<p class="article-intro">Die Corona-Pandemie stellt im Jahre 2020 die Welt vor immense Aufgaben. Neben dem gravierenden Gesundheitsproblem, das auch über das Jahr 2020 hinaus bestehen bleiben wird, ist die pandemische Krise global, kontinental, national, regional, lokal, familiär und individuell zu betrachten. Zudem werden die Auswirkungen der Pandemie aus epidemiologischer und medizinischer, soziologischer, ökonomischer und politischer und noch manch anderer Perspektive erst retrospektiv in ihrer ganzen Breite zu erkennen sein.</p>
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<p class="article-content"><h2>Klinische Phänomene</h2> <p><strong>Mischformen des PCAS</strong><br /> Mit hoher Wahrscheinlichkeit treten bei differenzierten Individuen voraussichtlich in einem phasenhaften Verlauf Misch- und Wechselformen von externalisierenden und internalisierenden Verhaltensweisen auf. Es dürften erhebliche kulturelle sowie Alters- und Geschlechtsunterschiede bestehen, die die phasenhafte Verarbeitung der durch Corona bedingten Einschränkungen bestimmen. Hier ist an die transgenerationale Weitergabe dysfunktionaler externalisierender und internalisierender Verarbeitungsmechanismen zu denken. Kinder und Jugendliche mit ADHS und Komorbidität z. B. zeigen eine Mischform, bedingt durch die häufigeren Kontakte mit Bezugspersonen, vor allem mit den Eltern. Bei Jugendlichen mit ADHS führt die ständige Präsenz der Eltern zu einem Gefühl, kontrolliert und in ihrer Freiheit eingeengt zu sein, mit der Gefahr der Blockade der Entwicklungsaufgaben.</p> <p><strong>Internalisierende Formen eines PCAS</strong><br /> Bei stärker introvertierten und zu internalisierenden Störungen neigenden Individuen dürfte eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehen, dass folgende Auswirkungen eine Rolle spielen:</p> <ul> <li>Phobische Störungen aller Art</li> <li>Zunahme von Trait-Ängsten</li> <li>Selbstzweifel</li> <li>Erschöpfung/Burnout</li> <li>Diverse Depressionsformen</li> <li>Psychosomatische Störungen</li> <li>Suchterkrankungen aller Art verbunden mit akuten schweren Mischintoxikationen</li> <li>Deutlich verstärkter Medienkonsum</li> <li>Emotionale Überreagibilität, z. B. bei ADHS</li> <li>Schlafstörungen</li> <li>Suizidalität</li> </ul> <p>Im psychopathogenetischen Sinne sind vor allem die beiden ersten Szenarien bedeutsam: Angst, Vertrauensverlust, Vereinzelung, paranoide Strukturen und kontinuierliche Retraumatisierung wären dort auszumachen.</p> <p><strong>Externalisierende Formen eines PCAS</strong><br /> Je nach prämorbider Persönlichkeitsstruktur dürften externalisierende Verarbeitungsmuster in der Post-Corona-Zeit vorherrschend sein. Es handelt sich vor allem um:</p> <ul> <li>Exzessiven Substanzkonsum bis hin zu Suchtphänomenen</li> <li>Verhaltenssüchte</li> <li>Vermehrte Aggressionen/erhöhte Impulsivität</li> <li>Desorganisation, Stressintoleranz und Wutanfälle bei ADHS</li> <li>Massiven Hedonismus</li> <li>Risiko und Unfallneigung</li> <li>Arbeitssucht</li> <li>Sport- und Bewegungssucht</li> </ul> <p><strong>Corona-Krise und Suizidraten</strong> Weltweit stellt Suizid in der Altersgruppe von 15 bis 29 bzw. bis 34 Jahren die zweithäufigste Todesursache nach Unfällen dar. In den angrenzenden Altersgruppen von 10 bis 14 und von 35 bis 44 Jahren lagen Suizide an dritter Stelle der Todesursachen (Center for Disease Control, CDC, 2012), wobei für Kinder kaum Zahlen vorhanden sind. Europa verzeichnet eine mit zunehmendem Alter ansteigende Suizidrate (Bachmann 2018a), gemessen in absoluten Zahlen sterben jedoch in der Gruppe der 15–29-Jährigen die meisten Menschen durch Suizid.<br /> Aufgrund der Literatur ist es grundsätzlich möglich, zur Entwicklung von Suizidzahlen in verschiedene Richtungen zu denken (Patel et al. 2016):</p> <ol> <li>Die Suizidraten werden in der Folge der Corona-Krise niedriger ausfallen.