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Cannabis

Von der „Teufelspflanze“ zum „Wunderkraut“

<p class="article-intro">Cannabinoide stehen noch weitgehend in Konkurrenz mit den etablierten Medikamenten der Schulmedizin, in der anekdotische Fallberichte kaum oder nicht akzeptiert werden. Nicht nur die (noch) lückenhafte klinische Datenlage, sondern auch die Stigmatisierung als illegale Droge steht einer Remedizinalisierung entgegen. Handlungsbedarf besteht in der Durchführung von placebokontrollierten klinischen Studien und der Entwicklung von sicheren und effizienten Applikationsformen.</p> <hr /> <p class="article-content"><p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite51.jpg" alt="" width="" height="" /></p> <p>Seit 4.000 bis 5.000 Jahren wird Cannabis immer wieder als Heilpflanze erw&auml;hnt. Wann die Geschichte der Stigmatisierung begonnen hat, ist nicht bekannt. Im Jahr 1961 haben sich 180 Nationen in der &bdquo;Single Convention on Narcotic Drugs&ldquo; auf Richtlinien f&uuml;r den Umgang mit Drogen geeinigt, die ab den 70er- und 80er-Jahren auch in Verbote umgesetzt wurden. Dem ging ein jahrelanger Streit zwischen Hersteller-, Verarbeitungs- und neutralen L&auml;ndern und ihren unterschiedlichen Interessen voraus. &bdquo;Obwohl es keine wissenschaftliche Rechtfertigung daf&uuml;r gab, wurde darin Cannabis denselben Beschr&auml;nkungen wie Opium und Heroin unterworfen&ldquo;, berichtet Prim. Dr. Christian Korbel, Vorstand der Abteilung f&uuml;r Abh&auml;ngigkeitserkrankungen im LKH Mauer und Suchtbeauftragter des Landes Nieder&ouml;sterreich.</p> <h2>Das Netzwerk im K&ouml;rper</h2> <p>Trotz der zum gro&szlig;en Teil immer noch vorherrschenden Tabuisierung von Cannabis haben gro&szlig;e Pharmakonzerne eigene Forschungsbereiche eingerichtet, um therapeutische Targets zu definieren. Auch die Anzahl der Publikationen im Bereich des endocannabinoiden Systems, das erst in den 1990er-Jahren entdeckt wurde, ist in den letzten Jahren f&ouml;rmlich explodiert (PubMed, Stand Juni 2016: Cannabis 15.203, Cannabinoide 13.496, Phytocannabinoide 131, Endocannabinoide 5.545, THC 8.373, Cannabinoide + Medizin 2.617, Cannabis + Medizin 2.689, Cannabis + Sucht 1.613).<br /> Das dem Menschen und allen S&auml;ugetieren k&ouml;rpereigene System von Cannabinoiden ist &auml;u&szlig;erst komplex und umfangreich. &bdquo;Es gibt Bindungsstellen in Gehirn, Auge, Mandeln, R&uuml;ckenmark, Herz, Haut, Milz, Leber, Leukozyten, Reproduktionsorganen, Nervenendigungen, Knochen und Muskeln&ldquo;, erkl&auml;rt Prof. Dr. pharm. Rudolf Brenneisen, Schweizer Arbeitsgruppe f&uuml;r Cannabinoide in der Medizin (SACM).<br /> <br /> Die aus Exocannabinoiden (THC etc.) und Endocannabinoiden (AEA, 2-AG etc.) gewonnenen Substanzen beeinflussen sich in diesem System gegenseitig. &Uuml;ber CB1-und CB2-Rezeptoren wirken sie auf das System der Endorphine, Katecholamine, Glukokortikoide, Leptin, cAMP, Acetylcholin, GABA, Na<sup>+</sup>-, K<sup>+</sup>-Kan&auml;le, Prostaglandine, NMDA, Serotonin, Proteinkinase, Dopamin und Phospholipase C ein. &bdquo;Das Einzige, was man von diesen komplexen Abl&auml;ufen wirklich sagen kann, ist, dass es Prozesse in diesem System gibt, die extrazellul&auml;r, und andere, die intrazellul&auml;r ablaufen, und dass das Endocannabinoid-System einen lebenswichtigen Key-Player darstellt, ohne den ein Mensch, aber auch jedes andere S&auml;ugetier nicht &uuml;berlebensf&auml;hig w&auml;re&ldquo;, so Brenneisen. &bdquo;Es vernetzt und steuert Prozesse, spielt eine Rolle in der Verarbeitung negativer Erinnerungen, von Traumata und Stress, bei psychischen Krankheiten (Schizophrenie, Depression), Drogenabusus, in der Angstwahrnehmung, Schlafkontrolle, Schmerzwahrnehmung, Bewegungskontrolle sowie in der Kontrolle von Appetit und Nahrungsaufnahme etc.&ldquo;</p> <h2>Das &bdquo;Wunderkraut&ldquo;</h2> <p>Aktuell werden &uuml;bergro&szlig;e und unrealistische Erwartungen an das &bdquo;Wundermittel&ldquo; Cannabis und das therapeutische Potenzial der Cannabispflanze bzw. einzelner Cannabinoide gesch&uuml;rt. Diese durch soziale Medien und Mundpropaganda verbreitete &bdquo;Indikationslyrik&ldquo; beinhaltet die Hilfe und Heilung etwa von chronischen Entz&uuml;ndungen, Autismus, Spasmen, Hirntrauma, Asthma, Schmerz (chronisch, neuropathisch), Krebs, neurologischen Erkrankungen (Migr&auml;ne, Epilepsie, Tourette, Parkinson etc.), Fibromyalgie, Depression, Angst, Schlafst&ouml;rungen, Burnout, Appetitlosigkeit, Auszehrung, psychischen St&ouml;rungen, Schluckauf, Tinnitus, &Uuml;belkeit, Erbrechen etc.