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Von der „Teufelspflanze“ zum „Wunderkraut“
Jatros
30
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08.09.2016
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<p class="article-intro">Cannabinoide stehen noch weitgehend in Konkurrenz mit den etablierten Medikamenten der Schulmedizin, in der anekdotische Fallberichte kaum oder nicht akzeptiert werden. Nicht nur die (noch) lückenhafte klinische Datenlage, sondern auch die Stigmatisierung als illegale Droge steht einer Remedizinalisierung entgegen. Handlungsbedarf besteht in der Durchführung von placebokontrollierten klinischen Studien und der Entwicklung von sicheren und effizienten Applikationsformen.</p>
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<p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite51.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Seit 4.000 bis 5.000 Jahren wird Cannabis immer wieder als Heilpflanze erwähnt. Wann die Geschichte der Stigmatisierung begonnen hat, ist nicht bekannt. Im Jahr 1961 haben sich 180 Nationen in der „Single Convention on Narcotic Drugs“ auf Richtlinien für den Umgang mit Drogen geeinigt, die ab den 70er- und 80er-Jahren auch in Verbote umgesetzt wurden. Dem ging ein jahrelanger Streit zwischen Hersteller-, Verarbeitungs- und neutralen Ländern und ihren unterschiedlichen Interessen voraus. „Obwohl es keine wissenschaftliche Rechtfertigung dafür gab, wurde darin Cannabis denselben Beschränkungen wie Opium und Heroin unterworfen“, berichtet Prim. Dr. Christian Korbel, Vorstand der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im LKH Mauer und Suchtbeauftragter des Landes Niederösterreich.</p> <h2>Das Netzwerk im Körper</h2> <p>Trotz der zum großen Teil immer noch vorherrschenden Tabuisierung von Cannabis haben große Pharmakonzerne eigene Forschungsbereiche eingerichtet, um therapeutische Targets zu definieren. Auch die Anzahl der Publikationen im Bereich des endocannabinoiden Systems, das erst in den 1990er-Jahren entdeckt wurde, ist in den letzten Jahren förmlich explodiert (PubMed, Stand Juni 2016: Cannabis 15.203, Cannabinoide 13.496, Phytocannabinoide 131, Endocannabinoide 5.545, THC 8.373, Cannabinoide + Medizin 2.617, Cannabis + Medizin 2.689, Cannabis + Sucht 1.613).<br /> Das dem Menschen und allen Säugetieren körpereigene System von Cannabinoiden ist äußerst komplex und umfangreich. „Es gibt Bindungsstellen in Gehirn, Auge, Mandeln, Rückenmark, Herz, Haut, Milz, Leber, Leukozyten, Reproduktionsorganen, Nervenendigungen, Knochen und Muskeln“, erklärt Prof. Dr. pharm. Rudolf Brenneisen, Schweizer Arbeitsgruppe für Cannabinoide in der Medizin (SACM).<br /> <br /> Die aus Exocannabinoiden (THC etc.) und Endocannabinoiden (AEA, 2-AG etc.) gewonnenen Substanzen beeinflussen sich in diesem System gegenseitig. Über CB1-und CB2-Rezeptoren wirken sie auf das System der Endorphine, Katecholamine, Glukokortikoide, Leptin, cAMP, Acetylcholin, GABA, Na<sup>+</sup>-, K<sup>+</sup>-Kanäle, Prostaglandine, NMDA, Serotonin, Proteinkinase, Dopamin und Phospholipase C ein. „Das Einzige, was man von diesen komplexen Abläufen wirklich sagen kann, ist, dass es Prozesse in diesem System gibt, die extrazellulär, und andere, die intrazellulär ablaufen, und dass das Endocannabinoid-System einen lebenswichtigen Key-Player darstellt, ohne den ein Mensch, aber auch jedes andere Säugetier nicht überlebensfähig wäre“, so Brenneisen. „Es vernetzt und steuert Prozesse, spielt eine Rolle in der Verarbeitung negativer Erinnerungen, von Traumata und Stress, bei psychischen Krankheiten (Schizophrenie, Depression), Drogenabusus, in der Angstwahrnehmung, Schlafkontrolle, Schmerzwahrnehmung, Bewegungskontrolle sowie in der Kontrolle von Appetit und Nahrungsaufnahme etc.