</li> <li>Die Suizidraten bleiben gleich.</li> <li>Die Suizidraten steigen an.</li> </ol> <p>Zur ersten Annahme sei angemerkt: Seit über hundert Jahren wird beobachtet, dass ein Krieg die Zahl der Suizide in den betroffenen Regionen senkt (Marshall 1981, Lester 1993, Somasundaram und Rajadurai 1995). Die Überlegungen dazu gehen in die Richtung, dass eine äussere Gefahr Energie mobilisiert, um sich der Gefahr zu widersetzen. Eine Wendung gegen die eigene Person (Autoaggression) wird kaum vermutet. Die zweite Annahme halten die Autorinnen und Autoren für unwahrscheinlich. Die Vielzahl der lebensverändernden Ereignisse in Zusammenhang mit der Pandemie dürfte zu einer Veränderung der Suizidzahlen führen – und zwar im Vergleich mit den Zahlen, die die WHO für 2020 prognostiziert hat, nämlich 1,53 Mio. weltweit gegenüber 0,8 Mio. im Jahr 2001 (Bertolote und Fleischmann 2002).<br /> Vermutlich werden die Suizidzahlen gemäss der dritten Annahme im Rahmen oder nach der Corona-Krise ansteigen. Die Annahme basiert darauf, dass folgende Einflussfaktoren die Suizidzahlen erhöhen können (Patel et al 2016):</p> <ul> <li>Sozioökonomische Faktoren wie geringes Einkommen, Einkommensungleichheit, Arbeitslosigkeit</li> <li>Sozialer Wandel wie Veränderungen bzgl. des Einkommens und des sozialen Status</li> <li>Wohnsituation wie enge Verhältnisse, Gewalt</li> <li>Umweltbedingungen wie Klimawandel und andere Naturkatastrophen</li> </ul> <p>Einige dieser Faktoren sind schon in der Corona-Krise wirksam, wie enge Wohnverhältnisse und eine Zunahme an familiärer Gewalt, die Belastung durch hohe Temperaturen im Rahmen des Klimawandels bei Ausgangssperre. Die Pandemie selbst kann als Naturkatastrophe im Sinne eines Traumas des Typs 1 gewertet werden. Andere Faktoren spielen jetzt schon eine Rolle und werden ihre Wirkung weiter entfalten. Dazu gehören eine Rezession und der daraus folgende gesellschaftliche Wandel, Arbeitslosigkeit, verringertes Einkommen und besonders Ungleichheit betreffend Einkommen und Status. Beim Letztgenannten ist nicht das absolute Mass relevant, sondern die Vergleichsgruppe vor oder nach der Krise. Es ist auch hier anzunehmen, dass die soziale Schere weiter auseinanderklaffen wird.<br /> Weitere wichtige Parameter bei diesen Überlegungen stellen die psychischen Erkrankungen dar. Wir gehen allgemein davon aus, dass die Corona-Krise die Inzidenz von psychischen Erkrankungen und/oder subsyndromalen Beschwerden erhöhen kann. Relevant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Suizidrate bei psychisch erkrankten Menschen schon um das 10-Fache höher liegt als in der Normalbevölkerung. Bei 90–98 % der durch Suizid Verstorbenen fand sich im Vorfeld eine psychiatrische Diagnose (u. a. Röcker und Bachmann 2015), die in fast der Hälfte aller Fälle zu mindestens einer Hospitalisation geführt hatte. Diese Zahlen sind allerdings nur für Europa und die USA repräsentativ. Depression gilt als der mit Abstand häufigste Grund für Suizid weltweit (Bachmann 2018b). Da diese Erkrankungen durch eine Krise manifest oder akzentuiert werden können, ist durchaus ein Anstieg der Suizidraten möglich.</p> <h2>Differenzialdiagnostische Überlegungen</h2> <p>In allen der vier Problembereiche darf bei klinisch auffälligen Patienten eine systematische und auf die Entwicklungsaufgaben bezogene Mehrebenen-Diagnostik im Sinne des multiaxialen Klassifikationsschemas der ICD-10/WHO (bald ICD-11) nicht ausfallen (hierzu Gahleitner et al. 2014 und Tab. 1). Unterschiedliche Fachdisziplinen konzentrieren sich auf unterschiedliche Teilaspekte; sonst werden Interventionen nicht konsequent zu Ende gedacht und mit Erfolg durchgeführt. Inwieweit sich psychopathologisch deutlich erkennbare Folgen aus dieser Konstellation mittel- und längerfristig mit den gängigen psychiatrischen Klassifikationssystemen abbilden lassen werden, ist vorerst noch offen. Von einer Zunahme von Anpassungsstörungen, depressiven Episoden, primären und sekundären Traumafolgestörungen ist auszugehen, ebenso von unschärferen Phänomenen wie Konzentrationsstörungen und Einschränkungen der Selbststeuerung bis hin zu autistoidem Rückzugsverhalten.