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Fachtagung «Distanzlos distanziert»

Weder zu nah noch zu fern

<p class="article-intro">Wie nahe darf man einem Patienten kommen? Muss man immer distanziert bleiben? Wie man den schmalen Grat zwischen Nähe und Abstand zum Patienten findet und wie sich das auf den therapeutischen Prozess auswirkt, diskutierten Therapeuten, Gesundheitsfachpersonen und psychiatrieerfahrene Menschen auf der ersten Fachtagung «Distanzlos distanziert» kürzlich in Bern.</p> <hr /> <p class="article-content"><p>Ziemlich distanziert &ndash; das kam einem als Erstes in den Sinn, als man durch die K&auml;lte von der Bushaltestelle zum Wirtschaftsgeb&auml;ude der Universit&auml;ren Psychiatrischen Dienste (UPD) in Bern stapfte. Wie sich zu viel Distanz oder umgekehrt zu viel N&auml;he auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken und wie man die schwierige Balance zwischen professioneller Distanz und einf&uuml;hlsamer N&auml;he bei psychiatrischen Patienten h&auml;lt, war Thema der ersten interdisziplin&auml;ren Tagung &laquo;Distanzlos distanziert&raquo;. &laquo;Wir sind eine Distanzgesellschaft geworden&raquo;, sagte Prof. Gregor Hasler, einer der beiden Organisatoren und Chefarzt bei den UPD. &laquo;In unserer Welt mit immer mehr geografischer Mobilit&auml;t, immer raffinierteren Kommunikationstechnologien und dem unstillbaren Verlangen nach Transparenz scheint es zunehmend schwieriger, pers&ouml;nliche und kulturelle Distanz richtig einzusch&auml;tzen.&raquo; Die professionelle Reflexion der zwischenmenschlichen Distanz in der Interaktion sowie der damit verbundenen Affekte komme im Alltag leider h&auml;ufig zu kurz, sagte Prof. Sabine Hahn, Koorganisatorin und Leiterin der Disziplin Pflege an der Berner Fachhochschule. &laquo;K&ouml;rperliche und psychische N&auml;he, wie man Grenzen setzt und was f&uuml;r Gef&uuml;hle Grenz&uuml;berschreitungen ausl&ouml;sen, ist ein enorm wichtiges Thema nicht nur in der Psychiatrie, sondern in allen Fachgebieten. Sie k&ouml;nnen einen wesentlichen Einfluss auf die Genesung und das Wohlergehen aller an der Interaktion beteiligten Personen haben.&raquo; In einer Zeit, in der Gespr&auml;chsfetzen, Emotionen, aber auch private Informationen jederzeit in die Welt hinausgetwittert werden, k&ouml;nne es zudem sehr schwierig sein, sich abzugrenzen.<br /> Die Zukunft in der Psychiatrie sei eine integrierte Versorgung, sagte Hahn, und es werde darum gehen, wie man besser und effizienter zusammenarbeiten k&ouml;nne. &laquo;Wir m&uuml;ssen die Betroffenen am Therapieprozess mehr beteiligen. Und dazu m&uuml;ssen wir wissen, wie wir die Balance zwischen N&auml;he und Distanz finden.&raquo;</p> <h2>Die Fachleute m&uuml;ssen die Grenzen einhalten</h2> <p>Dr. med. Werner Tschan, Psychiater in Basel, weiss, was schiefgehen kann, wenn man die Distanz als Therapeut nicht wahrt. Tschan ist Psychotraumatologe und hat schon Hunderte von F&auml;llen betreut, bei denen die Betroffenen in die Verstrickungen von Missbrauch und Distanzlosigkeit hineingekommen waren. &laquo;Wir als Fachleute sind f&uuml;r die Einhaltung der Grenzen verantwortlich, nicht der Patient&raquo;, sagte er. &laquo;Selbst wenn der Patient eine sexuelle Handlung w&uuml;nscht.&raquo; Man sei immer in dem Dilemma: Was ist zu wenig, was ist zu viel? D&uuml;rfen wir einem Patienten die Hand halten, wenn er weint? D&uuml;rfen wir dem Patienten ein Geschenk machen, etwas Nettes sagen? &laquo;Ja, das d&uuml;rfen wir, aber es h&auml;ngt immer vom Kontext ab&raquo;, so Tschan. In der Psychotherapie geh&ouml;rt es nicht zum Standard, die Hand eines Patienten zu halten. &laquo;Hat jemand einen Angeh&ouml;rigen verloren oder eine schlimme Diagnose erfahren, kann das aber okay sein&raquo;, erkl&auml;rte Tschan. &laquo;Wichtig ist, dass man sauber dokumentiert, dass es sich um professionelle N&auml;he handelte.