Warum es Behandlungsempfehlungen für die Schweizer gibt
Unser Gesprächspartner:
Prof. Dr. med. Gregor Hasler
Professor für Psychiatrie und Psychotherapie
Universität Freiburg
Chefarzt des Freiburger Netzwerks für Psychische Gesundheit
Präsident der Schweizer Gesellschaft für Bipolare Störungen (SGBS)
Das Interview führte
Dr. med. Felicitas Witte
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Zur Behandlung bipolarer Störungen gibt es diverse Leitlinien und Empfehlungen. Professor Gregor Hasler, einer der Autoren der Schweizer Behandlungsempfehlungen1 erklärt, warum die Schweiz eigene braucht und was die Unterschiede zu anderen Leitlinien sind.
Prof. Hasler, es gibt eine Leitlinie zur Diagnostik und Therapie bipolarer Störungen aus Deutschland, die sehr umfangreich und aktuell ist. Warum haben Sie und Ihre Kollegen eine für die Schweiz geschrieben?
Prof. Hasler: Das hat verschiedene Gründe. Den ersten erwähnten Sie selbst: Die deutsche Leitlinie ist viel zu ausführlich, als dass man sie im Alltag anwenden könnte. Mit Literatur umfasst das Dokument 594 Seiten – wer soll das denn lesen? Uns war wichtig, Ärzten und Psychologen in der Schweiz eine übersichtliche, kurze Leitlinie zur Verfügung zu stellen, die sie in der Praxis anwenden können.
Welche Gründe spielten noch eine Rolle?
Prof. Hasler: Ich mag mich täuschen, aber ich habe den Eindruck, die Autoren der deutschen Leitlinie sind recht konservativ, was neue Medikamente angeht. So empfehlen sie beispielsweise nicht das atypische Neuroleptikum Cariprazin, da es nicht zur Behandlung bipolarer Erkrankungen zugelassen sei. Wir empfehlen Cariprazin, aber als Option zur Behandlung einer Manie im Rahmen bipolarer Störungen. Wir halten die Evidenz für ausreichend. Die wirksame Dosierung von 1,5mg ist deutlich tiefer als die Dosierungsempfehlungen von bis zu 6,0mg bei Schizophrenie – so ist das Risiko für Nebenwirkungen bei den bipolaren Patienten dann auch geringer. Das Nebenwirkungsprofil der Medikamente halten wir für wichtig. Auch das ist ein weiterer Grund, warum wir eine eigene Leitlinie geschrieben haben.
Können Sie diesen Punkt näher ausführen?
Prof. Hasler: Mir scheint, die deutschen Kollegen legen den Schwerpunkt mehr auf die Wirksamkeit der Medikamente und lassen die Nebenwirkungen etwas ausser Acht. So empfehlen wir beispielsweise Carbamazepin nicht, weil es zu viele unerwünschte Wirkungen hat. Die deutschen Kollegen erwähnen zwar, dass unter Carbamazepin in den Studien unerwünschte Wirkungen häufiger als unter Placebo auftraten und im Trend zum häufigeren Studienabbruch führten. Trotzdem schreiben sie: «Carbamazepin (Retard) sollte als Monotherapie zur Behandlung der Manie oder von Mischzuständen eingesetzt werden.»
In der deutschen Leitlinie wird die Elektrokrampftherapie erwähnt, in Ihren Behandlungsempfehlungen nicht. Hat das einen Grund?
Prof. Hasler: Die Evidenz ist unseres Erachtens nicht ausreichend, deshalb empfehlen wir die Behandlung nicht. Das heisst aber nicht, dass unsere Entscheidung richtiger ist. In Deutschland hat die Elektrokrampftherapie eine lange Tradition. Der Psychiater und Neurologe Friedrich Meggendorfer führte in seiner Erlanger Klinik am 1. Dezember 1939 die erste Elektrokrampftherapie durch, ab 1942 wurde generell von der Insulinschocktherapie auf die Elektrokrampftherapie umgestellt. Im Laufe der Jahrzehnte wurde die Technik kontinuierlich verbessert, es wurden strenge Sicherheitsbestimmungen eingeführt sowie juristische Rahmenbedingungen. Doch hierzulande begegnet man der Elektrokrampftherapie immer noch mit einer gewissen Skepsis.