</p> <p><img src="/__image/a/2195437/alias/xl/v/1/c/4/ar/flexible/fn/LO_Neuro_2003_s7_tab1_Bilke-Hentsch_Post-Corona-Adaptionssyndrom%20Teil%20II....jpg" alt="" width="675" height="374" /></p> <p><strong>Belastungsstörungen</strong><br /> Als Belastungsstörungen wird in der ICD-10 (WHO 2010) eine Gruppe von psychischen Erkrankungen zusammengefasst, die bei einem Individuum im kausalen und zeitlichen Zusammenhang mit einem belastenden Lebensereignis auftreten. Die Reaktionen auf ein belastendes Ereignis können vielfältig sein und sind unter anderem abhängig von der Intensität und dem erlebten Kontrollverlust durch das Ereignis. Daten zu den Auswirkungen von Epidemien und Quarantänemassnahmen auf die psychische Gesundheit liegen vor allem aus dem Jahr 2003 (SARS-Epidemie in China und Kanada) sowie aus dem Jahr 2014 (Ebolaepidemie in Westafrika) vor. Die bereits in der Anfangsphase des Lockdowns Ende März 2020 berichtete Zunahme von häuslicher Gewalt entzieht den betroffenen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit, in einer als sicher erlebten sozialen Bindung Bewältigungskompetenzen zu entwickeln – die Belastungsstörung ist das Muster einer doppelten Traumaerfahrung. Vor allem bei jungen Kindern und solchen mit kognitiver Beeinträchtigung drohen diese emotionalen Erfahrungen, die Möglichkeit einer Reifung durch Bewältigung der objektiven Merkmale der Corona-Krise zu behindern.</p> <p><strong>Anpassungsstörungen</strong><br /> Bei einer Anpassungsstörung treten Symptome innerhalb eines Monats nach einem belastenden Lebensereignis auf. Sie können breit variieren und sind häufig subsyndromal. Neben ängstlich-depressiver Reaktion treten Symptome wie Konzentrationsstörungen, Irritierbarkeit sowie vegetative Funktionsstörungen, Wut, Ärger bis zu einer Störung des Sozialverhaltens und zum Substanzmittelkonsum auf (Walter und Lang 2017).<br /> Während der Erkrankungsphase wird von einem erhöhten Suizidrisiko ausgegangen (Maercker 2017), ebenfalls besteht das Risiko für einen Übergang in eine depressive Störung oder in eine Angststörung. Zusätzlich können sich Substanzprobleme oder Rückfälle bei bestehenden Abhängigkeitserkrankungen entwickeln. Mehrheitlich hat die Anpassungsstörung jedoch bis auf einzelne Subtypen (bis zu 2 Jahre bei längerer depressiver Reaktion) einen selbstlimitierenden Charakter und bildet sich innerhalb von 6 Monaten nach Beendigung der Belastung zurück (Jones et al. 2002).<br /> Wurde die Anpassungsstörung in der ICD-10 vor allem als Ausschlussdiagnose konzipiert, so wird sie in der ICD-11 als ein eigenes Störungsbild anhand spezifischer Symptome (Intrusionen, exzessives Beschäftigen, Grübeln über Ereignis, Vermeidungsverhalten) definiert und bildet gemeinsam mit den Diagnosen der akuten wie der posttraumatischen Belastungsreaktion verschiedene Schweregrade von spezifischen stressassoziierten Störungen ab (Maercker 2017).