&raquo; Eine klare Grenz&uuml;berschreitung sind jedoch alle Handlungen, die ins Sexuelle gehen: also eine Patientin zum Beispiel eindeutig anschauen, ihr mit verbalen &Auml;usserungen n&auml;herkommen oder sie an den Br&uuml;sten streicheln. Die Schweizerische Gesellschaft f&uuml;r Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) hat 2009 ein Positionspapier zu dem Thema herausgegeben<sup>1</sup>, und auch der Welt&auml;rztebund und andere Organisationen haben sich dazu ge&auml;ussert. &laquo;Es gibt aber kein Merkblatt, das uns eindeutig sagt, was noch okay ist&raquo;, sagte Tschan. &laquo;Im Zweifel kl&auml;rt man das am besten in der Supervision.&raquo; Nicht erlaubt ist, eine Behandlung abzubrechen, um danach mit dem Patienten eine sexuelle Beziehung aufzunehmen, selbst wenn der Patient das m&ouml;chte. &laquo;Das bedeutet rechtlich eine Ausnutzung des Abh&auml;ngigkeitsverh&auml;ltnisses&raquo;, so Tschan. &laquo;Die Abh&auml;ngigkeit dauert weit &uuml;ber das Behandlungsende hinaus.&raquo;<br /><br /> Die Fachdisziplinen h&auml;tten das Problem lange verschwiegen, erz&auml;hlte Tschan. Die &Uuml;bergriffe wurden heruntergespielt und als Einzelf&auml;lle bezeichnet, den Opfern wurde nicht geglaubt oder ihnen wurde vorgeworfen, sie h&auml;tten den Therapeuten verf&uuml;hrt. &laquo;Das Schweigen hat vor allem den T&auml;tern geholfen.&raquo; Wie h&auml;ufig sexuelle &Uuml;bergriffe durch Fachleute sind, ist nicht bekannt. Eine kanadische Umfrage ergab 1998, dass 1 % der Befragten in den letzten f&uuml;nf Jahren sexuelle &Uuml;bergriffe durch Fachleute im Gesundheitswesen erlebt hat. &Uuml;bertr&auml;gt man die Zahlen auf die Schweiz, w&auml;ren das mehr als 15 000 Betroffene. &laquo;Meist ist es ganz einfach: Gelegenheit macht Diebe. Man ist psychisch und k&ouml;rperlich so nah am Patienten, dass der Schritt zur sexuellen Handlung leicht ist.&raquo; Bekomme man mit, dass eine Kollegin oder ein Kollege sich sexuell einem Patienten n&auml;here, sei man in einem Dilemma. &laquo;Wir d&uuml;rfen das wegen unserer &auml;rztlichen Schweigepflicht nicht melden.&raquo; Das Beste in so einem Fall sei, mit seinem Supervisor zu reden, ebenso, wenn man selbst sich von seinem Patienten angezogen f&uuml;hle und ihm n&auml;herkommen m&ouml;chte.<br /><br /> Unterst&uuml;tzung bei der schwierigen Balance zwischen N&auml;he und Distanz k&ouml;nnen Peer-Mitarbeiter leisten: Menschen, die selbst eine psychische Diagnose und eine Therapie durchgemacht haben, werden durch eine 18-monatige Fortbildung zum Experten aus Erfahrung. Sie wissen, wie man sich als Patient f&uuml;hlt, wenn einem jemand zu nahe kommt, aber auch, wenn man sich mehr N&auml;he w&uuml;nscht. &laquo;Man bleibt immer noch &Auml;rztin oder Pflegerin, das heisst, die formale Ebene bleibt, aber man n&auml;hert sich dem Patienten auf andere Weise, etwa indem man seine Sprache spricht&raquo;, sagte Stephanie Ventling, die als Recovery-Expertin aus Erfahrung in der Psychiatrischen Privatklinik Sanatorium Kilchberg arbeitet. Die Recovery-Bewegung kommt aus den USA und setzt sich jetzt auch hierzulande durch. &laquo;Die eigene Erfahrung mit Krisen und psychischen Ersch&uuml;tterungen schafft sofort eine Verst&auml;ndnisebene zwischen Peers und Betroffenen &raquo;, sagte Ventling.