
Zwanghafte sexuelle Störungen
Autorin:
Dr. med. Heike Melzer
Neurologin und ärztliche Psychotherapeutin
Schwerpunktpraxis für Paar- und Sexualtherapie
München
E-Mail: Praxis@dr-med-heike-melzer.de
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Verhaltenssüchte in der Sexualität, die durch einen Überkonsum von immer stärker werdenden sexuellen Reizen ausgelöst werden, sind leider die Kehrseite des technologischen Fortschritts. Für Ärzte und Therapeuten ist es wichtig, das noch relativ neue Krankheitsbild «zwanghafter sexueller Störungen» zu verstehen, um Patienten präventiv, diagnostisch und therapeutisch kompetent zu begegnen.
Keypoints
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Die Intensitätsstärke und die Dauerverfügbarkeit von sexuellen Reizen führen immer häufiger zu zwanghaften und süchtigen sexuellen Störungen mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen und deren direktes Umfeld.
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Verhaltenssüchte stellen eine Stoffwechselstörung im Belohnungssystem des Gehirns dar, bei dem Dopamin eine tragende Rolle spielt.
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Hypersexualität und die daraus erwachsenden Folgen stellen uns vor therapeutische Herausforderungen, die weiterer Fortbildung bedürfen, um Betroffenen kompetent Therapieangebote zu offerieren.
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Verhaltenssüchte werden in der Zukunft durch den technologischen Fortschritt und die Veränderung süchtig machender Reize auch in Bereichen von Konsum, Unterhaltung, Einkaufen und Essen eine enorme Rolle spielen. Es lohnt sich daher umso mehr, die Zusammenhänge zu verstehen.
Wenn wir einen Menschen begehren, dann kann sich die sexuelle Anziehungskraft über die Zeit hinweg in ein tiefes Gefühl von Liebe transformieren, deren Krönung in der Zeugung von Kindern mündet. So lautet der theoretische Ansatz des auch heute noch stark nachgefragten romantischen Liebesideals. Die drei Säulen der Sexualität in Form von «Trieben», «Liebe» und «Fortpflanzung» werden hier mit ein und derselben Person geteilt.
Die grosse Freiheit der sexuellen Revolution in den 60er-Jahren beruhte auf der Entkopplung der Fortpflanzung von dem Trio der Sexualität. Durch die Einführung einer sicheren Kontrazeption und die Straffreiheit von Abtreibung wurde der Kinderwunsch planbar. Sex konnte frei genossen werden und die Slogans der damaligen Zeit waren «Mein Bauch gehört mir» und «Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment».
Die neue sexuelle Revolution
Die Aufbruchstimmung kollektiver Ekstase erhielt in den 80er-Jahren durch die Angst vor Aids einen massiven Dämpfer. Treue und gesundheitlicher Schutz machten der promisken Freiheit ein jähes Ende und so standen wir wieder vor dem Dilemma, dass Erotik Abstand und Liebe Nähe braucht. Die als «Coolidge-Effekt» bei Tieren beschriebene nachlassende sexuelle Reaktion auf ein und denselben Sexualpartner über die Zeitachse hinweg trifft leider nicht nur auf Tiere, sondern auch auf uns Menschen zu. Um der Tristesse in Langzeitbeziehungen zu entfliehen, bedienten sich auch unsere Vorfahren der Pornografie, des Anzettelns von Affären und des Kaufs sexueller Dienstleistungen. Nur waren damals die Möglichkeiten und die Verfügbarkeit noch homöopathisch, wenn man sie mit heute vergleicht.
Seit mindestens zwei Jahrzehnten befinden wir uns in einer neuen sexuellen Revolution, die durch den technologischen Fortschritt eingeläutet wurde und in logarithmischer Geschwindigkeit dahinprescht. Hauptbestandteil ist jetzt die Autonomisierung der Triebe, die aus dem romantischen Trio der Sexualität auszubrechen drohen. Der Konsum von Sexualität in unlimitierten und bisher unbekannten Stärken ist heute in Alleinregie möglich, oftmals entkoppelt von realen analogen und vor allem verbindlichen Partnern.
