, nicht identifizieren. Nur 67 % der Laboratorien fanden Brushit, Harnsäure und Whewellit in Zweistoffgemischen. Sechs von neun Laboratorien konnten das Dreistoffgemisch mit der analytisch anspruchsvollen Zusammensetzung aus Struvit, Apatit und Whewellit nicht korrekt nachweisen. Das Labor, welches die chemische Methode anwandte, konnte keine dieser Harnsteinsubstanzen identifizieren.<br />Um das Qualitätszertifikat zu erhalten, mussten mindestens 99 von insgesamt 132 erreichbaren Punkten erzielt werden. Von den teilnehmenden Laboratorien erfüllten lediglich 56 % , d.h. fünf von neun, die Qualitätsanforderung von mindestens 99 Punkten (Abb. 1). Das Labor mit der chemischen Analyse erreichte lediglich 9 von 132 Punkten. Dass auch bei der Anwendung von Infrarotspektroskopie und Röntgendiffraktion Fehler in kleinerem Umfang auftreten, ist vor allem auf eine ungenügende Geräteausstattung, fehlende Referenzspektren oder unzureichend geschultes Personal zurückzuführen. Daher ist eine Teilnahme der Laboratorien an regelmässigen Ringversuchen zur Qualitätskontrolle der Harnsteinanalyse unerlässlich.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_datafiles_data_Zeitungen_2017_Leading Opinions_Uro_1701_Weblinks_s14.jpg" alt="" width="1417" height="1006" /></p></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Hesse A et al: Study on the prevalence and incidence of urolithiasis in Germany comparing the years 1979 vs. 2000. Eur Urol 2003; 44: 709-13 <strong>2 </strong>Ahlstrand C, Tiselius HG: Recurrences during a 10-year follow-up after first renal stone episode. Urol Res 1990; 18: 397-9<strong> 3 </strong>Trinchieri A et al: A prospective study of recurrence rate and risk factors for recurrence after a first renal stone. J Urol 1999; 162: 27-30<strong> 4</strong> Arbeitskreis Harnsteine der Akademie der Deutschen Urologen, Deutsche Gesellschaft für Urologie e.V.: S2k-Leitlinie zur Diagnostik, Therapie und Metaphylaxe der Urolithiasis. 2015 <strong>5</strong> Türk C et al: EAU guidelines on urolithiasis. European Association of Urology. 2016 <strong>6</strong> Hesse A et al: Urinary stones: diagnosis, treatment, and prevention of recurrence. 3rd re­vised and enlarged edition. Basel: Karger, 2009 <strong>7</strong> Dretler SP: Stone fragility – a new therapeutic distinction. J Urol 1988; 139: 1124-7 <strong>8</strong> Klocke K et al: Prevention of recurrent stone formation: long time results under treatment based on an extended metabolic inves­tigation. Urol Res 1992; 20: 94-5 <strong>9</strong> Hesse A et al: Quality control in urinary stone analysis: results of 44 ring trials (1980–2001). Clin Chem Lab Med 2005; 43: 298-303 <strong>10</strong> Siener R et al, EAU Section of Urolithiasis (EULIS): Quality assessment of urinary stone analysis: results of a multicenter study of laboratories in Europe. PLoS One 2016; 11: e0156606 (doi: 10.1371/journal.pone.0156606)</p>
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