</p> <h2>Cannabinoide und Psyche</h2> <p>Vielversprechende (kleine) Studien und Einzelfallberichte gibt es unter anderem zu Cannabinoiden bei psychischen Erkrankungen. In einer offenen Pilotstudie aus Israel wurden 30 Kriegsveteranen mit PTBS (posttraumatisches Belastungssyndrom) Cannabiszigaretten (23 % THC, &lt;1 % Cannabidiol, max. 100g/Monat) verabreicht. Ergebnis: Die intrusive Symptomatik verbesserte sich um 51 % nach zwei Monaten, Vermeidungssymptome reduzierten sich um 38 % und &bdquo;Increased arousal&ldquo;-Symptome (erh&ouml;hte Erregung) um 43 % .<sup>1</sup> &bdquo;Cannabidiol, ein nicht psychoaktives Cannabinoid, hat bekannterma&szlig;en einen antipsychotischen Effekt, &auml;hnlich wie manche Antipsychotika, jedoch deutlich weniger Nebenwirkungen&ldquo;, so Brenneisen. Beeindruckende (anekdotische) Patientenberichte gibt es auch zum Tourette-Syndrom. <br /> Die Krankheit ALS (amyotrophe Lateralsklerose) ist nach wie vor nicht heilbar, es k&ouml;nnen lediglich die Symptome gelindert und die Lebensqualit&auml;t verbessert werden. In einer klinischen Studie mit THC wurden bei ALS-Patienten eine Reduktion der Muskelspastik und der Zellsch&auml;den sowie ein neuroprotektiver Effekt beobachtet.<br /> <br /> Das &bdquo;Id-1&ldquo;-Protein ist eine Schl&uuml;sselsubstanz in der Entwicklung von Brustkrebsmetastasen und ist auch bei anderen Tumoren hochreguliert. Mit Cannabidiol sinkt die Id-1-Genexpression und damit die Tumoraggressivit&auml;t.<sup>2</sup> &bdquo;Durch die niedrige Toxizit&auml;t und die nicht psychoaktive Wirkung k&ouml;nnte es ein idealer Kandidat f&uuml;r eine dauerhafte Applikation sein&ldquo;, sagt Brenneisen.<br /> <br /> In einer kanadischen Studie an (neuropathischen) Schmerzpatienten (n=23), die 3x 25mg/Tag Medizinalcannabis (State Medical Cannabis) mit einem THC-Gehalt von 9,4 % erhielten, kam es zu einer signifikanten Reduktion der Schmerzintensit&auml;t und einer h&ouml;heren Schlafqualit&auml;t. Die Ma&szlig;nahme ging mit wenigen Nebenwirkungen (Kopfweh, Husten, Benommenheit) einher.<sup>3</sup><br /> <br /> Eine weitere Untersuchung ging der Frage nach, inwieweit THC schizophrenogen wirkt bzw. ob es etwa ein neuronales Substrat &auml;hnlich wie Schizophrenie moduliert. Es zeigte sich, dass die Synchronisation neuronaler Oszillationen nach 1,25mg THC i.v. signifikant gest&ouml;rt wird. Der Grad der St&ouml;rung steht in Relation zu den THC-induzierten Symptomen (Angst, Verfolgungswahn, Wahrnehmungsst&ouml;rungen etc.<sup>4</sup></p> <div id="fazit"> <h2>Fazit</h2> <p>Cannabinoide sind sichere hochpotente Medikamente, die akute physische Toxizit&auml;t von THC und Cannabis ist marginal. Die therapeutische Breite des THC ist relativ schmal. Die akute und chronische psychische Toxizit&auml;t beim &bdquo;Freizeitkonsum&ldquo; von Cannabis ist abh&auml;ngig vom THC-Gehalt, der Applikationsform, der Vulnerabilit&auml;t, dem Alter, dem Konsumbeginn, der Konsumfrequenz und -dauer. Bei strikter Abgrenzung der Indikation und streng kontrollierter Anwendung ist das therapeutische Abh&auml;ngigkeits&shy;potenzial vernachl&auml;ssigbar klein. &bdquo;Obwohl Cannabinoide durch ein sehr breites Indikationsspektrum gekennzeichnet sind, sollten diese nicht als Wundermedikamente deklariert werden&ldquo;, sagt Prof. Dr. pharm. Brenneisen. THC und THC-Cannabis wiederum sind und bleiben Bet&auml;ubungsmittel, weshalb es keinen OTC-Verkauf geben kann.</p> </div></p> <p class="article-footer"> <a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a> <div class="collapse" id="collapseLiteratur"> <p><strong>1</strong> Mashiah M: 7th National Clinical Conference on Cannabis, Tucson 2012 <br /><strong>2</strong> McAllister SD et al: Mol Cancer Ther 2007; 6(11): 2921-27 <br /><strong>3</strong> Ware MA et al: CMAJ 2010; 182(14): e694-e701 <br /><strong>4</strong> Stone JM et al: Mol Psych 2011; 16(3): 286-292</p> </div> </p>
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