Welche Gemeinsamkeiten haben Ihre Behandlungsempfehlung und die deutsche Leitlinie?
Prof. Hasler: Uns verbindet mit den Deutschen eine gewisse Gründlichkeit und Seriosität. Ferner sind die wichtigen Schlussfolgerungen recht ähnlich. Aus meiner Sicht ist aber die deutsche Leitlinie wirklich für Deutschland gedacht. Ich sehe sie als eine Art politisches Dokument, einen Konsensus für Streitigkeiten mit den Krankenkassen, eine Einigung deutscher Interessenverbände – aufgeführt sind etwa die AG Versorgung, die AG Patientengruppen oder die AG Angehörige. Die deutschen Ärzte, die ich kenne, lesen diese DGPPN-Leitlinie nicht, sondern halten sich beispielsweise an die kanadische Leitlinie.2
Warum heisst Ihr Dokument «Behandlungsempfehlung» und nicht Leitlinie?
Prof. Hasler: In der Schweiz haben wir eine lange Tradition der Skepsis gegenüber Autoritäten aller Art, auch gegenüber Fachexperten. Schweizer Ärzte wollen nicht entlang Linien geleitet werden. Deshalb haben wir den bescheideneren Titel «Empfehlung» gewählt.
Nach welcher Literatur orientierten Sie sich?
Prof. Hasler:Vor allem nach der kanadischen Leitlinie.2 1995 wurde in Kanada eine Expertengruppe eingerichtet, das Canadian Network for Mood and Anxiety Treatments (CANMAT). Einer der Vorsitzenden, der Psychiater Sidney Kennedy aus Toronto, ist extrem engagiert und weiss sehr viel. Was er schreibt, hat Hand und Fuss. Die CANMAT gibt die Leitlinie gemeinsam mit der International Society for Bipolar Disorders (ISBD) heraus. Kennedy ist einer der federführenden Autoren. Die Leitlinie ist zwar länger als unsere, aber sehr übersichtlich. Mir gefällt vor allem die Tabelle 12 «Hierarchical rankings of first and second-line treatments recommended for management of acute mania». Hier ist auf den ersten Blick mit einfachen Symbolen zu erkennen, welches Medikament gegen welches Symptom mit welcher Evidenz wirkt.
Welche Auswirkungen hat es auf den Behandlungserfolg, wenn sich ein Arzt an die deutsche Leitlinie hält und ein anderer an jene der SGBS?
Prof. Hasler: Der Unterschied sollte gering sein.
Sie haben auch eine französische Behandlungsempfehlung herausgegeben. Wonach haben Sie sich bei dieser gerichtet?
Prof. Hasler: Wir haben für die französische Version die Behandlungsempfehlungen 1:1 vom Deutschen in das Französische übersetzt.
Welche sind für Sie die wichtigsten Punkte in der Schweizerischen Behandlungsempfehlung?
Prof. Hasler:Lithium ist weiter «Goldstandard». Es ist Mittel der ersten Wahl bei der akuten Manie und vor allem bei der Langzeitbehandlung bipolarer Störungen. Auch atypische Antipsychotika kommen als Mittel der ersten Wahl bei der Manie, der bipolaren Depression und der Langzeitbehandlung infrage. Antikonvulsiva weisen unterschiedlich auf den manischen und depressiven Pol: Valproat wirkt akut-antimanisch, Lamotrigin schützt vor Depressionen. Zusätzliche Interventionen wie Psychoedukation, Psychotherapie, Ernährungsberatung, Sport und Lifestyle-Coaching sind wichtig.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Literatur:
1 Hasler G et al.: Schweizerisches Medizin Forum 2019; 19: 537-46 2 Yatham LN et al.: Bipolar Disorders 2018; 20: 97-170
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