“</p> <h2>Das „Wunderkraut“</h2> <p>Aktuell werden übergroße und unrealistische Erwartungen an das „Wundermittel“ Cannabis und das therapeutische Potenzial der Cannabispflanze bzw. einzelner Cannabinoide geschürt. Diese durch soziale Medien und Mundpropaganda verbreitete „Indikationslyrik“ beinhaltet die Hilfe und Heilung etwa von chronischen Entzündungen, Autismus, Spasmen, Hirntrauma, Asthma, Schmerz (chronisch, neuropathisch), Krebs, neurologischen Erkrankungen (Migräne, Epilepsie, Tourette, Parkinson etc.), Fibromyalgie, Depression, Angst, Schlafstörungen, Burnout, Appetitlosigkeit, Auszehrung, psychischen Störungen, Schluckauf, Tinnitus, Übelkeit, Erbrechen etc.</p> <h2>Cannabinoide und Psyche</h2> <p>Vielversprechende (kleine) Studien und Einzelfallberichte gibt es unter anderem zu Cannabinoiden bei psychischen Erkrankungen. In einer offenen Pilotstudie aus Israel wurden 30 Kriegsveteranen mit PTBS (posttraumatisches Belastungssyndrom) Cannabiszigaretten (23 % THC, <1 % Cannabidiol, max. 100g/Monat) verabreicht. Ergebnis: Die intrusive Symptomatik verbesserte sich um 51 % nach zwei Monaten, Vermeidungssymptome reduzierten sich um 38 % und „Increased arousal“-Symptome (erhöhte Erregung) um 43 % .<sup>1</sup> „Cannabidiol, ein nicht psychoaktives Cannabinoid, hat bekanntermaßen einen antipsychotischen Effekt, ähnlich wie manche Antipsychotika, jedoch deutlich weniger Nebenwirkungen“, so Brenneisen. Beeindruckende (anekdotische) Patientenberichte gibt es auch zum Tourette-Syndrom. <br /> Die Krankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) ist nach wie vor nicht heilbar, es können lediglich die Symptome gelindert und die Lebensqualität verbessert werden. In einer klinischen Studie mit THC wurden bei ALS-Patienten eine Reduktion der Muskelspastik und der Zellschäden sowie ein neuroprotektiver Effekt beobachtet.<br /> <br /> Das „Id-1“-Protein ist eine Schlüsselsubstanz in der Entwicklung von Brustkrebsmetastasen und ist auch bei anderen Tumoren hochreguliert. Mit Cannabidiol sinkt die Id-1-Genexpression und damit die Tumoraggressivität.<sup>2</sup> „Durch die niedrige Toxizität und die nicht psychoaktive Wirkung könnte es ein idealer Kandidat für eine dauerhafte Applikation sein“, sagt Brenneisen.<br /> <br /> In einer kanadischen Studie an (neuropathischen) Schmerzpatienten (n=23), die 3x 25mg/Tag Medizinalcannabis (State Medical Cannabis) mit einem THC-Gehalt von 9,4 % erhielten, kam es zu einer signifikanten Reduktion der Schmerzintensität und einer höheren Schlafqualität. Die Maßnahme ging mit wenigen Nebenwirkungen (Kopfweh, Husten, Benommenheit) einher.<sup>3</sup><br /> <br /> Eine weitere Untersuchung ging der Frage nach, inwieweit THC schizophrenogen wirkt bzw. ob es etwa ein neuronales Substrat ähnlich wie Schizophrenie moduliert. Es zeigte sich, dass die Synchronisation neuronaler Oszillationen nach 1,25mg THC i.v. signifikant gestört wird. Der Grad der Störung steht in Relation zu den THC-induzierten Symptomen (Angst, Verfolgungswahn, Wahrnehmungsstörungen etc.<sup>4</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Cannabinoide sind sichere hochpotente Medikamente, die akute physische Toxizität von THC und Cannabis ist marginal. Die therapeutische Breite des THC ist relativ schmal. Die akute und chronische psychische Toxizität beim „Freizeitkonsum“ von Cannabis ist abhängig vom THC-Gehalt, der Applikationsform, der Vulnerabilität, dem Alter, dem Konsumbeginn, der Konsumfrequenz und -dauer. Bei strikter Abgrenzung der Indikation und streng kontrollierter Anwendung ist das therapeutische Abhängigkeits­potenzial vernachlässigbar klein. „Obwohl Cannabinoide durch ein sehr breites Indikationsspektrum gekennzeichnet sind, sollten diese nicht als Wundermedikamente deklariert werden“, sagt Prof. Dr. pharm. Brenneisen. THC und THC-Cannabis wiederum sind und bleiben Betäubungsmittel, weshalb es keinen OTC-Verkauf geben kann.</p> </div></p>
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<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
<div class="collapse" id="collapseLiteratur">
<p><strong>1</strong> Mashiah M: 7th National Clinical Conference on Cannabis, Tucson 2012 <br /><strong>2</strong> McAllister SD et al: Mol Cancer Ther 2007; 6(11): 2921-27 <br /><strong>3</strong> Ware MA et al: CMAJ 2010; 182(14): e694-e701 <br /><strong>4</strong> Stone JM et al: Mol Psych 2011; 16(3): 286-292</p>
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