
«Wir dürfen sie nicht stigmatisieren»
Das Interview führten Julia Hirsch
und Dr. Gabriele Senti
Unsere Gesprächspartner:
Dr. med. Ingo Butzke
Chefarzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG
Dr. med. Samuel Iff
Facharzt für Prävention und Gesundheitswesen
Facharzt für Arbeitsmedizin, Bern
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Die Einnahme von leistungssteigernden Substanzen kennt man vor allem aus dem Leistungssport. Aber auch in der Allgemeinbevölkerung wird dies zu einem immer wichtigeren Thema. Dr. med. Ingo Butzke und Dr. med. Samuel Iff haben aus diesem Grund den Verein NIPED ins Leben gerufen. Im Gespräch erklären sie, welche Ziele sie damit verfolgen.

Der Verein NIPED wurde vor Kurzem gegründet. Mit welchem Zweck?
I. Butzke: NIPED steht für «Neuro Image and Performance Enhancing Drugs». Uns interessiert die Rolle des Medikamentengebrauchs im Zusammenhang mit Selbstoptimierung in der Allgemeinbevölkerung. N steht für Neuro im Sinne von Neuroenhancement, wie Smartdrugs und kognitivem Enhancement. I steht für Image. Da geht es vor allem um die Beeinflussung des Aussehens und der Muskelmasse durch Fitness und Bodybuilding. P wie in Performance kann viele Bereiche betreffen: den Sport, die Sexualität oder das Wohlbefinden. Und schliesslich Enhancing: die Verbesserung und Optimierung. Die aufgezählten Anwendungsgebiete unterscheiden sich von der konventionellen Medizin, die darauf abzielt, definierte Krankheitsbilder zu diagnostizieren und zu behandeln.
Welches sind die übergeordneten Ziele?
I. Butzke: Der Verein «Neuro, Image and Performance Enhancing Drugs (NIPED)» bezweckt die Förderung der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Schadensminderung der gesundheitlichen Folgen des nicht medizinischen Gebrauchs von Substanzen zur geistigen und körperlichen Leistungssteigerung sowie zur Verbesserung des Aussehens. Kurz zusammengefasst geht es darum, die Aufklärung und Forschung in diesem sich rasant entwickelnden Bereich voranzutreiben. Der Ansatz der „harm reduction“, zu Deutsch Schadensminderung, geht davon aus, dass Menschen auch dann Unterstützung beanspruchen dürfen, wenn sie nicht auf den Konsum von illegalen Substanzen verzichten können oder wollen. Ziel ist es, die Gesundheit zu verbessern und die Risiken des Konsums zu mindern, ohne eine Schudfrage aufzuwerfen oder ein moralisches Urteil zu fällen. Die Nebenwirkungen einer Anwendung sind vielfältiger Natur, wie Hormonstörungen und Abhängigkeit. Was natürlich wichtig ist: Der Verein propagiert keinesfalls die Einnahme dieser Substanzen, anerkennt aber, dass dies in unserer Leistungsgesellschaft vorkommt. Es ist bereits viel gewonnen, wenn erfolgreich zu einer risikobewussten Einnahme hingeführt wird.
In welchem Verhältnis steht NIPED zur SGSPP?
I. Butzke: Wir verstehen uns als ein ergänzendes Angebot. Viele unserer Mitglieder sind parallel auch Mitglieder in der SGSPP. Wir setzen mit unserer Arbeit einen anderen Schwerpunkt. Durch die Schärfung des Tätigkeitsprofils können die relevanten Personengruppen besser angesprochen und in ihrem Umfeld und ihrer Lebensweise abgeholt werden.
Welche Zielgruppen möchte der Verein ansprechen?
S. Iff: Neuroenhancement ist bei Studenten recht populär, aber auch in bestimmten Berufsgruppen, in denen im Schichtbetrieb gearbeitet wird – hierzu zählen auch medizinische Berufe. Oder Menschen, die beruflich oft reisen und dann dem Jetlag ausgesetzt sind – also wenn man diesen Wechsel von Wachsein und Schlafenwollen umkehren muss. Bei «image enhancing drugs» ist die Palette der Substanzen riesig – das reicht von stoffwechselanregenden Schilddrüsenhormonen für eine schlanke Figur bis zu anabolen Steroiden für ein besonders muskulöses Erscheinungsbild. Gebräuchlich sind diese Mittel bei Bodybuildern, Polizisten oder Security. Hinzu kommen dann alle Medikamente gegen Folgeerscheinungen, wie z.B. Viagra bei Libidostörungen. Beim Thema Anabolika denkt man hauptsächlich an die Bodybuilder in der Wettkampfszene, aber gerade auch in der Fitnessszene ist der Konsum sehr stark verbreitet, wenn auch versteckt. Man redet nicht darüber, man zeigt nur das Endresultat, seinen Körper. Besonders in der Influencerszene ist dies stark zu beobachten. Es geht dabei nicht um das klassische Doping, das mit dem Leistungssport verknüpft ist, sondern um den Substanzgebrauch von Menschen aus der Allgemeinbevölkerung, die ihr Aussehen verbessern möchten: Beispiele sind der eigene Nachbar oder der Kollege im Sportverein – also Leute, denen man diesen Konsum gar nicht ansehen würde. Unsere wichtigste Zielgruppe sind Männer zwischen 30 und 35, die beruflich erfolgreich und gut ausgebildet sind und die diese Substanzen anwenden.
Wie entstand die Gründungsidee?