</p> <h2>Neuropsychologische Mechanismen</h2> <p>Möglicherweise sind neuropsychologische Basismechanismen und transdiagnostische Konzepte günstiger als eine nosologische, auf der ICD-10 oder der ICD-11 bzw. dem DSM-5 basierende Einordnung der Corona-Folgephänomene, die alle durch die Corona-Krise aktiviert werden. Folgende Bereiche dürften direkt oder katalysiert durch emotionale posttraumatische Stimmungslagen im Erwachsenenwie im Kindes- und Jugendalter involviert sein (op den Kelder 2018; Olff et al. 2014):</p> <ul> <li>Impulssteuerungsfähigkeit bzw. kognitive Kontrolle</li> <li>Emotionssteuerungsfähigkeit</li> <li>Belohnungssystem (insbesondere «delay of gratification»)</li> <li>Konzentrations- und Aufmerksamkeitssteuerung</li> <li>Motivationssystem</li> <li>Entscheidungsfindungsprozesse</li> <li>Kognitive Flexibilität</li> <li>Arbeitsgedächtnis</li> <li>Vigilanzsteuerung</li> </ul> <p>Auf höherer Abstraktionsebene dürfte das neuropsychologische Konstrukt des impulsiven «sensation seeking» eine Rolle spielen. Personen, die einen höheren «Reizhunger» aufweisen, erleben im Lockdown eine Situation, die einer Reizdeprivation nahekommt. Der Input, der zuvor verfügbar war und der im Sinne von Verhaltensautomatismen stetig konsumiert werden konnte, ist seltener geworden. Der hierdurch entstehende Mangelzustand wird von impulsiven «sensation seekers» als deutlich aversiv empfunden und kann einhergehen mit Dysphorie, Zuständen innerer Unruhe und psychosomatischen bzw. psychovegetativen Symptomen (z. B. Schlafstörungen).<br /> Auf Verhaltensebene kann sich dieser motivationale Zustand im Sinne impulsiver Handlungen ausdrücken, also in der Hinwendung des Individuums zu Ersatzquellen, die entweder eine Belohnung erwarten lassen (Hochregulierung des dopaminergen Systems) oder doch zumindest eine unmittelbare Spannungsreduktion (Hinunterregulierung des noradrenergen Systems) verheissen. Unter diese Ersatzhandlungen können dysfunktionale Verhaltensweisen fallen, etwa im Sinne eines schädlichen oder abhängigen Gebrauchs von z. B. Alkohol, Cannabis, Schmerzmitteln oder von anderen Verhaltensweisen (Online- Glücksspiel, internetbezogene Störungen, wie Gaming Disorder oder unkontrollierter Konsum von Online-Pornografie), selbstverletzendes Verhalten oder externalisierende aggressive Ausbrüche, wie sie sich im Anstieg an Vorfällen häuslicher Gewalt (z. B. «intimate partner violence») abzeichnen.</p> <h2>Ressourcenbewertung</h2> <p>Rosa (2016) schlägt aus soziologischer Sicht als Lösungsansatz bei komplexen sozialen und interaktiven Misfits von Stress und Lösungsmöglichkeiten die «Resonanz» vor, das behutsame, konsequente Einschwingen von Therapeuten, Eltern und anderen Bezugspersonen auf spezifische Beschleunigungen und Entschleunigungen des Betroffenen. Dies setzt neben grundsätzlichen Empathiefähigkeiten die eigene Steuerungsfähigkeit, Beherrschung und Disziplin der Erwachsenen voraus.<br /> Folgt man seinen Ausführungen (Rosa 2005, 2016), so ist die «dynamische Stabilisierung» ein zentrales Merkmal unserer spätkapitalistischen und spätmodernen Zeit, die nur durch ein permanentes Wachstums- und Leistungssteigerungsversprechen eine gewisse soziale Kohärenz halten kann. Dieses Versprechen konnte aktuell nicht gehalten werden und seine Wiederherstellung wird von fast allen Interessengruppen politisch und sozial ins Feld geführt. Die Ressourcenfrage stellt sich hier öffentlich und deutlich, bei jeder Person – und bei jeder Branche. Positiv beantwortet hiesse dies, dass nach Corona «einfach» wieder ausreichende Ressourcen vorhanden sind und damit die Corona-bedingten, durch die permanente Unsicherheit und Ungewissheit «befeuerten» Ängste abnehmen können: die Angst vor dem gesamtgesellschaftlichen Zerfall einerseits und die ganz privaten, realen wie existenziellen Ängste andererseits.<br /> Verhaltenstherapeutisch geht es um Ressourcenaktivierung im Familiensystem im Sinne einer psychoedukativen Intervention, u. a. über die Funktionalität der Stresskurve, vor allem bei ADHS-Betroffenen (Eltern, Jugendliche, Kinder). Dadurch können Copingstrategien in vivo erarbeitet werden, dies zum Abbau von möglichen Konflikten.