Wenn ich von sexuellen Reizen der Superlative spreche, dann meine ich damit Pornografie, Hightech-Sex-Toys und ständig wechselnde unverbindliche und käufliche Partner. Die Folgen eines Überkonsums sehe ich seit zwei Jahrzehnten in immer stärkerem Ausmass in Form von Patienten, die mit hohem Leidensdruck tagtäglich meine Praxis fluten: Männer, die beim partnerschaftlichen Sex über erektile Dysfunktion, verzögerten oder ausbleibenden Orgasmus und Lustlosigkeit klagen und dies über alle Altersstufen hinweg – auch sehr junge Männer betrifft die Problematik. Ein anderes Bild ist das Verschieben sexueller Vorlieben immer weiter hin zu Extremen mit teilweise selbst- und fremdschädigendem Verhalten. Hochkomplex konditionierte Formen der Masturbation lassen den sexuellen Austausch mit realen Partnern immer schwieriger werden. Exzessive Doppelleben, ermöglicht durch die Abspaltung analoger und digitaler Welten, führen beim Auffliegen zu einem unschönen Aufwachen und traumatischen Zuständen. Auch der starke Anstieg im Konsum von Missbrauchsmaterial und die aus den Strafverfahren resultierende Bedrohung von Existenzen sind immer wieder Thema in meinem beruflichen Alltag. Dazu bereiten mir die Frage des viel zu frühen Kontaktes mit pornografischen Inhalten von Kindern und Heranreifenden sowie die dadurch ausgelösten Störungen der sexuellen Orientierung und sexuellen Identität Sorgen. Am Ende bleibt die Frage nach dem «Warum?», die immer mehr Menschen umtreibt und zum Nachdenken veranlasst.
Sexualität ist heute ein Konsumprodukt. Es zielt direkt auf unser archaisches altes mesolimbisches Belohnungssystem und führt hier zu einer Stoffwechselstörung im Dopaminhaushalt. Die Freiheiten, die Sexhedonisten noch geniessen können, wandeln sich bei denjenigen, die den Ausschalter nicht mehr finden, sukzessive in zwanghafte und süchtige destruktive Verhaltensweisen um.
Wie definieren wir Abhängigkeit?
War der Begriff der «Abhängigkeit» in der Vergangenheit auf den extrinsischen Konsum von Substanzmitteln begrenzt, weitet er sich heute auf intrinsisch erzeugte Abhängigkeiten durch repetitive belohnungsassoziierte Verhaltensweisen (substanzungebundene Verhaltenssüchte) aus. Dies kommt auch in der neuen Suchtdefinition der American Society of Addiction Medicine (ASAM) zum Ausdruck:
«Abhängigkeit ist eine behandelbare, chronische Krankheit, bei der komplexe Wechselwirkungen zwischen Gehirnschaltkreisen (Steuerung, Belohnung, Motivation, Erinnerung), Genetik, Umwelt und den Lebenserfahrungen des Einzelnen eine Rolle spielen. Suchtkranke Menschen konsumieren Substanzen oder legen Verhaltensweisen an den Tag, die zwanghaft werden und oft trotz schädlicher Folgen fortgesetzt werden. Die Präventionsbemühungen und Behandlungsansätze für Sucht sind im Allgemeinen ebenso erfolgreich wie bei anderen chronischen Krankheiten.“ (ASAM 2019)
Durch die Aufnahme der neuen Kategorie «Störungen durch süchtiges Verhalten» in die internationale Klassifikation von Erkrankungen (ICD-11) wurde durch die WHO offiziell anerkannt, dass belohnende Verhaltensweisen, analog zu psychotropen Substanzen, abhängig machen können. Neben der bereits in der ICD-10 gelisteten Glücksspielstörung wurde die «Internet Gaming Disorder» als neue Diagnose in diese Kategorie mitaufgenommen. Diese war zuvor noch den Impulskontrollstörungen zugeordnet, so wie seit 2018 auch die «zwanghaften sexuellen Störungen». Letztere stellen vermutlich eine weitere Verhaltenssucht dar, die in den nächsten Jahren in die Rubrik «Störungen durch süchtiges Verhalten» aufsteigen wird.
Überlappen sich süchtige und zwanghafte sexuelle Verhaltensweisen?
Sucht und Zwänge haben viele Gemeinsamkeiten. Während in der Sucht der Belohnungsreiz und sein Versprechen auf Linderung von oftmals negativen Empfindungen (der Alkoholiker trinkt, um zu vergessen etc.) im Vordergrund stehen, steht beim Zwang die Abwendung von einem Unheil im Vordergrund (z.B. die Abwendung von Krankheiten durch übertriebenes Händewaschen). Beiden ist gemein, dass sie das Denken, Fühlen und Handeln vollständig vereinnahmen können. Zudem haben Süchte und Zwänge die Tendenz, sich auszudehnen, sowohl bei dem Versuch, sie zu bekämpfen als auch beim Nachgeben des Impulses. Versucht man, den Impuls zu unterdrücken, entsteht ein Druck oder ein unangenehmes Gefühl, das für den Betroffenen nur schwerlich auszuhalten ist. Die Folgen davon sind weitreichende negative Konsequenzen für viele Lebensabschnitte und den direkt dabei involvierten Personenkreis.
Meine Erfahrungen bei der Diagnose
Patienten mit zwanghaften sexuellen Störungen, die meine Hilfe suchen, zeigen folgende Symptome:
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Obsessive Beschäftigung: Für sexuelle Fantasien oder die Vorbereitung und Durchführung sexueller Arrangements wird exzessiv viel Zeit aufgewandt.