<br /><br /> Jeder Mensch habe ein Grundbed&uuml;rfnis von N&auml;he: k&ouml;rperliche und emotionale, mentale, philosophische, spirituelle N&auml;he und N&auml;he durch gemeinsames Handeln. &laquo;Bis auf k&ouml;rperliche N&auml;he im sexuellen Kontext sind alle diese Arten von N&auml;he auch mit Patienten m&ouml;glich&raquo;, erkl&auml;rte Ventling. Also beispielsweise zusammen kochen, ein Puzzle legen oder Tischfussball. &laquo;Das macht etwas mit den Betroffenen und hilft beim therapeutischen Prozess. &raquo; Auf der anderen Seite hat jeder Mensch das Grundbed&uuml;rfnis von Distanz: Man braucht die Distanz, um den eigenen K&ouml;rper, die eigenen Gef&uuml;hle und Gedanken wahrzunehmen, sich eine eigene Meinung zu bilden und eigenst&auml;ndig zu handeln. Jeder S&auml;ugling ben&ouml;tigt das auf sein Wesen abgestimmte Mass an N&auml;he und Distanz, erkl&auml;rte Ventling. &laquo;Erf&auml;hrt jemand als Baby zu wenig N&auml;he, kann er sich sp&auml;ter emotional verlassen f&uuml;hlen und versucht sp&auml;ter im Leben, sich die fehlenden Emotionen auf andere Weise zu holen. &raquo; Abh&auml;ngigkeiten jeglicher Art k&ouml;nnen so entstehen, etwa Alkohol- oder Drogenabh&auml;ngigkeit, Esssucht, Spielsucht oder Kaufsucht. K&uuml;mmern sich die Eltern aber aus ihrem eigenen Bed&uuml;rfnis heraus &uuml;berf&uuml;rsorglich um das Kind, kommt es zu einer &laquo;emotionalen &Uuml;berflutung&raquo;, was sich sp&auml;ter als st&auml;ndige Unruhe oder Gereiztheit &auml;ussern kann, denn das Kind hatte keine Chance, Eigenraum zu entwickeln.<br /><br /> Erlebt ein Patient in der Klinik eine Panikattacke, k&ouml;nne es Sinn haben, sich zu fragen, was vorgefallen sei. &laquo;V&ouml;llig falsch ist in dieser Situation, dem Patienten zu sagen, er solle in seinem Zimmer Atem&uuml;bungen machen oder ein Medikament aus der Reserve nehmen&raquo;, sagte Ventling. Viel besser sei, den Patienten zu fragen, was vor einer halben Stunde passiert sei und ob er dar&uuml;ber reden wolle. &laquo;Oft ist es dann so, dass jemand dem Betroffenen zu nahe gekommen ist.&raquo; Das kann auch in einem Gespr&auml;ch bei Klinikeintritt passieren, etwa wenn einem Patienten zu seiner Befindlichkeit sehr pers&ouml;nliche Fragen gestellt werden.<br /><br /> &laquo;Wir m&uuml;ssen uns emotional auf den Patienten einschwingen. Und hier k&ouml;nnen wir Peers eine gute Br&uuml;cke zwischen Patient und Therapeut sein.&raquo; Sie h&ouml;ren aktiv zu, stellen interessierte, aber keine dr&auml;ngenden Fragen und erz&auml;hlen dem Patienten von ihrer Erfahrung und Genesungsgeschichte. &laquo;Als Patient denkt man immer, man ist der Einzige, der so etwas erlebt hat. H&ouml;rt man aber, dass es auch anderen so geht, f&uuml;hlt man sich nicht mehr so allein.&raquo;<br /><br /> Der therapeutische Prozess brauche N&auml;he und sorgf&auml;ltig dosierte Distanzlosigkeit, so das Fazit von Psychiater Hasler, zum Beispiel in Form von authentischen Deutungen, damit er &uuml;berhaupt in Gang komme. Anders herum sei gut dosierte Abstinenz notwendig. &laquo;Damit wir nicht einfach Bed&uuml;rfnisse befriedigen, sondern einen therapeutischen Prozess in Gang bringen.&raquo; In zwei Jahren soll die n&auml;chste Fachtagung dieser Art stattfinden.</p></p> <p class="article-quelle">Quelle: 1. Interdisziplinäre Fachtagung für psychiatrische, psychotherapeutische und psychosomatische Therapie und Pflege, 26. Januar 2017, Universitäre Psychiatrische Dienste Bern </p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Missbrauch in psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen. Positionspapier der SGPP. Download unter http://www.psychiatrie.ch/sgpp/ueber-uns/stellungnahmenund- positionspapiere/therapie-und-diagnostik/</p> </div> </p>
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