<p class="article-intro">Zunehmend mehr Menschen suchen Beratung oder Behandlung in Bezug auf übermäßigen bzw. pathologischen Internetkonsum. Dieses Phänomen ist neu und es gibt folglich kaum Standards in der Diagnostik und Therapie. Die Helfersysteme sind deshalb oft überfordert und es gibt nur sehr wenige spezialisierte Beratungs- oder Behandlungseinrichtungen für die Internetsucht.</p>
<p class="article-content"><div id="keypoints"> <h2>Key Points</h2> <ul> <li>Diagnostisch handelt es sich beim pathologischen Internetkonsum um eine substanz­ungebundene Suchterkrankung und nicht um eine Störung der Impulskontrolle.</li> <li>Die Prävalenz dieser Suchterkrankung ist im Steigen.</li> <li>Im Fokus der Anamnese stehen psychosoziale Folgen des exzessiven Verhaltens.</li> <li>Verhaltenstherapeutische Gruppentherapien scheinen derzeit die sinnvollste Behandlungsmethode zu sein neben der Beratung der Angehörigen.</li> <li>Die Psychiatrien und außerstationäre Beratungseinrichtungen müssen mehr Angebote für die Betroffenen entwickeln.</li> </ul> </div> <p>Internet- bzw. Onlinesüchte werden im ICD-10 nicht erwähnt und fallen wie auch Kaufsucht unter F63.9, also nicht näher bezeichnete Störungen der Impulskontrolle. Das verwundert nicht weiter, wenn man bedenkt, dass in der Entwicklungszeit des ICD-10 das Internet im Alltagsleben kaum Bedeutung hatte. Allerdings ist diese Zuordnung unglücklich, da unter F63 (abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle) ein impulshaftes, nicht kontrollierbares und wiederkehrendes Verhalten ohne vernünftige Motivation verstanden wird, welches einen Schaden für den Betroffenen oder andere mit sich bringt. Diese Beschreibung trifft allerdings auf Teilaspekte von sehr vielen psychischen Erkrankungen zu, allen voran substanzbezogene Störungen und Zwangsstörungen. Insofern ist Klassifizierung unter der Restkategorie F63.9 nicht hilfreich, um das dahinterliegende Problem zu begreifen oder gar eine sinnvolle Therapieplanung zu entwickeln.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite42.jpg" alt="" width="952" height="531" /></p> <h2>Klassifikation und Diagnostik</h2> <p>Während man beim DSM-5 erfreulicherweise wenigstens die Glücksspielabhängigkeit in das Kapitel der Suchterkrankungen aufnahm („substance-related and addictive disorders“), konnte man sich bei Internet­abhängigkeit leider nicht zu einer klaren Position durchringen, sondern weist lediglich im Appendix darauf hin, dass das „internet gaming disorder“ weiterer klinischer Forschung und Erfahrung bedarf. Allerdings bezieht sich diese Störung ausschließlich auf Online-Computerspiele und nicht etwa auf die exzessive Nutzung von sozialen Medien oder Online-Pornografie.<br /> In der Entwicklung des ICD-11 ist derzeit leider die Diagnose Internetabhängigkeit nicht vorgesehen, was keine reife Leistung ist, wenn man bedenkt, wie viele Menschen sich diesbezüglich hilfesuchend an Beratungsstellen oder Gesundheitseinrichtungen wenden. Im Hinblick auf die Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Suchterkrankungen ist es einstweilen für den klinischen Alltag legitim und praktikabel, für die Diagnose einer Internetabhängigkeit auf die Kriterien der substanzbezogenen Störungen im ICD-10 zurückgreifen: Zwang zu konsumieren, Kontrollverlust in Bezug auf Intensität des Konsums, (psychische) Entzugserscheinungen bei Verminderung oder Beendigung des Konsums, Toleranzentwicklung, Vernachlässigung anderer Interessen im Sinne der Einengung auf die Sucht und schließlich das Weitermachen trotz negativer Konsequenzen. Zur Toleranzbildung gehört bei der Internetsucht neben dem steigenden Zeitbedarf auch das Verlangen nach immer besserer und schnellerer technischer Ausrüstung und Software. Entzugserscheinungen treten auf, wenn Computer/Smartphone bzw. Internetzugang nicht verfügbar sind, und äußern sich bei Männern vor allem durch Gereiztheit bis hin zu Aggression und bei Frauen meist durch depressive oder ängstliche Symptome. Die exzessive Nutzung inkludiert nicht nur den zeitlichen Aufwand, wobei hier derzeit sechs Stunden täglich exklusive beruflichen Gebrauchs als ungefähres Maß für pathologische Nutzung gesehen wird, sondern auch die Vernachlässigung von basalen Bedürfnissen wie Hunger, Durst, Schlaf und Toilettengang während der Internetnutzung.