<br /> Im Sinne der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD-KJ-2) kann man zwischen individuellen Ressourcen (Selbstwirksamkeit, «locus of control»), familiären Ressourcen, institutionellen Ressourcen und Peer-Ressourcen unterscheiden.<br /> Nicht nur die reale Verfügbarkeit der jeweiligen Ressourcentypen, sondern deren Dauerhaftigkeit und deren kritische Bewertung ermöglichen es dem Individuum und Gruppen, unterschiedlich auf die Post-Corona-Zeit zu reagieren. Hier spielen gesellschaftliche Faktoren (soziale Absicherung versus Unsicherheit) und familiäre Faktoren eine Rolle. Während einerseits für die Zeit um den Jahreswechsel 2020/2021 ein Zuwachs an Geburten erwartet wird, zeigen erste Befunde aus China, dass dort in der Post-Corona-Zeit die Scheidungsrate steigt. In beiden Fällen handelt es sich um Epiphänomene, die letztlich – neutral gesprochen – eine Differenzierung und Adaptation der jeweiligen vorherbestehenden (Sub-)Systeme (Fortschritt versus Trennung) bedingen.<br /> Technologische Ressourcen sind ebenfalls in der Corona-Zeit und danach zu beachten. Die für viele Therapeuten ungewohnten Telefonkontakte oder webbasierte Videokonferenzen haben sich in praxi blitzschnell durchgesetzt und auch vorübergehend bewährt, nicht zuletzt auch, weil Telefonieren neben E-Mail-Schreiben für die Generation Z eine skurrile und eine Zeit lang spannende überkommene Kommunikationsform darstellt. Inwieweit sich dies in der Post-Corona-Zeit in der reduzierten Inanspruchnahme konkreter psychotherapeutischer Leistungen «face to face» zeigt und was dessen Folge wäre, bleibt abzuwarten und wissenschaftlich wie versorgungspolitisch zu begleiten.</p> <h2>Neue Kommunikationsformen</h2> <p>Somit ermöglicht die Corona-Krise zwar disruptive Quantensprünge im Bereich der elektronischen Kommunikation und sorgt für höchst erfreuliche Wiederentdeckungen von zeitweise fast vergessenen Werten wie Gemeinschaftssinn, Solidarität, Achtsamkeit und anderen mehr. Im Bereich der analogen bzw. physischen Interaktion besteht die Gefahr, dass uns gerade bei einem längeren Verlauf, der aktuell nicht unwahrscheinlich scheint, das Social Distancing allzu «in Fleisch und Blut übergehen» wird. Man will niemandem zu nahetreten und steht dadurch vielleicht kaum jemandem mehr wirklich nahe. Die Maske ist hier Objekt und Symbol zugleich.<br /> Zwar bietet die sogenannte Telepsychiatrie für Fachpersonen und Klienten einige vielversprechende Entwicklungsmöglichkeiten, die ohne Not nicht so schnell erschlossen worden wären. Diese Methoden greifen jedoch vollständig nur bei prinzipiell eher ressourcenreichen, quasi Corona- kompetenten Familien bzw. sind klinischer Erfahrung zufolge erst dann Ersatz für den persönlichen Kontakt in der Psychotherapie, wenn bereits eine längerfristige Behandlung den Grundstein für eine stabile Arzt/Therapeut-Patient-Beziehung gelegt hat.<br /> Die Kinder und Jugendlichen, die das Glück haben, sich auf sozial und psychisch kompetente Nahestehende «in Resonanz» stützen zu können, werden eine längere Corona-Krise gut überstehen, wobei zu bedenken ist, dass auch die Eltern mit einer für sie völlig neuen Situation konfrontiert sind, für deren Bewältigung sie auf keine Erfahrung zurückblicken können. Für alle anderen, deren Familien wenig Containment und Unterstützung leisten können und ungewollt zusätzliche Entwicklungs-Disruptionen generieren, bleibt zu hoffen, dass das gesellschaftliche Leben bald wieder Fahrt aufnehmen kann. Dies ist auch unter dem Aspekt einer möglichen Verstärkung psychologischer Folgen von realen oder drohenden Armutserfahrungen der Kinder und Jugendlichen zu sehen.</p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Es wäre aus Sicht der Autorinnen und Autoren fahrlässig, ein spezifisches Post-Corona-Syndrom als neue «moderne Krankheit» im Sinne Brählers (2015) zu postulieren oder gar zu propagieren. Die zuletzt bei der DSM-5-Einführung (DSM 5, APA, 2013) zu Recht angeprangerte Flut von Neudiagnosen (Frances 2015) ist nicht zielführend.