I. Butzke: 2019 wurde die Schweizerische Gesellschaft für Sportpsychiatrie und -psychotherapie, die SGSPP, gegründet. Im Zuge der Tätigkeit in der SGSPP, in der sowohl Dr. Iff als auch ich Mitglied sind, haben wir relativ schnell bemerkt, dass es einen grossen Unterschied macht, ob man – so wie die SGSPP – in seiner Arbeit an Leistungssportler herantritt oder Menschen in der Allgemeinbevölkerung in den Fokus stellt. Dr. Iff und ich haben eine Sprechstunde für Personen aus der Fitness- und Bodybuildingszene gegründet und waren erstaunt, zu sehen, wie häufig der Gebrauch von Substanzen in der Allgemeinbevölkerung ist. Wir bemerkten auch, dass sich die Patienten oft allein gelassen fühlen. Sie verschweigen ihre Problematik ihrem Hausarzt aus Scham, oft auch, weil der Hausarzt meistens die ganze Familie kennt. Stattdessen suchen sie Auswege über die «Broscience» [Anm. der Red.: «Kumpelwissenschaft», Meinungsbildung im Bodybuilding und Fitness], also wissenschaftliches Halbwissen, das man unter Freunden teilt. Sie haben dadurch eine enorme Expertise aufgebaut, wenn auch die Quellen oft dubios sind. Hier ist es besonders wichtig, dem Broscience-Wissen abgesichertes Wissen aus Studien gegenüberzustellen, um die Anwender zu einem risikobewussten Konsum zu führen.
In welchem Verhältnis stehen Ihre berufliche Tätigkeit und Ihr Engagement bei der Gründung von NIPED?
S. Iff: Ich bin Epidemiologe und Facharzt für Arbeitsmedizin. Im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit gilt dem Neuroenhancement grosses Interesse. Ich habe aber auch Bodybuilding gemacht, war also «in der Szene drin» und konnte die Gepflogenheiten beobachten und hören, worüber gesprochen wurde. Ich kann daher aus erster Hand sagen: Wir müssen weg von diesem medizinischen Stigma. Wir Mediziner dürfen diese Patienten nicht stigmatisieren, sondern müssen sie ernst nehmen und mit ihnen über ihre Probleme sprechen, ohne dass die Schuldfrage in den Raum gestellt wird. Ich habe oft gehört, dass Patienten, die unter Nebenwirkungen litten, vom Behandler gesagt bekamen: «Da kann ich Ihnen nicht helfen» oder: «Was Sie machen, ist Doping, da müssen Sie einfach aufhören!» Gerade das geht aber eben nicht so einfach.
I. Butzke: Ich bin Psychiater und habe dadurch vor allem mit der Verwendung von klassischen Psychopharmaka als «neuroenhancing drugs» zu tun. Als behandelnder Arzt sehe ich immer wieder, dass beispielsweise Bodybuilder mit ihren Problemen allein gelassen werden. Es gibt keinen «Facharzt für Bodybuilding» – diese Personen fallen schlicht zwischen die Stühle der etablierten spezialärztlichen Disziplinen. Weil ich aber selbst in meiner Jugend viel Krafttraining betrieben habe, liegt mir diese Personengruppe am Herzen. Ich möchte nicht, dass diese Leute im Regen stehen – das ist mein persönlicher Anteil.
Welche Substanzen werden zur Leistungssteigerung eingesetzt?
S. Iff: Eine Studie aus den Niederlanden zeigt, dass in der Bodybuilder-Szene die Anwendung von Testosteron am weitesten verbreitet ist, gefolgt von Testosteronabkömmlingen und Zusatzmedikamenten, die gegen Nebenwirkungen genommen werden.
I. Butzke: Beim Neuroenhancement werden stimulierende und sedierende Substanzen unterschieden. Im Bereich der Stimulanzien sind es vor allem Abkömmlinge von Amphetaminen, Ritalin und Modafinil. Im Sportbereich sind Ephedrin-Abkömmlinge sehr beliebt. Dann gibt es auch verschiedene Appetitzügler und Schilddrüsenhormone. Zur Beruhigung und Angsthemmung nehmen die Leute Antidepressiva und Betablocker, unterschiedliche Aminosäuren, Benzodiazepine, aber auch einzelne Hormone, wie Testosteron, GHB, Melatonin bis zu Marihuana. Die Palette ist sehr breit.
Substanzgebrauch und Substanzgebrauchsstörung – wo verläuft hier die Grenze?
I. Butzke: Substanzgebrauchsstörungen gehen im Allgemeinen mit Verhaltensmustern einher, bei denen der Konsum trotz negativer Konsequenzen fortgesetzt wird. Die Termini «Sucht», «Missbrauch» , «riskanter Konsum» und «Abhängigkeit» werden traditionell im Zusammenhang mit Substanzgebrauchsstörungen verwendet. Diese Bezeichnungen werden häufig wertend verstanden, wirken verwirrend und scheinen uns deshalb für unseren Fokus nicht hilfreich. So ist der Konsum illegaler Substanzen zwar aus rechtlicher Sicht problematisch, beinhaltet jedoch nicht immer eine Substanzgebrauchsstörung. Meist steigert sich ein Experimentieren zu gelegentlichem Konsum, dann zu starkem Konsum bis hin zu einer Substanzgebrauchsstörung. Für uns steht nicht die pathologisierende Sichtweise, sondern vorbehaltlose Forschung und das Anbieten von Hilfe und Beratung im Vordergrund.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Unsere Gesprächspartner:
Dr. med. Ingo Butzke
Chefarzt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
PZM Psychiatriezentrum Münsingen AG
Dr. med. Samuel Iff
Facharzt für Prävention und Gesundheitswesen
Facharzt für Arbeitsmedizin, Bern
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