<sup>1</sup><br /> <br /> Dem Gedanken des DSM-5 folgend macht es aber eher wenig Sinn, hier einen strengen Cut-off, z.B. 3 von 6 Kriterien, als Maßstab für das Vorliegen einer Suchterkrankung zu definieren. Vielmehr sollte das Ausmaß der psychosozialen Einschränkung durch den Internetkonsum herangezogen werden für die weitere Beratung und Therapieplanung. Wichtig ist also, wie funktionsfähig der/die Betroffene im psychosozialen Leben ist und ob er sich noch adäquat um Familie, Beruf/Ausbildung, soziale Kontakte in der realen Welt, Hobbys und eigene Gesundheit kümmern kann.<br /> <br /> Gängige Fragebögen in deutscher Sprache, welche zur Unterstützung bei Diagnoseklärung herangezogen werden können sind:<sup>2</sup> Internet Addiction Test (IAT, 20 Items), Internetsuchtskala (ISS, 20 Items), Skala zum Onlinesuchtverhalten bei Erwachsenen (OSV, 15 Items) und Compulsive Internet Use Scale (CIUS, 14 Items). Bei all diesen Fragebögen gilt es zu bedenken, dass speziell jugendliche Patienten oft wenig Problembewusstsein aufweisen und fremdmotiviert entsprechende Hilfseinrichtungen aufsuchen. Somit spiegeln bei diesen Selbstbeurteilungsfragebögen durch Bagatellisierung die geringen Summenwerte häufig nicht die Realität wider. Diese Fragebögen sind meist nicht für den Einsatz im klinischen Alltag einer Spezialambulanz entwickelt und validiert worden, sondern eher für anonymisierte breit gestreute Erhebungen, z.B. an Schulen oder Universitäten im Rahmen von Prävalenzstudien. Deshalb ist im individuellen Fall meist eine Außenanamnese unerlässlich für die Abschätzung der Tragweite der Problematik.<br /> <br /> Festgehalten muss auch werden, dass es bisher keinen Goldstandard zur Diagnostik von Onlinesucht gibt. Man konnte sich international nicht einmal auf einen einheitlichen Begriff einigen. Das sollte uns im klinischen Alltag aber nicht davon abhalten, die Dinge beim Namen zu nennen und nicht aus einer Suchterkrankung eine „Sonstige abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle“ zu machen.</p> <h2>Prävalenz</h2> <p>Die Internetabhängigkeit verzeichnet in den letzten Jahren eine deutliche Zunahme an Betroffenen weltweit.<sup>3</sup> Dies ist leicht erklärlich durch das rasch zunehmende Angebot im Sinne von immer weiterer Verbreitung und günstigerem Zugang ins Netz, wodurch quasi das Suchtmittel leichter verfügbar wird. Dazu kommt, dass das Einstiegsalter für den Internetgebrauch immer niedriger wird und Kinder besonders gefährdet sind durch die geringere Fähigkeit der Selbstbegrenzung sowie Schwierigkeiten vieler Eltern zur adäquaten Steuerung der Quantität und Inhalte der Internetnutzung ihrer Kinder.<br /> <br /> Für Österreich gibt es Prävalenzdaten aus dem Jahr 2012: 3,1 % Internetsucht bei 15-Jährigen (n=943),<sup>4</sup> wobei der europäische Durchschnitt in dieser Studie bei 4,4 % lag (n=11.956). Aber diese Zahlen sind mit Vorsicht zu genießen, weil die Prävalenz wie bereits erwähnt im Steigen begriffen ist und somit keine Schätzung für 2016 für Österreich daraus erfolgen kann.</p> <h2>Formen der Internetsucht</h2> <p>Die häufigsten Formen der Internetsucht sind Abhängigkeit von Social Media, wie z.B. Facebook, Twitter und Co, Surfen bzw. (Pseudo-)Informationssuche, Online-Computerspiele wie Online-Rollenspiele und Online-Egoshooter sowie Online-Pornografie. Jene Verhaltenssüchte, welche zwar auch über das Internet betrieben werden können, aber ursprünglich nicht onlinebasiert waren wie Glücksspiel- und Kaufsucht, stellen keine Internetsucht im engeren Sinne dar. Eine Sonderform stellt die sogenannte Handysucht dar. Hier gilt es zu differenzieren, welche Tätigkeit über das Handy bzw. Smartphone in pathologischem Ausmaß ausgeübt wird, und die entsprechende Zuteilung zur jeweiligen Verhaltenssucht vorzunehmen. Der Ausdruck „Handysucht“ ist somit nur gerechtfertigt, wenn das zentrale Element des krankhaften Verhaltens sich auf ständige Erreichbarkeit am Handy bezieht.