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Toleranzentwicklung und Dosissteigerung: Immer mehr Zeit, Geld und Aufwand werden investiert, immer härteres Material wird konsumiert. Es kommt zur Ausweitung vom digitalen in den analogen Bereich.
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Kontrollverlust: Sexuelle Fantasien und Verhaltensweisen können nicht mehr ausreichend gesteuert werden.
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Negative Konsequenzen: In den Bereichen Gesundheit, Beziehung, Beruf, Finanzen und/oder Konflikte mit dem Gesetz kommt es zu negativen Auswirkungen.
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Entzugserscheinungen/Craving: Bei Absetzversuchen kommt es zu Unruhe, Dysphorie, Störungen von Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Gedankenkreisen.
Neben der Diagnosestellung ist auch die Abklärung von Komorbidität wichtig, da häufig AD(H)S, weitere Abhängigkeiten oder andere psychische Auffälligkeiten bei zwanghaften sexuellen Störungen eine Rolle spielen können.
Patienten kommen oftmals nach einem jahrelangen Leidensweg und hochgradig schambesetzt in therapeutische Einrichtungen auf der Suche nach Hilfe. Zuvor haben sie sich nicht selten schon im Internet über die negativen Auswirkungen eingehend informiert und unzählige Versuche hinter sich, um aus dem Teufelskreis auszubrechen. Deshalb ist es besonders wichtig, dass man als Therapeut sattelfest in Bezug auf die rasanten technologischen Veränderungen und deren Folgen für Sexualität und Beziehung ist.
Multimodularer Therapieansatz
Die Therapie setzt sich aus einem modularen individuell anzuwendenden System zusammen und besteht aus Psychoedukation, vor allem in Bezug auf das Belohnungssystem, sexuelle Superreize, externe und interne Triggerpunkte und den Suchtkreislauf. Die Abstinenz und deren konkrete Durchführung sind essenzieller Bestandteil jeder Therapie, um schlechte in gute Gewohnheiten zu transformieren. Häufig müssen indirekt betroffene Partner und Familienmitglieder in die Therapie mit einbezogen werden. Hilfreich ist auch der Besuch von Selbsthilfegruppen (AS = anonyme Sexsüchtige, LSAA = anonyme Sex- und Liebessüchtige).
Therapeutisch ist die «innere Kindheilung» ein wichtiger Baustein. Die Problematiken sind oftmals in der Kindheit oder Jugend mit ungelösten Problemen um die Bereiche Schuld, Schutz, Wut, Scham und Strafe angesiedelt. Hier ist es wichtig, schnell innerhalb des Systems des Patienten eine Lösung herbeizuführen. Ich mache dies über komplexe hypnosystemische Interventionen, die auch eine Teilearbeit im Sinne von Ego-State beinhalten. Dann sollten Patienten dazu befähigt werden, möglichst schnell und nachhaltig die Steuerungsfähigkeit zurückzuerlangen. Hier helfen Training der Achtsamkeit, Meditation und das Schreiben von speziellen Tagebüchern, um aus der Unschärfe des Nebels, den die Sucht verursacht («brain fog»), herauszutreten und immer wieder an die selbstdefinierten Ziele anzukoppeln. Diese sollten kein Vermeidungsziel beinhalten, sondern ein anzustrebendes Ziel, das alleine erreichbar und mit einem positiven Gefühl untermauert ist (nach dem Zürcher Ressourcenmodell). Die Arbeit mit zwanghaften und süchtigen Verhaltensstörungen im Bereich der Sexualität ist eine sehr dankbare Aufgabe, da die Klienten hilfesuchend in immer grösserer Anzahl nach Therapiemöglichkeiten Ausschau halten. Die Kernelemente, die bei der Steuerung sexueller Verhaltensweisen helfen, können auch auf andere suchterzeugende Bereiche angewendet werden, etwa zwanghafte und süchtige Verhaltensweisen im Konsum, beim Essen, in der Unterhaltung und beim Einkaufen.
Seminartipp für Therapeuten
«Porno- und Sexsucht erkennen und behandeln», veranstaltet von der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) am 12. und 13. November 2022 in Heidelberg
Mehr dazu unter: www.igst.org/veranstaltung/porno-und-sexsucht-erkennen-und-behandeln
Weiterführende Literatur:
● Melzer H: Scharfstellung. Die neue sexuelle Revolution. Eine Sexualtherapeutin spricht Klartext. Stuttgart: Klett-Cotta, 2018 ● Melzer H: Auswirkungen der Digitalisierung auf Sexualität und Beziehung. Klinische Beobachtungen und Handlungsempfehlungen. Nervenheilkunde 2019; 38(10): 759-64 ● Wilson G: Your Brain on Porn: Internet Pornography and the Emerging Science of Addiction. Cliftonville: Commonwealth Publishing, 2014. www.yourbrainonporn.com