<br /> Ein zu starker Reduktionismus (im Sinne von Heinz 2016) auf die «grossen Diagnosen» (des Erwachsenenalters!) ist aus psychotherapeutischer und entwicklungspsychiatrischer Sicht ebenfalls problematisch. Angemessen könnte in diesem Sinne ein coping- und resilienzförderlicher Ansatz vor dem Hintergrund individueller Ausgangslagen und gesellschaftlicher Bedingungen sein.<br /> Für die psychotherapeutische Beschreibung und Aufarbeitung der Corona-Zeit bedarf es daher einer Sichtweise, die sowohl individuelle Prädispositionen und Anpassungsmechanismen als auch gesamtgesellschaftlich relevante Faktoren berücksichtigt und bewertet. Man wird verschiedene Untergruppen zu unterscheiden haben, die jeweils angepasste Interventionen benötigen:</p> <ul> <li>Angehörige von Corona-Erkrankten</li> <li>Angehörige von verstorbenen Corona-Erkrankten</li> <li>Kinder von belasteten Eltern</li> <li>Kinder und Jugendliche in Armut: innerfamiliär, extrafamiliär</li> <li>«Homeless kids»</li> <li>Alle anderen, die nicht zu den genannten Gruppen gehören, aber ebenfalls den allen gemeinsamen Faktor der Restriktion erlebt haben</li> </ul> </div> <p><strong>Kategoriales Syndrom oder flexible Intervention?</strong><br /> In diesem Sinne mag es kein distinktes Post-Corona-Syndrom geben. Nicht nur aus lerntheoretischer Warte ist in der Corona- Krise allerdings unbestreitbar im Sinne der Diathese-Stress-Perspektive ein Auslöser von beachtlicher Dimension zu sehen, welcher wohl individuell anzupassende Post-Corona-Interventionen notwendig werden lässt.<br /> Es ist zu erwarten, dass Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendpsychiater und Sozialpädiater und unter Umständen die gesamte Jugendhilfe noch stärker als bisher zu einem «Reparatur- und Anpassungsbetrieb» für all diejenigen Jugendlichen werden, die (entweder zu beschleunigt oder aktuell zu entschleunigt) nicht das adäquate Tempo für unsere «post-Corona-adaptierte» Gesellschaft aufweisen und steuern können.<br /> Eine Psychotherapie seelischer Störungen und Probleme bei Kindern und Jugendlichen im 3. Jahrzehnt des 3. Jahrtausends hat diese Entwicklungen mitzudenken und mit zu berücksichtigen. Im Sinne einer modularen Psychotherapie bedürfen Kinder und Jugendliche je nach Entwicklungsphase und Entwicklungsaufgaben beziehungsweise vorliegender seelischer Problematik unterschiedlicher Herangehensweisen.<br /> Eine rein störungsorientierte, streng manualisierte Psychotherapie, die den sozialen Rahmen und die biografische Genese sowie die spezifischen Erfahrungen im Lockdown und danach ausblendet, dürfte nicht ausreichend sein. Die interindividuellen Aspekte der modernen soziologischen Konstrukte (Rosa, Herring, Bauman und andere) erinnern deutlich an Übertragung und Gegenübertragung, an das dynamische Unbewusste und an die Konfliktund Strukturtheorie. Im Sinne des modularen Ansatzes vermögen psychodynamische Zugänge nützliche Rahmenkonzepte für störungsspezifische, verhaltenstherapeutische und pharmakologische Interventionen vorzubereiten, die sich gegebenenfalls manualisiert und Leitlinien-orientiert den einzelnen Problemfeldern zuwenden können.Mit einer systemischen Sichtweise des Gesamtgefüges des Patienten und seiner Umgebung kann eine nachhaltige modulare Mehrebenen-Therapie auf dem Boden jener Mehrebenen-Diagnostik gelingen.