
Die Zukunft der Psychiatrie
Bericht:
Dr. med. Norbert Hasenöhrl
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Die Psychiatrie wird sich in Zukunft verändern, auf psychosozialer, struktureller und wirtschaftlicher Ebene. Wie ein integriertes, zukunftsfähiges Behandlungsmodell aussehen könnte, erklärte der Hamburger Psychiater Martin Lambert an der SGPP-Jahrestagung in Bern.
Veränderungen: Was kommt auf uns zu?
«Die Herausforderungen, die uns in der Psychiatrie im Hinblick auf die Zukunft begegnen, sind psychosoziale, strukturmedizinische und wirtschaftliche Veränderungen», erklärte Prof. Dr. med. Martin Lambert, Psychiater am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. «Auf psychosozialem Gebiet haben wir zum einen die Digitalisierung, die alles verändert, aber auch die steigende Lebenserwartung; diese führt aber auch zu einem enormen Anstieg der Zahl von Demenzpatienten und damit auch zu einer extremen Kostensteigerung. Neue Medikamente werden Versorgungsprozesse möglicherweise stark verändern», so Lambert weiter. Was die Alzheimerdemenz angeht, so nimmt sie per se eigentlich nicht zu. Durch die Überalterung der Bevölkerung ist aber dennoch – schon bis zum Jahr 2050 – mit einer Zunahme von Alzheimererkrankungen um 120% zu rechnen.
Wie sieht die Datenlage zur Psychiatrie der Zukunft aus?
Eine kanadische Studie geht von einer steigenden Nachfrage nach psychosozialen Diensten und damit von verlängerten Wartezeiten auf eine Behandlung aus. Es wird zu einer Verlagerung der Behandlungen aus den Krankenhäusern in die ambulante bzw. wohnortnahe Versorgung der Patienten kommen. Auch erwarten die kanadischen Forschenden eine Zunahme schwerer psychischer Erkrankungen und ein Ansteigen der Rate junger Betroffener. Auf der Plusseite sind neue Therapieformen, technologische Fortschritte und Elemente der personalisierten Medizin zu nennen.Eine britische Arbeitsgruppe beschreibt einige besonders vulnerable Gruppen, wie alleinerziehende Mütter, Migranten und Flüchtlinge, Arme und Obdachlose. Insbesondere in urbanen Zentren kann die zunehmende Erhältlichkeit von Drogen ein Problem sein. «US-Daten zeigen uns, dass es tatsächlich einen Anstieg – auch schwerer – psychischer Erkrankungen gibt, der vor allem die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen, weniger die Älteren, betrifft», betonte der Psychiater.
Strukturmedizinische Veränderungen umfassen neue Technologien, das Zusammenwachsen von Psychiatrie, Neurologie und Neurochirurgie, andererseits die weitere Differenzierung von Strukturen (z.B. Kinder- und Jugendpsychiatrie), neue Medikamente, neue – vor allem ambulante – Versorgungsmodelle, sektorenübergreifende Zusammenarbeit und Peer-Support-Modelle. «In diesem Zusammenhang spielen Elemente der ‹Digital Health› eine grosse Rolle, weil es nicht möglich sein wird, in Zukunft alle Menschen, die Bedarf haben, persönlich psychosozial zu versorgen», erklärte Lambert. «Es wurde für die USA errechnet, dass 8,3-mal so viele Fachkräfte notwendig wären, um alle Psychiatriepatienten persönlich zu versorgen. Für Deutschland beträgt dieser Faktor immerhin 5,4. Das wird also niemals möglich sein, weshalb die Digitalisierung – von der Telepsychiatrie über Smartphone-Apps und soziale Medien bis hin zur künstlichen Intelligenz – so entscheidend ist.»