<br /> <br /> Bei allen Formen des pathologischen Internetkonsums gibt es Grauzonen, etwa wenn jemand über Facebook an Glücksspielen teilnimmt oder sowohl Online-Pornografie konsumiert als auch sich auf sozialen Onlineforen mit vornehmlich sexuellen Inhalten aufhält. Leider muss man feststellen, dass seitens großer Konzerne immer wieder kreative Konzepte entwickelt werden, um die Grenzen der unterschiedlichen Internetnutzung aufzuweichen und dadurch mehr Konsum anzuregen. So werden Konsumenten dazu verführt, nicht nur z.B. auf Facebook mit anderen Nutzern zu kommunizieren, sondern auch zu spielen und Wetten abzuschließen. Anbieter von Webmails bombardieren Nutzer mit individuell zugeschnittener Werbung. Internationale Anbieter von Online-Glücksspiel locken potenzielle Spieler zunächst mit kostenfreien Wettspielen wie Poker an (virtuelle Spielwährung wird an Kunden verschenkt), um dann über einen Link zu echtem Geldeinsatz zu animieren.</p> <h2>Behandlung</h2> <p>In der Behandlung liegt die Hauptlast bei psychotherapeutischen Verfahren. Allerdings sollte die Einbindung der Eltern speziell bei Kindern nicht vernachlässigt werden. Die Datenlage zur medikamentösen Behandlung ist sehr dürftig und kaum erwähnenswert, vor allem weil noch kaum erforscht ist, ob die Behandlungseffekte auf Besserung von Komorbiditäten beruhen oder eine Behandlung der Internetabhängigkeit per se darstellen. Dennoch kann der Einsatz von Psychopharmaka geboten sein, um psychische Begleitumstände, wie z.B. Depression, Angsterkrankung und ADHS, zu behandeln.<br /> <br /> An der Ambulanz für Spielsucht der pro mente OÖ am Standort Neuromed Campus des Kepler Universitätsklinikums in Linz verwenden wir als Grundgerüst der Therapie das kognitiv-behaviorale Behandlungsmanual „Computerspiel- und Internetsucht“ von Wölfling et al (Kolhammer Verlag).<sup>5</sup> Hier ist der ambulante Therapieverlauf in 15 Sitzungen detailliert beschrieben. Dabei kann man den Verlauf in vier Phasen unterteilen (Tab. 2). Natürlich ist dieses Schema ähnlich jenen verhaltenstherapeutischen Manuals für andere Suchterkrankungen.</p> <p><img src="/custom/img/files/files_data_Zeitungen_2016_Jatros_Neuro_1604_Weblinks_Seite43.jpg" alt="" width="1262" height="549" /></p> <h2>Zusammenfassung und Fazit</h2> <p>Insgesamt scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis noch deutlich mehr Bedarf an spezifischen Beratungs- und Behandlungsangeboten auf das Gesundheitssystem zukommen wird. Dies wirft natürlich einige Fragen auf: Wo können Professionisten spezifisch ausgebildet werden? Werden Betroffene an Suchtkliniken oder an Abteilungen für Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt? Fühlen sich Suchtberatungsstellen und Familienberatungszentren auch für Internetabhängigkeit zuständig? Wie kann die Verfügbarkeit durch gesetzliche Maßnahmen reguliert oder für Gefährdete eingeschränkt werden, ohne einen zu großen Eingriff in die Privatsphäre zu verursachen?<br /> <br /> Wenig Forschung gibt es bisher in Bezug auf Fragen des Kulturwandels der jungen Generation durch das Internet. Hier gibt es Hinweise auf rasante Veränderungen im Arbeitsalltag, in der Freizeit, bei den sozialen Kontakten, in der Ausbildung und in unserer gesamten Kultur.<sup>6</sup></p></p>
<p class="article-footer">
<a class="literatur" data-toggle="collapse" href="#collapseLiteratur" aria-expanded="false" aria-controls="collapseLiteratur" >Literatur</a>
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<p><strong>1</strong> Beard KW et al: Modification in the proposed diagnostic criteria for internet addiction. Cyberpsychol Behav 2001; 4: 377-83 <br /><strong>2</strong> Bauernhofer K et al: Problematisches Internetnutzungsverhalten (PIN) – eine Übersicht zu Messinstrumenten und Risikofaktoren. Neuropsychiatr 2016; 30: 2-9<br /><strong>3</strong> Kaess M et al: Pathological internet use is on the rise among European adolescents. J Adolesc Health 2016; S1054-139X(16)30037-4 [Epub ahead of print] <br /><strong>4</strong> Durkee T et al: Prevalence of pathological internet use among adolescents in Europe: demographic and social factors. Addiction 2012; 107: 2210-22 <br /><strong>5</strong> Wölfling K et al: Computerspiel- und Internetsucht. Ein kognitiv-behaviorales Behandlungsmanual. Kohlhammer, 2012 <br /><strong>6</strong> Eiselsberg P: Social Media Revolution. Trauner, 2016</p>
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