<br /> Es ist die flexible Kombination aus systemischem, wirtschaftlich denkendem Gesamtverständnis, biografisch-dynamischer Herleitung und symptom- und störungsorientierter verhaltenstherapeutischer bzw. medikamentöser Intervention, die es ermöglicht, je nach Krankheits-Motivationsphase des Kindes, des Jugendlichen und der Familie die passenden Denkansätze und Interventionen in der Post-Corona-Phase zu liefern. Beispiele hierfür liefern aktuell einige Fachgesellschaften oder Arbeitsgruppen und Konsortien, z. B. für das sicher besonders relevante ADHS (ADHD Study Group 2020). Weitere spezifische Empfehlungen im Sinne des störungsorientierten nosologischen Denkansatzes werden folgen.<br /> Inwieweit diese Ansätze noch in der Person einer einzigen Diagnostikerin oder eines einzelnen Therapeuten umgesetzt werden können, ist zumindest fraglich. Gegebenenfalls können gut modular aufeinander abgestimmte Therapieteams, die als Ganzes dem Patienten je nach Entwicklungsphase helfen – analog wie ein Coaching- oder Trainerteam beim Sport –, nützlicher sein. Je schwerer die Störung des «Post-Corona-Patienten», desto hilfreicher dürften interdisziplinäre Ansätze sein. Die enge Kooperation zwischen Kinder- und Jugend-, Erwachsenen- und Gerontopsychiatrie nicht nur im Sinne der Transitionspsychiatrie ist wichtiger denn je.</p> <p><strong>Forschungsnotwendigkeiten im psychiatrischen Bereich</strong><br />Hoffen wir, dass alsbald gemeinsam klug konzipierte und nachhaltig finanzierte prospektive Langzeitstudien beginnen oder bestehende die Corona-Thematik mit integrieren. Die psychiatrisch-klinische Epidemiologie hat schon immer eine der wichtigsten Grundlagen unseres Faches gebildet. Bis zu deren Ergebnissen gehen die psychotherapeutische Konzeptbildung und die praktische individualisierte Therapie weiter.</p> <div style="text-align: center; float: right; margin: 1 % ;"><a style="background-color: #5b2577; border-radius: 4px; color: #ffffff!important; border-top: 5px solid #5b2577; border-left: 10px solid #5b2577; border-right: 10px solid #5b2577; border-bottom: 5px solid #5b2577; display: inline-block; text-decoration: none !important;" href="https://www.universimed.com/ch/article/klinisches-post-corona-adaptations-syndrom-2192056"><strong><span style="font-size: 11pt;">zum Teil 1</span></strong></a></div> <p><br /><span style="text-decoration: underline;">Autoren:</span><br /> Dr. med. <strong>Oliver Bilke-Hentsch</strong>, MBA LL.M.<br /> KJPD Luzerner Psychiatrie<br /> Prof. Dr. med. <strong>Silke Bachmann</strong><br /> Univ. Halle/Saale<br /> Prof. Dr. med. <strong>Anil Batra</strong><br /> Psychiatr. Univ.-Klinik Tübingen<br /> Prof. Dr. med. <strong>Andreas Conca</strong><br /> Psychiatr. Univ.-Klinik Bozen<br /> Dr. med. <strong>Leonhard Funk</strong><br /> Modellstation SOMOSA Winterthur<br /> Dr. phil. <strong>François Gremaud</strong><br /> Winterthur/Zürich/Baar<br /> Prof. Dr. med. <strong>Josef Jenewein</strong><br /> triaplus Zug<br /> <strong>Susanne Hentsch</strong>, MPH<br /> Luzern<br /> Prof. Dr. rer. nat. <strong>Michael Klein</strong><br /> Kath. Hochschule NRW, Köln<br /> Prof. <strong>Gisela Michel</strong>, PhD<br /> Universität Luzern<br /> Dr. rer. physiol. <strong>Kai Müller</strong><br /> Universitätsmedizin Mainz<br /> Dr. med. <strong>Ulrich Müller-Knapp</strong><br /> KJPZ Ganterschwil<br /> Dr. med. <strong>Valdo Pezzoli</strong><br /> Kantonsspital Lugano<br /> Dr. med. Dr. rer. nat. <strong>Ulrich Preuss</strong><br /> Klinikum Lippe<br /> Dr. med. <strong>Christian Rexroth</strong><br /> MedBo Klinik, Regensburg<br /> Prof. Dr. med. <strong>Kathrin Sevecke</strong><br /> Med. Univ. Innsbruck<br /> Prof. Dr. med. <strong>Leonhard Thun-Hohenstein</strong><br /> Univ. Salzburg<br /> Prof. Dr. med. <strong>Marc Walter</strong><br /> upk Basel<br /> Prof. Dr. med. Dipl. Psych. <strong>Peter Weber</strong><br /> UKBB Basel<br /> Dr. med. <strong>Wolfgang Wladika</strong><br /> Universitätsklinikum Klagenfurt<br /> Prof. Dr. phil. <strong>Andreas Jud</strong><br /> Univ. Ulm/Hochschule