An zukünftigen wirtschaftlichen Veränderungen sind Fachkräftemangel, Ressourcenknappheit, Produktivitätsverlust und steigender Anteil der (psychiatrischen) Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu nennen. «Das sind für die Schweiz, laut Zahlen von 2015, umgerechnet ca. 26 Milliarden Franken, was 4,2% des BIP entspricht», referierte der Experte. «Wenn man bedenkt, dass die Geburtenrate sinkt und gleichzeitig die Lebenserwartung steigt, so ist damit klar, dass die Gesellschaft immer mehr in eine Abhängigkeit von der Produktivität und Gesundheit junger Menschen gerät. Mit anderen Worten: Wir können uns auch wirtschaftlich die Produktivitätsverluste durch schlecht oder gar nicht behandelte psychische Erkrankungen junger Leute gar nicht leisten!», so Lamberts drastische Warnung.
Das RECOVER-Projekt
Das in Hamburg entwickelte RECOVER-Projekt ist ein gestuftes, integriertes und koordiniertes Versorgungsmodell für psychische Erkrankungen.1 Es hat drei Ziele:
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Verbesserung der Effektivität und Effizienz der Versorgung durch bessere sektorenübergreifende Zusammenarbeit und Koordination sowie evidenzbasierte Ergänzungen des Versorgungssystems
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Eine vom Schweregrad unabhängige höhere Chance auf rasche und umfassende Gesundung für Patienten und Angehörige
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Verfügbarkeit eines effektiven und effizienten Referenzmodells
Zu diesem Zweck wurde ein Lenkungsausschuss aus Vertretern der Gesundheitsbehörde, der Krankenkassen, der Leistungserbringer sowie aus Patienten- und Angehörigenvertretern gebildet. Dann wurde ein sektorenübergreifendes und interdisziplinäres Netzwerk aus Kliniken, ambulanten Einrichtungen und Rehazentren geschaffen. Umfasst wurde ein Gebiet mit ca. 400000 Einwohnern und 275 Institutionen. Zwischen den Partnern wurde vertraglich ein Interessenausgleich vereinbart.
Das RECOVER-Modell hat drei zentrale Elemente. Zum einen eine nach Schweregrad gestufte Versorgung. Dabei ist die effektivste und am meisten Ressourcen sparende Behandlung Therapieoption der ersten Wahl. Zum andern erfolgt eine integrierte und koordinierte Versorgung, d.h., der Patient wird sektoren- und fachübergreifend versorgt und Qualitätssicherung ist sektorenübergreifend. Zum dritten ist die Versorgung evidenzbasiert, d.h., dass nur Behandlungskomponenten mit Wirksamkeitsnachweis verwendet werden. «Hier ist allerdings anzumerken, dass die evidenzbasierte Medizin wiederum aus drei Komponenten besteht», bemerkte Lambert, «nämlich aus der besten verfügbaren externen Evidenz, der individuellen klinischen Expertise und, nicht zuletzt, den Werten und Erfahrungen der Patienten selbst.» Die Art der Intervention hängt vom Schweregrad der Erkrankung ab, wobei vier Stufen unterschieden werden: leichter, mittlerer und hoher Schweregrad sowie, als höchste Stufe, die anhaltende schwere psychische Erkrankung. Für die Akutphase einer psychischen Erkrankung wurde ein «Crisis Resolution Team» geschaffen, ein multiprofessionelles, interdisziplinäres, fachärztlich geleitetes Team, das für die Akutbehandlung im häuslichen Umfeld zuständig ist. «Das dauert meist drei bis sechs Wochen», so der Experte. «Assertive Community Treatment» wird von einem ähnlichen Team gemacht, ist aber für schwere psychische Erkrankungen gedacht, wobei es hier kein Zeitlimit gibt. «Für bestimmte Indikationen gibt es auch eine integrierte digitale Therapie», berichtete Lambert. «Wir konnten in einer Studie, die mit 900 in diesem Modell behandelten Patienten gemacht wurde, signifikante Kosteneinsparungen und gleichzeitig eine signifikante Verbesserung der psychosozialen Gesundheit und der Lebensqualität der Betroffenen erreichen», so Lamberts Fazit.
Quelle:
Vortrag von Prof. Dr. med. Martin Lambert: «Die Zukunft der Psychiatrie», SGPP-Jahreskongress, 7.-8. September 2023, Bern
Literatur:
1 Lambert M et al.: Study protocol for a randomised controlled trial evaluating an evidence-based, stepped and coordinated care service model for mental disorders (RECOVER). BMJ Open 2020; 10(5): e036021
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