Luzern</p> <p><br /><span style="text-decoration: underline;">Korrespondierender Autor:</span><br /> Dr. med. <strong>Oliver Bilke-Hentsch</strong><br /> Chefarzt KJPD Lups<br /> Luzerner Psychiatrie<br /> Kinder- und Jugendpsychiatrie, Luzern E-Mail: oliver.bilke@lups.ch</p> <p><br /><strong>Literatur:</strong></p> <p>∙ Bachmann S: Epidemiology of Suicide and the Psychiatric Perspective. International Journal of Environmental Research and Public Health 2018b, 6(15): 7 ∙ Bauman Z: Wir Lebenskünstler. Suhrkamp, Frankfurt 2009 ∙ Beck U: Die Metamorphose der Welt. Suhrkamp, Frankfurt 2016 ∙ Bertolote JM et al.: Psychiatric diagnoses and suicide: revisiting the evidence. Crisis 2004; 25(4): 147-155 ∙ Brähler E: Moderne Krankheiten. Wiss. Verlagsgesellschaft, Berlin 2016 ∙ McAfee A, Bryngjolflsson E: Machine, Platform, Crowd. Plassen, Kulmbach 2018 ∙ DSM 5. Diagnostic and statistical manual. American Psychiatric Association, Arlington 2013 ∙ Fegert JM et al.: COVID-19-Pandemie-Kindesschutz ist systemrelevant. Dtsch Arztebl 2020; 117(14): A-703/B-596 ∙ Frances A: Normal. DuMont, Köln 2013 ∙ Greenfield Susan: Mind Change. Random House, London 2015 ∙ Heinz A: Der Begriff der psychischen Krankheit. Suhrkamp, Frankfurt 2014 ∙ Herring J: Relational autonomy. Springer Law, Heidelberg 2012 ∙ Jones R et al.: Readmission rates for adjustment disorders: Comparison with other mood disorders. J Affect Disorders 2002; https://doi.org/10.1016/S0165-0327(01)00390-1 ∙ Lee B et al.: The dangerous case of Donald Trump. Thomas Dunne, New York 2017 ∙ Lobo S: Realitätsschock. Kiepenheuer u. Witsch, Köln 2019 ∙ Mitscherlich A.: Die Unfähigkeit zu trauern. Suhrkamp, Frankfurt 1959 ∙ Maercker A: Trauma und Traumafolgestörungen. In Trauma und Traumafolgestörungen 2017; https://doi.org/10.17104/9783406698514 ∙ Olff M et al.: Executive Function in Posttraumatic Stress Disorder (PTSD) and the Influence of Comorbid Depression. Neurobiol Learn Mem 2014; 112: 114-21 ∙ Op den Kelder R et al.: Executive functions in trauma-exposed youth: a meta-analysis. Europ J Psychotraumatology 2018; 9: 1 ∙ OPD-KJ-2., 3. Aufl. Arbeitskreis OPD-KJ (Hrsg.), Hogrefe, Bern 2018 ∙ Patel V et al., on behalf of the DCP MNS authors group: Global Priorities for Addressing the Burden of Mental, Neurological, and Substance Use Disorders. Mental, Neurological, and Substance Use Disorders. In: Patel V, Chisholm D, Dua T, Laxminarayan R, Medina-Mora ME: Disease Control Priorities. Third Edition (Volume 4). 2016, Washington (DC), The International Bank for Reconstruction and Development / The World Bank ∙ Reinecke L et al.: Digital stress over the life span: The effects of communication load and internet multitasking on perceived stress and psychological health impairments in a German probability sample. Media Psychology 2017; 20(1): 90-115 ∙ Röcker S, Bachmann S: Suizidalität bei psychischen Erkrankungen – Prävention und Behandlung. Therapeutische Umschau 2015; 72(10): 611-7 ∙ Rosa H: Beschleunigung. Suhrkamp, Frankfurt 2005 ∙ Rosa H: Resonanz. Suhrkamp, Frankfurt 2016 ∙ Rosa H: Unverfügbarkeit. Residenz, München 2019 ∙ Schneewind KA: Familienpsychologie. 3. Aufl., Stuttgart 2006 ∙ Taleb N.: Antifragilität. Random House/Bertelsmann, Gütersloh, 2017 ∙ Tschuschke V et al.: Das Verhältnis von Abwehr und Coping bei unerschiedlichen Erkrankungen. Zeitschrift für Medizinische Psychologie 2002; 11(2): 73-82 ∙ Twenge J: i-Generation. Randomhouse/Bertelsmann, Gütersloh 2018 ∙ Viner RM et al.: School closure and management practices during coronavirus outbreaks including COVID-19: a rapid systematic review. Lancet Child Adolesc Health 2020; pii: S2352-4642(20)30095-X. doi: 10.1016/S2352-4642(20)30095-X ∙ Walter M, Lang UE: Psychiatrische Notfälle. 2. Aufl., Ecomed, München 2017</p></p>